„Will da einer den Helden spielen?“ – Sie kennen das?! Ein Klassiker unter den Filmszenen in diversen Hollywoodschauspielen. Ein Bankraub etwa, fünf-sechs Geiseln vor maskiertem, schwer bewaffnetem Schurken, oder eine Flugzeugentführung, oder irgendeine andere schlimme Sache, in der die heile Welt auf rohes Unvorstellbares trifft – meist ist es ein Mann aus der Mitte, ein brilletragender Familienvater, der halbherzig aufmuckt und versucht, sich dem Bösen zu widersetzen, während der eigentliche Held der Geschichte, ein ehemaliger Elitesoldat, der Vietnam, Irak und Kolumbien überlebt hat, still und unschuldig in einer Ecke sitzt und den Showdown vorbereitet.
Der aufmuckende Gutmensch wird mit vorgehaltener Schrotflinte und den drohenden Worten „Will da einer den Helden spielen“ zurechtgestutzt.
Das Zelt steht direkt neben einem friedlich murmelnden Bach ungefähr auf halber Strecke zwischen Havøysund und Olderfjord, also gut vierzig Kilometer in die eine wie in die andere Richtung der Zivilisation. Vielleicht ist es der einzige windgeschützte idyllische Lagerplatz auf der ganzen Strecke. Links von mir biegen sich eine handvoll Krüppelbirken über Zelt und Fahrrad. Blick Richtung Meer. Hinter mir, in den Bergen, scheint ein See zu sein, ein Anglerparadies.
Ich erinnere mich an eine Hinweistafel in einem der winzigen Weiler vor einigen Kilometern, auf der das ganze Gebiet eingezeichnet war und die Telefonnummern der Stellen verzeichnet waren, wo man eine Fiskekort, einen Angelschein kaufen kann. Großer See mit ein paar Ausflüssen runter in den Fjord. Zwei Angler kamen am Abend aus dem Krüppelbirkenhain und verschwanden in ihrem Wohnmobil hundert Meter querab auf einem kiesigen Parkplatz. Man nickte sich zu. Ich glaube, sie hatten ein schwedisches Kennzeichen.
Die Strecke von Havøysund bis Olderfjord sollte eigentlich an einem Tag locker zu bewältigen sein für einen, der mehrere tausend Kilometer geradelt ist und ordentlich Beinmuskeln und Kondition angesetzt hat. Wäre da nicht die Sache mit dem Wind und den Fjorden. Zwei Mal ging es bisher von Meereshöhe ein zwei dreihundert Meter hinauf und wieder hinunter. Raus aus dem Fjord, rein in den Fjord. Fjordhopping, sozusagen, was nicht weiter dramatisch wäre. Als Faustformel hann ich sagen, egal wie steil ein Anstieg ist, man (ich) schafft mit vollbepacktem Radel etwa zwei-dreihundert Höhenmeter pro Stunde und erhält als Dank auf der Abfahrt einen Teil seiner Schwitzerei rückvergütet.
Nicht so gestern ab Havøysund. Der Wind steht mit 24 km/h aus Osten, meist gegen mich, so dass ich selbst auf gerader Strecke kaum schneller, als zehn-zwölf Kilometer pro Stunde radele und auf den Abwärtsrouten um etliche Speed geprellt werde.
Eigentlich ist es verdammt deprimierend, kurz hinter Havøysund ein Hinweisschild zu lesen, auf dem steht, Olderfjord 80 Kilometer. Im Hirn springt sofort die Rechenmaschine an und es hetzt alle Kräfte in Beine, Lunge und Herz, um sich der Langsamkeit allen Seins entgegen zu stemmen, was das Leben auf dem Radel zur Hölle machen kann, wenn man sich auf dieses sinnlose Kräftemessen zwischen den eigenen Möglichkeiten und den äußeren Tatsachen einlässt.
Früher hätte mich so eine Situation schier zum Verzweifeln gebracht. Achtzig Kilometer, auf denen man hilflos der Natur ausgesetzt ist. Was, wenn es Regen gibt, was, wenn der Wind noch stärker wird, wie viele Fjordpässe liegen noch vor mir, vielleicht kackt das Tretlager ab, das schon seit Sundsvall ziemlich locker ist, oder der Vorderreifen verabschiedet sich, den du zwei mal am Tag aufpumpen musst, hast du Lust, hier im Wind Reifen zu flicken?
Es ist kalt trotz strahlender Sonne. Der Wind nimmt dir alles. Zudem bin ich von der frühen Fährfahrt ziemlich aufgekratzt in einem Zustand zwischen todmüde und adrenalinösem Vorantreiben.
Eine uralte Siedlung, ein Kulturminne, also ein Denkmal in einer windgeschützten Bucht taucht auf. Runter da. Vor tausenden Jahren war das Klima in der Gegend viel beständiger, milder und Menschen siedelten in dem etwa drei Kilometer durchmessenden Halbrund am Meer. Man hat einen Wanderpfad eingerichtet, der an den Fundamenten ihrer Existenz vorbeiführt. Es gibt sowohl steinzeitliche als auch mittelalterliche Spuren. Irgendwann war die Siedlung, Selvika heißt sie übrigens, dann verlassen. Ein Künstler hat ein monumentales Denkmal errichtet. Das Betondenkmal ist ein sich schlingender Weg mit achtzig Zentimeter hohen Betonwänden, etwa zehn Zentimeter dicke Etwase, die eine Art Kanal bilden, durch den man laufen muss. Viel runde Elemente. Es gibt eine Toilette, natürlich rund, und ein paar Sitzgelegenheiten, die vor Wind schützen und unter einer dieser Sitzgelegenheiten wummert ein Dieselmotor, eingesperrt im Keller. Keine Ahnung, was er antreibt oder ob er zu der Installation gehört als akustisch stinkendes Element.
Ich schalte unbewusst in einen treibenden, entschleunigenden Zustand. Das habe ich mir im Laufe der Jahre angewöhnt. Wenn die äußeren Kräfte sich offensichtlich nicht bannen oder gar besiegen lassen, dann widersetze dich ihnen nicht, denn jede Kraft, die du einsetzt, richtet sich in solchen unbeeinflussbaren Systemen nur gegen dich. Dem System ist es egal, wie sehr du gegen es wetterst. Der Wind hört dein Fluchen und Jammern nicht, er trägt es nur hinaus in die Welt, wo es nach wenigen Metern schon verstummt. So richte ich meine Energie dahin, nicht auf Teufel komm‘ raus vorankommen zu wollen und dahin, mir nicht ständig vor Augen zu führen, wie weit dieses Olderfjord noch entfernt ist und was ich im dortigen Supermarkt alles kaufen würde und was ich im dortigen offenen WLAN alles anstellen würde.
Das Mobilfunknetz verlässt mich fünfzehn Kilometer hinter Havøysund. Erstmals auf der Reise bin ich länger offline. Reduziere bewusst meine Geschwindigkeit auf fünf-sechs Kilometer pro Stunde, kurbele im ersten Gang, obwohl vielleicht der fünfte oder sechste möglich wäre. Plötzlich ist das Leben leicht.
Ist das Demut? Ist dies hier meine finale Etappe der Wanderung nach Santiago vor fast sechs Jahren? Die Gegend ist schön. Als habe Gott als kleines Kind seine Bauklötze liegen lassen. Hier würden den Geologen die Herzen vor Freude hüpfen. Ich fotografiere die bunten Felsen, kurbele von Fjord zu Fjord. Mal ein Wasserfall, mal eine kleine Bucht und ein paar Häuser.
In Slotten gibt es sogar eine kleine Kirche aus Brettern mit rostigen Winkleisen an den Fenstern. Allein stehender Glockenturm. Soll ich hier im Windschatten der Kirche das Zelt aufbauen? Eine Rentierherde flieht. Für einen kurzen Moment habe ich Netz und kann der geliebten SoSo in der Homebase eine Statusmeldung schicken. Bin die größte Sorge los, womöglich als verschollen im Fjord zu gelten. Kurbele weiter, ruhe ein bisschen in der ewig schräg stehenden Westsonne in speziell gebauten Sitzbankkonstruktionen, die aussehen wie Strandkörbe. Schlafe ein. Kälte weckt mich, also weiter und irgenwann kommt auch dieses sich Ergeben in die Lagerplatzsuchsituation.
Schon will ich mein Zelt hinter einem Felsen unweit der Straße aufbauen, da sagt die innere Stimme, war es nicht immer so, schon damals an Tag drei, vier oder fünf am Main? „Radele so lange, bis dein Nachtlager dich findet.“ – „Also doch noch um die Kurve in die Gegenwindzone, Schicksal?“ – „Doch noch um die Kurve in die Gegenwindzone, Herr Irgendlink, vertrau mir.“
Kaum mache ich das, tut sich ein Bachlauf auf, an dessen Ufer dieses Birkenwäldchen wächst, in dem ich mich eingenistet habe. Topfebener Platz, windabgewandt, die Heringe fassen in der kargen Erde bestens Fuß.
„Well done, Schicksal, well done“, murmele ich. Aber in den kalten Bach da, in den werde ich garantiert nicht springen, um mich zu waschen. Wir wollen doch nicht den Helden spielen.
(… an die Homebase gemailt, das Netz reicht knapp für Mails, für die Blogapp nicht.)