Tausend Kilometer nass und kalt, so will es die Erinnerung

1985

Das Bandsägeblatt ist nur ein zwei Meter von seinem Kopf entfernt. Fuß an Fuß liegen wir auf dem Sägegatter. Mein Vater hat sich glücklicher Weise erbarmt, näher an dem gefährlich blitzenden scharfen Ding zu liegen. Dort hinten ist der Drehstromschalter. Wenn man ihn umlegt, setzt sich die Maschinerie in Bewegung und falls wir dann nicht rechtzeitig wach werden, wars das mit uns.

Seit Tagen radeln wir im Regen. Zuerst das Alsenztal hinauf über die B48 nach Hochspeyer bis in den Pfälzer Wald, runter an die Queich, durch die Südpfalz den Rhein entlang. Vobei an der Pferderennbahn Iffezheim und durchs mondäne Baden Baden.

In Alpirsbach haben wir uns eine Brauereibesichtigung erbettelt. Gerade ging Starkregen nieder. Eine geführte Gruppe von Mercedes Benz hatte nichts dagegen, dass wir mitkommen. Nur wenn später der Umtrunk ist, sollen wir uns absondern, sagte der Pförtner.

Wir waren die ersten im Gastraum. Stühle und Tischsets waren abgezählt, aber man machte nicht viel Aufhebens und legte die fehlenden Gedecke nach. Nur mit dem Biernachschenken wollte es an unserem Tisch nicht klappen.

Typisches 17ter-Junie-Wochen-Wetter (der 17. Juni war zu Zeiten des Kalten Kriegs der BRD Nationalfeiertag, wenn ich das frech so sagen darf). Siebzehnter-Juni-Wochen-Wetter also. Regnerisch, kühl. So dass wir jede Gelegenheit nutzten, irgendwo trocken zu schlafen. In Holzschuppen, unter Anhängern, in Neubauten, spät aus der Kneipe gekommen unterm Vordach zum Eingang und nun eben in diesem Sägewerk ganz in der Nähe einer Skisprungschanze. Das Tor stand sperrangelweit auf. Wenn die morgen den Schalter umlegen, müssen wir echt aufpassen, sag ich zu meinem Papa.

Bis dahin sind wir längst weg.

Die Nächte waren kurz auf diesen Reisen. Nässe und Kälte trieben uns zurück auf die Straße.

Warum ich das erzähle?

Weil mich die jetzige Reise, daran erinnert.

Genau das Wetter wie ich es gerade erlebe, hatten wir mitte der 1980er Jahre auf unseren Bodenseetouren. Fünf oder sechs Mal hatten wir die Reise gemacht, mein Papa und ich. Neun Tage. Tausend Kilometer nass und kalt, so will es die Erinnerung.

Ohne diese Bodenseereisen wäre ich heute gewiss nicht hier – just im Moment – in Etzleben am Unstrutradweg.

Neun Ziegen grasen vor mir. Ein Hahn kräht. Die ewig graue Wolkendecke macht mich seit heute Morgen ganz kirre.

Tag 10 | Die Strecke

To meet or not to meet? Eigentlich hätten sich Irgendlink und der Emil ja gestern schon getroffen, haben es aber auf heute verschoben und nun wird es also morgen.

Aus den plus/minus 5 Stunden Sich-Treffen-Genauigkeit in Mainz, sind nun plus/minus ein oder zwei Tage geworden. Das ist das Leben auf der Straße. Entschleunigung.

„Chum i hüt ned, chum i morn!“, sagt man bei uns in der Schweiz. Ich vermute, dass ich das für einmal nicht übersetzen muss.

Irgendlink hat sich voller Hoffnung auf WLAN und Dusche dem Campingplatz Herrmannseck – 40 km vor Halle, 50 oder 60 km vor Könnern – genähert.

Und nun? Zeltplatz zu.

Aber … er hat eine Türklinke gefunden. Sie passt an die Türe zur Dusche. Aus seinen kryptischen Kurznachrichten und der freudigen Antwort „Yesss!“ auf meine Frage: „Kannst du duschen?!“ schließe ich, dass er heute mal wieder seine Seife auspacken wird. :-)

Aber nun der Link zur heutigen Strecke: hier → klicken!

Im Pleistozän der Erinnerungen

Sedimente. Wo man nur hinschaut finden sich Sedimente. Schicht-um-Schicht abgelagerte Irgendwase. Zum Beispiel in den Fahrradpacktaschen.Ich suche das Handtuch. Es liegt im Äon des Waschens. Die frischen Socken im Pleistozän der Abreise.

Auch im Kopf bilden sich Sedimente. Reisetag legt sich auf Reisetag und unter der hohen Wichte des Erlebten werden die unteren Schichten heiß und druckvoll wie Kohle zu Rohdiamanten gepresst.

Die Aufgabe des Reisekünstlers ist, sie zu fördern, sie zu schleifen, sie in Gold zu fassen.

Das DDR-Museum in Gräfenroda kommt mir gerade recht. Wann war das? Vorgestern? Ich rolle von Oberhof vier fünf Kilometer abwärts. Ein Mann mit Dackel hatte mir den Weg abseits der Bundesstraße erklärt.

Im kilometerlangen ca. 4000 Seelendorf Gräfenroda wäre ich beinahe vorbeigerast an dem Museum. Die Fassade, zwei Schaufenster der ehemaligen Schlecker-Filiale, ist nicht sehr einladend. DIN A4 große Buchstaben kleben ausgedruckt hinter dem Fenster. Dahinter auf den ersten Blick nur Krempel. Wie im Brockenhaus. Puppen, Taschen, Tassen, Wimpel, Möbel.

Die Neugier ist geweckt. Hinter mir droht ohnehin ein Regenschauer.

Öffnungszeiten samstags und sonntags, aber man dürfe gerne klingeln außerhalb dieser Zeiten.

Frau Geisler öffnet die ramponierte, vielfach aufbruchversuchte Tür. Das war damals, zu Schlecker-Drogerie-Zeiten, das mit den Einbrüchen. Hier. Mitten im Dorf.

Eine gute Stunde führt sie mich durch das Museum voller Regale, Schränke, Kisten, Kleinodien. Die Ausstellung erschließt sich erst mit der Führung. Was aussieht wie ein Sammelsurium, hat in Wahrheit ein schlüssiges Konzept. Themenwände mit Spielzeug, daneben Küche und Wohnen in der DDR. Viele Produkte stammen aus der Region, aus Firmen, die es längst nicht mehr gibt, die vom Gletscher des Kapitalismus schlichtweg überfahren wurden. Kleingerieben liegen ihre Überreste in Form von Fabrikruinen verteilt in den Dörfern und Städten. Nicht zu vergessen all die Existenzen, die entwurzelt im einen System, im anderen System nie wieder Fuß fassen konnten.

Auf Post-Its, die improvisiert an den Gegenständen kleben, erhält man handgeschrieben weitere Infos. Anfänglich drängte es mich förmlich, mir selbst zu liebe innerlich Ordnung zu schaffen. Ein gedrucktes Banner muss über den Eingang oder noch besser, eine Aludibond Tafel. Webadresse. Professioneller. Westlicher. Kapitalistischer.

Aber dann wurde mir klar, es ist genau richtig wie es ist. Improvisiert. Herzlich. Voller Wärme.

Die Warteliste fürs Auto, die weit nach 1989 einen neuen Trabi verspricht ebenso wie die Neugeborenenwaage, die klobigen Telefone, den nie benutzten Bettbezug, dessen Originalpreis, über hundert Mark, noch auf der Verpackung zu sehen ist.

Von einer Welt, in der die Dinge hochpreisig und oft auch gut waren, sedimentieren wir mehr und mehr in eine Welt des Drecksbilligen. Eine Überflusswelt ohne Sinn für den Wert einer Arbeit oder einer menschlichen Leistung. Wir vergütern uns selbst?

Schnitt.

Artern. Gestern. Die Stadt ist vielleicht nicht schön, voelleicht auch doch. Sie erwischt mich auf dem falschen Fuß. Den ganzen Morgen drückt die graue Wolkendecke aufs Gemüt. Obwohl es nicht regnet und auch nicht nach Regen aussieht und es mit 13 Grad halbwegs warm ist und ich Rückenwind habe, der Gemütsdruck ist da.

Ratlos sitze ich vor einer Tankstelle auf dem Bordstein. Eine Straßenbaustellenampel reguliert alternierend stoßweise den Verkehr.

Wie Datenpakete im Internet, nur in Mensch.

Ein alter Mann mit Rollator kommt aus dem Tankstellenshop, setzt sich auf die Ablage des Rollators, öffnet eine Schnapsflasche grünen Etwas‘, nimmt einen Zug, beobachtet die Baustelle so wie ich, beobachtet mich. Woher, wohin, wir kommen ins Gespräch.

Er komme aus Berlin, gestikuliert er mit dem tätowierten Arm, da, die Richtung. Aber es lief einiges schief im Leben. Mit dem DDR System sei er einst angeeckt, erhielt Berlinverbot für fünf Jahre. Hier her habe man ihn verbannt. Entwurzelt. Im Knast war er auch. Ich erfahre nicht warum. Es spielt auch keine Rolle. Das alles ist lange her. Fast siebzig sei er, das Leben ist vorbei. Nicht alles war gut in der DDR.

Er nimmt einen Zug von dem giftgrünen Zeug.

Die Sonne durchbricht das Himmelsgrau.  

Tag 11 | Endlich und die Strecke

Das Bild hier gehört noch zum letzten Artikel:

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Im DDR-Museum

Und endlich hat es doch noch geklappt, das schöne Wetter ebenso wie das Treffen zwischen den beiden Bloggern Irgendlink und dem Emil.

Die ungefähre heutige Strecke gibt es hier → klicken.

Unterwegs nach Halle hat Irgendlink vom süßen See an einen Track laufen lassen. Den findet man (befristet) unter diesem Link hier → klicken.


(Leihgabe/Zitat von Emil; Danke!)

Und ja, Irgendlink hat auch heute wieder einen Platz zum Schlafen gefunden. An der Saale, der er die nächste Zeit folgen will.

Tag 12 | Die Strecke und der Weg

Über Irgendlinks ungefähre Tagesstrecke kannst du dir hier ein Bild machen → klicken.

Über seinen heutigen Weg eher hier:

Und dies noch vom @fugenpoeten:

Schlaft gut, liebe Leserinnen und Leser!