Tag 57 | Boden-Frost oder Boden-Witz?

Bitte hier → klicken zum Interview mit Irgendlink, das gestern in Marias Blog erschienen ist.

Und hier dürft ihr wie immer klicken zum Link der ungefähren heutigen Tagesstrecke.

Trotz des noch immer recht guten Wetters im hohen Norden, werden Irgendlinks Nächte kühler.

Und auch heute wieder ein paar Tagestweets zur guten Nacht …

Enge #AnsKap

Das Zelt steht direkt neben der Friedhofsmauer auf einem fein gemähten Wieschen. Kirchengrund, davon gehe ich mal aus. Die Kirche liegt etwas abseits einer Stadtstraße auf einem Hügel, umringt von Gräbern. Uralte Bäume. Feine Kieswege, die man kaum betreten möchte, weil sie offenbar mit einem Rechen wie frisch gescheitelt da liegen. Deutlich erkennt man die Spur meines Radels, die ich am Abend, schiebend durch diesen parkähnlichen Friedhof gezogen habe. 

Rentierschlitten vor ehemaligem Kasernengebäude und ein Schild mit der Aufschrift Restricted Area Bänklein. Brünnlein. Stille. Ein Idyll. Und das inmitten einer relativ großen Stadt. Wieviele Einwohner mag Boden haben? Zwanzigtausend, dreißigtausend? So groß wie Zweibrücken, meine Heimatstadt, fühlt es sich an. Kilometerweit führt der Sverigeleden an einem militärischen Übungsgelände vorbei bis hinein in die Stadt. Gelbrote Schilder warnen in regelmäßigen Abständen, an Bäume genagelt, dass man hier in den Wäldern vorsichtig sein soll. Vor allem nix anfassen, was nach Granate aussieht. An jedem Waldweg, der hineinführt in das Gelände, steht eine Tafel mit Abbildungen der Gegenstände, die bei Manövern verloren gegangen sein könnten.

Auch das Militär erinnert an Zweibrücken. Die Kaserne, weitläufig mit Exerzierplätzen aufgelockert, Krüppelwalmgebäude, irgendwie barock, teils leerstehend, oder umgewidmet, konvertiert würde man in Zweibrücken sagen, also einer Zivilen Nutzung übergeben. Ein Loppishaus mit einem Reiseschlitten davor hat sich zum Beispiel eingenistet.

Aber es gibt immer noch die Garnison, die hier stationiert ist. Panzer stehen dekorativ am Straßenrand, wie zu einer Parade aufgerichtet. Junge Männer joggen zugweise und sehen dabei nicht sehr glücklich aus. Mann, müssen die die hier schleifen, denke ich. Dagegen ist meine Reise ans Kap eine Spazierfahrt. Vielleicht ist es auch nur die Hoffnungslosigkeit jenseits der Orientierungslosigkeit einer Jugend auf dem Land irgendwo in Schweden, was ich in den Augen der joggenden Jungs lese? Reingerutscht in eine Menschengesellschaft, die einem das Schubladenleben vorlebt und somit jegliche Chance auf Eigeninitiative und darauf, das herauszufinden, was man wirklich mit dem Leben anfangen möchte, zu Nichte macht.

Ich interpretiere zu viel.

Der Platz neben dem Friedhof war eine Notlösung. Auf dem Campingplatz, den ich eigentlich „entern“ wollte, um mal wieder heiß zu duschen, waren mir die 210 Kronen, mehr als 20 Euro pro Nacht, denn doch zu teuer. Das Jedermannsrechterlaubt es ja, überall wo man niemanden stört für bis zu zwei Nächte zu zelten (ich glaube, das gilt nur für Wanderer, Radler oder zu Pferd oder per Ski, wird aber auch oft von Wohnmobilisten und Wohnwagenreisenden in Anspruch genommen).

Also bietet ein Campingplatz als einzigen Mehrwert ein Waschhaus mit Aufenthaltsraum, Küche, sowie Wifi vielleicht.

Mein Platz liegt kaum einen Kilometer von dem Camping entfernt.

Morgens wird mir die heimische Enge klar, die ich im Kopf noch immer mit mir trage. In Deutschland würde man wohl kaum in einer Stadt neben der Kirche zelten. Ungefragt. Es ist zum Einen nicht erlaubt, zum anderen wird man fast garantiert gestört, schräg angeguckt, mindestens gefragt, was machen sie hier?

(Ich zelte, sieht man doch).

Autos fahren vorbei. Friedhofsgärtner. Ein Lieferwagen mit der Aufschrift „Kyrka“, also Kirche und noch ein paar Worten. Der Pfarrer? Niemand nimmt Anstoß. Niemand hupt. Niemand verlangsamt seine Fahrt, um in einer Art Revierverteidigungsgebärde zu suggerieren, he Junge, was zeltest du hier rum? Niemand starrt durchs offene Zeltfenster.

Trotzdem bin ich unruhig. Daran ist das deutsche Enge-Gen schuld. Weil es über die Jahrzehnte so gewachsen ist, dass man so nicht sein darf. Merkwürdig, nichtwahr?

Manchmal frage ich mich, wohin das noch führt mit der Regulierungswut, die durch die Menschengesellschaften tobt. Für alles und jedes gibt es eine Regel, werden Grenzen gezogen und mit den Grenzen kommen automatisch diejenigen, die jenseits dieser Grenzen in der Illegalität leben, die das vielleicht schon immer getan haben, aber erst durch die Regelung zu Übeltätern werden.

Ein Bericht über ein Dorf irgendwo im Norden Deutschlands kommt mir in den Sinn. Sie hatten ein arges Verkehrsproblem wegen einer stark befahrenen Straße, die hindurchführt. Es gab zahlreiche Ampeln und Zebrastreifen, Regeln über Regeln und trotz all dem wurde man der hohen Unfall- und Konfliktrate nicht Herr. Bis irgendwann ein findiger – ich glaube holländischer – Verkehrsplaner sagte, wir schaffen alle Regeln und Verkehrsschilder ab, demontieren die Ampeln, machen die Zebrastreifen weg. 

Seitdem sei das Verkehrsinfarktsproblem gelöst.

Ich nun in meinem Zelt wo auch immer in Schweden, frage mich, ob es nicht besser wäre, gesunden Menschenverstand und Rücksichtnahme und Einfühlungsvermögen zu lehren in den Schulen, statt brachial diese regulierende Linienzieherei aus ‚Dies-darfst-dus‘ und ‚Dies-darfst-du-nichts‘ einzutrichtern.

Die Gefahr der Regeln besteht doch darin, dass die Regulierten sich irgendwann kaltherzig dahinter verstecken, auf Rechte pochen, obwohl sie es nicht müssten, zu Revierverteidigenden Enggeistern werden, anstatt sich vom stumpfen (reviermarkierenden) Tiersein abzuheben und nächstenliebende Menschen zu werden.

Tag 58 | An die Ostsee

Noch einmal Meer sehen, dachte sich Irgendlink heute Morgen, bevor er sich landeinwärts machen wird. Bevor er sich von der Ostsee wieder abwenden wird. Bevor er in den nächsten zwei-drei Wochen irgendwann das Nordkap erreichen wird. Nach Kalix. Und weiter. Und eigentlich wäre ja ein Campingplatz nicht schlecht. Mal wieder duschen. Doch da war ein See unterwegs. Ein erfrischendes Bad. Prophylaxe – man kann ja nie wissen.

Als er später, es war schon nach sieben Uhr, am Hafen von Båtskärnäs rumtrödelte, Bilder schoss, das Leben genoss, fing es auf einmal zu regnen an. Mist aber auch, vier Kilometer vom Camping entfernt noch Regen. Hinfahren? Abwarten?

Oder warum eigentlich nicht hier das Zelt aufbauen? Gefragt, Erlaubnis bekommen, getan.

Den ungefähren Link zur heutigen Strecke gibt es hier → klicken.

Die Tweets von heute? Da ich müdigkeitsbedingt auf dem Tablet blogge, ist das nicht so einfach mit dem Tweettransfer.

Aber ihr wisst ja inzwischen alle hoffentlich, dass es sich lohnt, Irgendlinks Tweets zu lesen. Guckt also einfach selbst. Twitter beisst nicht.

Hier zu @irgendlinks Tweets klicken.

Wie Davy Jones tausend Jahre verwachsen mit einem Ostseehafen #AnsKap

Jagdflugzeug als Skulptur auf einer grünen Wiese. Der linke Flügel und die spitze Nase bohren sich ins Grün.

Den Hirnreaktor runterfahren, die synaptisch kosmodämonischen Brennstäbe herausziehen, um eine Schmelze zu verhindern, Körper und Geist klingen am Besten gemeinsam, wenn sie eine ähnliche „Geschwindigkeit“ haben.
Hanebüchen, Herr Irgendlink, hanebüchen. Hat man Ihnen Ihr Hirn weichgekocht auf all den tausenden Kilometern, die Sie in den letzten Wochen geradelt sind?

Das Zelt steht neben einem achteckigen Pavillion, in dem gut und gerne eine kleine Partygesellschaft Platz haben könnte. Von Westen schützen ein paar Birken vor Wind. Die Wiese ist gut. Frisch gemäht. Kaum Stechmücken, die sich darin verstecken könnten. Dafür sorgt auch schon der emsige Westwind, der gestern Abend Regen herbei geblasen hatte.

Den kleinen Ostseehafen von Båtskärsnäs habe ich mir irgendwie quirliger vorgestellt. Mit Kaimauer, größeren Kuttern, Fischkisten und so weiter. Aber es ist ein ganz normaler Yachthafen ohne groß Ausbau. Einen Kran gibt es und ein paar Maschinen zum Boote ein und Auswassern. Fischerei Fehlanzeige. Båtskärsnäs ist ja auch nur ein winziges Dorf am allerallerobersten Zipfel der Ostsee. Vielleicht der nördlichste kleine Hafen der Ostsee überhaupt?

Es ist nicht leicht, ohne jegliches Kartenmaterial, einzig ausgestattet mit einer gedownloadeten Karte auf dem Smartphone, Informationen über die Gegend zu kriegen.

Ich wollte eigentlich einen Campingplatz hier in der Nähe ansteuern, mal wieder heiß duschen, Kleider waschen, ein bisschen relaxen, bevor es auf die letzten, geschätzt 900 Kilometer zum Nordkap geht. Auch noch mal in der Ostsee baden wäre schick. Es ist sehr sommerlich diesertage hier oben. Nicht so heiß, wie daheim, einfach sommerlich und gut radelbares Wetter.

Durch die rasanten Etappen der ersten Tage ab Falun und eine, vermutlich, Fehlberechnung der letzten 2300 Kilometer ans Kap, die gar keine 2300 Kilometer sind, habe ich nun viel Zeit zum Rumtrödeln.

Ich muss mich allerdings regelrecht zum Nichtradeln zwingen.

Das ist gar nicht so einfach, wenn es eigentlich kaum etwas zu sehen gibt, als Straße und Wald und Briefkästenensembles vor Waldwegen, mal ein paar Rentiere auf der Straße, ab und zu eine Sandgrube, Hochsitze und Stromleitungen.

Die Städte sind zig Kilometer voneinander entfernt. Sie sind auch nicht so opulent und sehenswert. Das Leben scheint sich in schwedischen Städten vorwiegend in Shoppingcentern abzuspielen. Große Komplexe mit vielen Läden mitten in den Städten, in denen man rumlungern kann und gucken, kaufen, lungern, gucken.

Verloren im Supermarkt. Ein Lied von The Clash dudelt einem dann sogleich im Kopf: Lost in the Supermarket. Es hat so was Resigniertes, das Lied, obwohl ich den Text gar nicht kenne.

Der Konsum ansich hat auch so etwas Resigniertes. Das ist mir schon in Falun aufgefallen. Die Tristesse, eingesperrt im Kauf, zu ewigem Geben und Nehmen verdammt. Gib Arbeitskraft, Nimm Gegenstand, um es mal darauf zu reduzieren.

Das wird einem hier oben, draußen, wo es nur noch Welt und Mensch gibt und sonst kaum eine Bespaßung oder Ablenkung umso bewusster. Wir sitzen gefangen in einem gigantischen, globalen Hamsterrad, das wir gemeinsam antreiben und versuchen verzweifelt, irgendwelche goldenen Vorhänge vorzuziehen, bloß um uns die Illusion aufrechtzuerhalten, das was um uns vorgeht, macht einen Sinn, unser Tun und Streben hat einen Sinn.

Vielleicht hat mir die viele Natur das Hirn zermürbt, dass ich auf solch triste, sagen wir mal sogar lebensbedrohliche Gedanken komme. Eine Art natürliche Lethargie macht sich in mir breit. Das fühlt sich aber nicht etwa depressiv oder traurig an. Es ist mehr so dieses Erstaunen, dieses Aha, das man der Wucht der Welt entgegen bringt, wenn man erkennt, wie winzig und wie klein man als Mensch doch ist und wie vergänglich.

Knochen liegen im Straßengraben. Ein Eichhörnchen, halb zerfetzt, mitten auf der Straße. Das Blut ist noch rot. Überall ist Tod und Auferstehung und Gebären und Leid und Freud. Scheint so, dass es sich dann, wenn man kein buntes, selbst geschaffenes Entzücken aus Konsumgütern und Geld mehr um sich hat, viel direkter auf einen Eindrischt.

Was?

Die Erbarmungslosigkeit des Lebens ansich. Dass es eigentlich doch nur eine art biologischer Multimechanismus ist, nach dem die Welt funktioniert, dass dieses denkende Ich, das in mir sitzt, das ich bin nur ein Funke ist, der kurz in der Ewigkeit blitzt und dann für immer verlöscht.

Was sehne ich mich nach einem Kinobesuch, irgendwo in Deutschland oder der Schweiz in irgendeinem lustigen Film. Einem Spaßbad oder einem Open Airkonzert oder einem Besuch in einem Technikmuseum. Egal. Irgendwas, was den goldenen Vorhang wieder vor meine Augen zieht, damit ich weiter an die Illusion der Ewigkeit des gelebten Lebens glauben kann und daran, dass das, was ich tue, was wir tun, was vorgeht in dieser Welt einen Bestand hat.

Die Risse im Asphalt des Radwegs am Kalix Älven zerstören diese Illusion. Ein zwei Jahre nichts tun, ein zwei Jahre keine Menschen, die hier Hand anlegen, und der Weg sieht aus wie nie gewesen. Schon jetzt drängen sich Birkenschößlinge neben Gras aus der Narbe im Teer.

Mir graut vor der Vorstellung.

Einen schönen Endzeitfilm, in dem genau das stattfindet, in dem genau diese Szene vorkommt, könnte ich jetzt gerne im Kino schauen, Dolby Sound und Breitbild, dazwischen eine Pause für Eis und Chips und Bier. Richtig Spaß haben könnte ich an der zur Fiktion degradierten Realität auf der Kinoleinwand.

Statdessen hier zu kurbeln auf dem grauen Band, das niemals endet und das irgendwann einmal so aussehen wird, als wäre es nie dagewesen, ist hart.

Es regnet mich ein gestern Abend. Kurz bevor ich den angepeilten Campingplatz erreiche. Leichter Nieselregen, Wind, Ekelwetter. Ich bin das kaum noch gewöhnt. Seit Beginn des zweiten Radelabschnitts ab Falun hatte ich regelrechtes Wetterglück.

Vier Kilometer vom Campingplatz strande ich unter dem Vordach eines Hafengebäudes. In den Hallen wird noch fleißig gearbeitet. Es mag 19 Uhr sein. Ich habe keine Lust, die Regenkleider rauszukramen, also klopfe ich an einem Bürofenster, jemand öffnet, schaut mich freundlich an, ich frage, darf ich da drüben neben dem Pavillon auf der Wiese mein Zelt aufbauen.

Aber klar darfst du. No Problem.

Nun beim Frühstück im Schneidersitzbüro beobachte ich das Hafentreiben. Jemand schaufelt Erde mit dem Bagger. Der Schiffskran quietscht. Autos fahren an und ab. Niemand nimmt Notiz von mir, bzw. es ist so, als gehöre ich dazu. Teil des Hafens in einem kleinen schwedischen Dorf an der Ostsee.

Das ist wie Davy Jones in Fluch der Karibik. Tausend Jahre Teil eines gesunkenen Kahns sein.

Hach und gerade hätte ich echt Lust, mir die Fluch der Karibik Filme anzuschauen.

Tag 59 | Wenn dir ein See die Zunge rausstreckt …

… dann sieht es zum Beispiel so aus:

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Und wenn ein Nordkapradler auf dieser Zunge sein Zelt aufbaut?

Na … dann sieht es eben so aus:

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Heute hatte Irgendlink Sonne und Rückenwind. Was gibt es Schöneres, wenn man ans Nordkap will? Nun ja, am Morgen gab’s sogar eine Dusche – mal wieder. Und vorhin ein erfrischendes Bad. Gut, dass er am Uskavi und in Falun geübt hat.

Ich freue mich mit Irgendlink darüber, dass das Hochdruckgebiet in Lappland anhält (bei uns wohl auch noch ein bisschen, aber das ist ein anderes Thema … *soifz*)

Die heutige Tagesstrecke Irgendlinks sieht ungefähr so aus:
Bitte hier → klicken.

Und ja: Auch heute dürft ihr die Tagestweets alleine lesen. :-) Ihr wisst ja längst, wo es lang geht zu @irgendlinks Tweets.