Breit wie ein See, kaum erkennbar fließt die Umeälven hinter meinem Lagerplatz. Vereinzelte Inselchen verstärken das Bild vom See. Von hoch oben aus den Fjälls an der norwegischen Grenze kommt der Fluss und er mündet in der Stadt Umeå in die Ostsee.Gegenüber zieht sich Lycksele am Ufer entlang. Eine erstaunlich große Stadt, die sogar einen Flughafen mit täglichen Verbindungen nach Stockholm hat.
So ist es auf der typisch schwedischen Infotafel ein zwei Kilometer vor der Stadt neben einem Parkplatz an der Landstraße zu lesen.
Dort wird Lycksele als Südlappland-Metropole dargestellt, so empfinde ich zumindest das, was mir der englischsprachige Infotext verrät. Es gibt hier offenbar alles, was das Herz begehrt: Einkaufsmöglichkeiten, echte Innenstadt, Tierpark, Kinderbespaßung, Campingplatz. Ach herrlich! Wie sehr sehne ich mich nach einem feinen Fleckchen Wiese, nicht ganz so mückenumschwirrt wie die Lagerplätze der letzten Tage und nach einer heißen Dusche.
So kurbele ich phantasierend die 87 Kilometer herüber aus der letzten Stadt Åsele.
Es ist sagenhaft: zwischen den beiden Städten gibt es so gut wie keine Siedlungen. Ab und zu ein einsames Gehöft. Winzige Bushaltehäuschen deuten auf Menschen hin, die irgendwo unsichtbar in den spärlichen Wäldern zwischen sumpfigem Gelände leben. Die Bushäuschen sind aber nicht dicht gesät. Genau in der Mitte zwischen den Städten bei einer Straßenabzweigung steht zum Beispiel eins.
Und wie mit dem Regen zu einem Blinddate verabredet, erreiche ich es gerade rechtzeitig, um einen Schauer abzuwarten. Obst und Nüsse zu essen. Wasser zu trinken.
Ach Wasser. Ich Schluderer habe doch glatt vergessen, in Åsele die Vorräte aufzufüllen und so kurbelte ich sieben acht Kilometer weit auf einer zu stark befahrenen Straße, ehe ich gottseidank doch noch bei einem Haus im Nichts um Wasser fragen konnte.
Die etwa acht Kilometer zwischen Åsele und der Abzweigung der Straße 365 brauchen übrigens dringend einen Radweg oder Tempo sechzig als Maximalgeschwindigkeit – nur für die #Kapakten und das Sverigeleden- Organisationsteam.
Auf der 365 geht es dann bis Lycksele in stetem Auf und Ab und auf sehr rauem und daher sehr lautem Asphalt bis nach Lycksele.
Schreiasphalt, das Gegenteil von Flüsterasphalt. Ziemlich anstrengend, was die Höhenmeter angeht und ziemlich nervig für die Ohren. Was bin ich froh über meine Ohrstöpsel, die das schneidende Geräusch, wenn einem alle ein bis fünf Minuten ein Auto überholt oder entgegenkommt, etwas dimmen.
Gejagt von Regenschauern erreiche ich die Stadt.
Fast wie in einem Roland-Emmerich-Film, in dem der Held mit einem 87 Kilometer langen Hechtsprung einer todbringenden Feuerwalze entrinnt, nur eben, dass meine Feuerwalze ein Regenband ist und dass mein Hechtsprung die Länge eines Kinofilms bei weitem überschreiten würde.
Beim Camping wartet eine Enttäuschung auf mich. Es handelt sich um einen riesigen Familiencampingpark voller Caravans und Wohnmobile. Umschwirrt von Kindern auf Kettcars und Rollern, Minigolfbarrikade vor der Rezeption, Leckeis und in einem warmen gemütlichen Vorraum vor dem Souvenirsshop hängen vernachlässigte Jugendliche vor ihren Smartphones im WLAN.
Trotzdem, Dusche, Herr Irgend, denk an die Dusche. Intern lege ich die Schmerzhürde, was den Preis betrifft auf 150 Kronen, um mir beim Nachfragen an der Rezeption etwaige Zwiespälte zu ersparen. 200 Kronen. Boa. Und eigentlich auch klar. Campingplätze dieser Kajüte kosten immer um die 200 Kronen. So war es in Malmö, so war es in Örebro, wobei dort der Besuch des Spaßbads in den 340 Kronen mit inbegriffen war.
Für eine Einzelperson mit winzigem Zelt ist umgerechnet gut 20 Euro schon happig. Aber so ist die schwedische Regel: du zahlst für den Platz und nicht pro Person, Auto, sonstigem Schnickschnack.
Geld und dieser unerwartete Trubel machen die Entscheidung leicht, weiterzuradeln.
Wasser tanke ich noch auf dem Platz. Genug Lebensmittel und Strom und alles, was der Reisekünstler so braucht, sind in den Packtaschen.
Weit komme ich nicht. Etwa einen Kilometer hinter dem Campingplatz lockt eine schön gemähte Wiese direkt an der Umeälven … die sich als saisonal bedingt wohl stillgelegten Ausläufer der Campingplatzes entpuppt. Flussaufwärts schließt sich der Golfplatz an. Für eine Weile stehe ich grübelnd in einem Kiefernwäldchen genau zwischen den beiden möglichen Zeltplatzorten.
Ob ich mich wildzeltend auf dem Campingplatzgelände aufbaue, oder, was verlockender ist, auf der schön gemähten Golfbahn? Fast schon ein Burridans Dilemma. Regen naht. Der Esel in mir hungert.
Aus Angst vor morgendlichem Golfballterror wird es der Camping.
Unheimlich ist das. Der Platz muss in der Hochsaison wohl etliche tausend Menschen beherbergen. Norweger, vermutlich. Die 1700 Kilometer lange „blaue Route“ verbindet Umea an der Ostsee mit Mo i Rana an der norwegischen Nordatlantikküste.
Nachts rumpelt die Stadt auf der anderen Flusseite. Immer wieder jaulen Motoren, quietschen Reifen. Das scheint entweder Volkssport zu sein in Schweden, oder eher so eine Art Verzweiflungstat. Der Leere und der Ereignislosigkeit, die die lappländischen Niederungen einem jungen Mann voller Tatendrang und Lebenslust und auf der Suche nach Abwechslung antun, kann man vielleicht nur mit schreiend lauten Motoren und Reifen begegnen. Es gibt eigentlich fast keine Straßenkreuzung oder Abzweigung, auf der kein Gummi klebt, auf der keine Kreise mit angezogener Handbremse geritzt wurden.
Die Nacht in Lycksele veranschaulicht, ähm, besser gesagt, veranhörlicht das Problem.
Ich versuche mir vorzustellen, wie sich das anfühlt, jung zu sein und im Internet und im TV eine turbulente Spaßwelt vorgelebt zu bekommen und sich dann in Lappland wieder zu finden, wo es derart Bespaßung nicht gibt, wo alles langsamer, leiser ist. Muss man die Stille nicht als eine Art Gewalt betrachten, die einem, von was oder wem auch immer angetan wird? Muss man dieser Gewalt nicht auch angemessen mit einer Gegengewalt begegnen, sich abreagieren, laut werden, schreien, es in den lyckselischen seichten Nebel ritzen, rein akustisch, Hallo Welt, ich bin auch noch da, nimm dies, du stilles Schwein!?
So ähnlich könnte es sein. Oder auch nicht.
Der Morgen ist trist. Hochnebel, der bis an die Spitzen der Fichten reicht. Ein Zweimotoriges Etwas schwirrt heran, vermutlich der Flieger aus Stockholm. Die E12, die blaue Route summt von Süden.
Ich mache Datenbackup der letzten Woche. Über tausend Bilder und Filme banne ich per Wifi auf einen USB Stick.
Überlege, wie es weiter geht. Einen Tag Pause machen hier? Morgen soll es sonnig werden. Die Stadt anschauen? Oder weiter radeln auf der 365 nach Ruskele, knapp 50 Kilometer? Oder beides, erst rüber nach Lycksele, Urban Artwalk machen, Bilder für das iDogma Postkartenprojektfinden, und dann weiter radeln?
Erst mal bloggen. Nimm dies, treuer Leser, treue Leserin!