Auf die Gefahr hin, die Herberge in Thurso, Schottland abzufackeln hatte ich vor zwei Jahren einmal den Spirituskocher „indoor“ ausprobiert. Lecker Spaghetti mit Zucchini-Zwiebel-Tomatensoße, eines der Standardessen auf Reisen. SoSos Vorschlag, auch hier im Hospizio auf dem Gotthard in dem kaum zehn Quadratmeter großen, vollholz vertäfelten Zimmerchen den Kocher anzukurbeln und lecker zu kochen, lehnte ich jedoch ab. In Thurso war ich der einzige Gast, hier sind noch dreißig andere müde Wanderer einquartiert. In Thurso waren die Wände aus Stein. Hier sind nur die Außenmauern des dreistöckigen Hauses aus Stein. Der Rest, Decken, Wände, Türen, ist in typisch schweizerischer Art vertäfelt, so dass selbst der winzigste Raum aussieht wie ein Petersburger Zarensalon, wie das verschollene Bernsteinzimmer des kleinen Mannes. Wäre da nicht die Hellhörigkeit, die einfache Holzdecken und Wände mit sich bringen. Gegen 23 Uhr fallen die beiden Zimmernachbarn ein und unterhalten sich in Zimmerlautstärke viertelstundenlang über einen Bus und warum er nicht zwanzig Minuten warten könne, soweit ich das Schwiizerdütsch verstehe. Durch die Ritzen der Wandtäfelung schimmert ihr Nachtlicht. Unweigerlich kommt mir die Hotelszene in den Sinn aus dem Roman „Mein Herz so weiß“, die von einer unfreiwilligen Belauschung in einem Hotel in Havanna handelt. Mir fällt gerade nicht ein, wie der Autor des Romans heißt, ein großartiges Buch jedenfalls, insbesondere wegen dem eigensinnigen Belauschungsprolog.
Die etwa sechshundert Höhenmeter und ca. zehn Wanderkilometer von Hospental hinauf zum Gotthardpass führen durch sichtlich alpine Matten, weitläufig steinige Wiesen, auf denen friedlich satte Kühe liegen. Unterwegs markiere ich mit dem GPS alle gut erscheinenden Zeltmöglichkeiten, für den Fall, dass man einmal wieder durchs Tal kommt. Ein eigenartiger Betonklotz, der aussieht, wie ein überdimensionierter Pavillon ragt kurz vor Mätteli aus den Wiesen. Ein Bauwerk, das eindeutig zum Gotthardtunnel gehört, der hunderte Meter unter dem Tal verläuft. Zum Unterstellen bei Gewitter sicher ein guter Blitzschutz. Zelten ist dort leider nicht möglich wegen der Wackersteine, die den Bodenbelag des Pavillons bilden.
Ab etwa 1900 Höhenmeter setzt Regen ein. Der Pass hängt voller Wolken. Die letzte Stunde bis zur Höhe gerät zur eisig nassen Schinderei. Schnell sind alle nichtgeschützten Bereiche klatschnass. Beine, Schuhe, Hände und der Zwischenraum zwischen Ruckssack und Regenjacke. Andere Wanderer überholen uns, heischend nach der Wärme des Restaurants auf der Passhöhe. Der Wanderweg steht zunehmend unter Wasser. Gummistiefel wären jetzt toll. Oder ein Taucheranzug. Noch besser dieser virale Gedanke, niemals das heimische Sofa verlassen zu haben. Wie ein Kind im ersten Schuljahr, das die Bremer Stadtmusikanten mit Wasserfarben malen soll, skizziere ich, in mich versunken, ein Bild von einem warmen, großen Raum, heißer Schokolade, Blickck auf den Gotthardsee … die letzten paarhundert Meter schlurfen wir über die alte, kopfsteingepflasterte Passstraße, mit der Option, den Bus um 16 Uhrnochwas hinunter nach Airolo zu erreichen, werden jedoch im Hospitz vom freundlichen Rezeptionisten überzeugt, uns für eine Nacht auf 2100 Metern einzuquartieren. Viertelstündige Heißdusche. Vernunft verbietet es, den Spirituskocher auf dem einzigen Stück Metall, der Heizung, in unserer Kemenate aufzubauen. Stattdessen beehren wir das Restaurant bei Rösti Tremola (also Bratkartoffen benannt nach der alten Passstraße hinunter nach Airolo) und Feldschlösschenbier.
Tags drauf das selbe Bild wie zuvor: Regen, Regen, Regen. Wir nehmen den 10:35 Uhr Bus nach Airolo, flüchtiger Seitenblick auf die Tremola, die es an Imposanz durchaus mit dem norwegischen Trollstigen aufnehmen kann. Unten gewonnen: ein paar Grad wärmer, dennoch Dauerregen. Also weiter per Zug nach Belinzona, wo zwar auch den ganzen Tag Regen droht, aber immerhin um zwanzig Grad. Nun im Castelgrande, auf einem Felsen im Kern von Bellinzona, genauer im Vorraum des Burgmuseums, das wir durch einen schmalen Betongang und eine senkrechte Röhre über eine gut sechs Meter durchmessende Rundzreppe erreichen. Man kommt sich darin vor, wie in einem Maginotlinienbunker. Alles Stein, alles Granit.
Im Kältewahn orientierte sich Monsieur Irgendlink gestrrn im Hospitz auf dem Gotthard auf diesem antiken Fahrplan. Knapp fünfzig Stunden dauerte einst die Fahrt von Basel nach Mailand. Heute verkehrt wieder täglich eine echte Postkutsche mit echten Pferden und Kutschern zwischen Andermatt und Airolo. Den ganzen Tag dauert die Tour auf der alten Tremola. Kostenpunkt 750 Franken pro Person!
SoSo auf dem Weg in einen unheimlichen Betonspalt, der in einem etliche zehn Meter hohen runden Schacht endet, mit Treppe hinauf zum Castelgrande
Die Wetteraussichten. Blick vom Castel in Belinzona Richtung Süden. Es kommt direkt auf uns zu!