Im Diebesgutlaster der Seele #AnsKap

Über der Frau hängt ein Schild an der Wand, auf dem auf deutsch, englisch und schwedisch erklärt wird, dass dies kein Schlafraum ist, sondern ein Essraum für Fahrgäste. Auch darf man hier auf Deck sechs der ‚Huckleberry Finn‘ keine selbst mitgebrachten Speisen und Getränke verzehren. Die Frau schmatzt beim Schlafen auf ihrer Isomatte. Einmal dreht sie sich und murmelt, es ist kalt hier. Ich schaue durchs Fenster über den Bug der Fähre und versuche Schweden mit den Augen herbeizuzerren. Nur Ostsee da vorne und silber stechend glänzende Sonne, ab und an ein Segelboot, Fischkutter oder Ähnliches.

Zu aufgekratzt zum Schlafen. Ich wandele von Deck zu Deck. Twittere das 20MB WLAN Guthaben leer, das im Ticketpreis enthalten ist.

Drei kleine, braungebrannte Kerle quirlen durch alle Gänge des Schiffes, machen auch nicht Halt vor den Türen zum Crewbereich.

Paranoia. Die wollen bestimmt stehlen. Unten im LKW-Deck steht das Radel unabgesperrt an die Bordwand gelehnt. Packtaschen, Zelt Schlagsack offen zugänglich. Gut 1500 € an Wert. Die Reise wäre in Trelleborg vorbei, wenn sie das alles abmontieren würden und im imaginären Diebesgutslaster meiner Seele verstauten.

Korruption, schießt es mir in den Sinn. Menschen, die die Grenzen anderer Menschen nicht wahrnehmen. Sei es absichtlich, um davon zu profitieren, um etwa auf der Autobahn schneller voranzukommen, oder aus Unbedachtsamkeit, wie meine schnarchende Nachbarin im Schiffsrestaurant.

Korruption bringt man ja eher mit Fußballfunktionären und Politikern in Zusammenhang. Dann, wenn es um Millionen geht, nicht mit dem ganz normalen Temposünder oder dem Schiffspassagier.

Der erweiterte Korruptionsbegriff nach Irgendlink ist ein gesellschaftlichesDing. Vielleicht ein Wesenszug des Menschen an sich.

So gerne wären wir doch alle liebe, soziale Wesen, wenn sich nicht ständig unsere Wollens-Sphären überschneiden würden und wir tagtäglich unsere selbst gemachten Grenzen oder die der Anderen oder unsere gemeinsamen Grenzen, seien sie noch so bedeutungslos, überschreiten würden.

Ist wirklich jeder Wildzeltplatz, den ich bezelte ein Akt der Korruption? Oder ist das Verbot ansich korrupt? Eine Beschrankung der Welt von Mächtigen gegen weniger Mächtige?

Trelleborg endlich. Das Radel steht unberührt im Bauch der Fähre. Um halb drei ein Parforce-Ritt durch die Stadt: Touristinfo, schwedische Sim-Karte, Geldautomat, raus aus der Stadt. Genau in dieser Reihenfolge. Irgendlink le Nerd.

Die knapp vierzig Kilometer nach Malmö werden zu fünfzig durch geschicktes Umherirren. Ich lerne das Land. Lerne das Radwegesystem. Lerne auch schwedisch. Hei zum Beispiel sagt man sowohl zur Begrüßung, als auch zum Abschied.

Gegen zwanzig Uhr treffe ich meinen Freund Ray an der Bahnstation Hylie. Er wird ein bis zwei Wochen mitradeln. Kennengelernt hatten wir uns 2012 auf einer norwegischen Fähre, beide unterwegs auf der North Sea Cycle Route .

Vielleicht kann ich ihn überreden, zu zeichnen. Immerhin ist er ein echter, studierter Künstler.

Spät checken wir auf dem riesigen Zeltplatz Malmö ein. Er ist nah bei der Øresundbrücke, gell, so heißt die?

220 Kronen pro Person. Schmerzhaft teuer, so dass ich mich dabei ertappe, im korrupten Innern meines Hirns, statt zwei Zelten nur eins anzumelden.

Golden schimmert die zig Kilometer lange Brücke im Sonnenuntergang.

Tag 18 | Auf dem Sverigeleden

Wann immer wir in Schweden von Süd nach Nord und von Nord nach Süd unterwegs gewesen sind, haben wir den Sverigeleden gekreuzt.

Darum hüpfte vorhin mein Herzchen gar fernwehkrank bis fast zum Hals, als  ich gesehen habe, dass Irgendlink und Ray bereits auf dem Sverigeleden unterwegs ist, diesem Scharnier, dieser Spur, die sich durch ganz Schweden schlängelt.

Und dass Irgendlink Menschen glücklich macht, wisst ihr vielleicht schon?

Die heutige Ungefähr-Route findet ihr hier → klicken. Oder noch besser, ihr seht sie hier:

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Tagesstrecke von Tag 18

Und das ist die Tweeternte des Tages:

Die Opportunitätskosten der Kunst #AnsKap

Noch ist unklar, ob ich diesen Artikel mit den Nacktschnecken aufziehe, oder lieber mit den Gedanken eines, der mitten auf einer schwedischen Landstraße steht und mit dem iPhone drei Bilder in Richtung seines Reiseziels macht und eines zurück. Atmosphäre versus verschwurbelte Konzeptkunst-Denke. Körperliches versus unsichtbare Vorgänge und Denkstrukturen.

Das Leben als reisender Künstler und Schriftsteller ist kompliziert.

Nun ist Freund Ray für vierzehn Tage mit im Künstlerboot, was auch eine gewisse Änderung im Tagesrhythmus bedeutet. Zum Positiven hin. Aus dem Selbstausbeuterischen anarchischen Drauflos der letzten Wochen formt sich ein lieblicher Tagesablauf mit Breakfast und Lunchtime – Ray ist Schotte – und genau wie auf der Nordseerunde 2012, klingelt sein Armbanduhrwecker immer noch um sieben Uhr abends, um auf die Lagerplatzsuche aufmerksam zu machen.

Das Orchestrale am Menschsein, schießt es mir in den Sinn, als ich ein typisches Kunststraßenbild-Quadrupel knipse bei Kilometer 1300 plus X. Ray radelt langsam weiter, verschwindet am Horizont, geht seinen eigenen Rhythmus, während ich den meinen, selbst auferlegten, gehe. Das Land ist schön, Gerstenfelder und Rapsfelder wechseln sich ab. Dazwischen hat in impressionistischer Manier eine unbekannte Kraft einsame Gehöfte getupft mit roten Scheunen und schneeweiß glänzenden Metalldächern.

Erst nach etwa einem Kilometer hole ich Ray wieder ein, der im Schatten eines Baumes wartet.

   
     

Typisches Kunststraßen-Quadrupel: drei Vorblicke (1 Normalbild, 1 sw Hipstamatic und 1 Color Hipstamatic), sowie das Bild in die andere Richtung. Zurück.

Ein Kilometer Reisestrecke sind die Opportunitätskosten für mein Kunstkonzept. Alle zehn Kilometer radele ich einen Kilometer weniger, als jemand, der nicht Kunststraßen fotografiert.

Jeder Blogartikel kostet mich 20 Kilometer, die ich nicht radeln kann derweil. Ungefähr. Jede iDogmakarte kostet vielleicht fünf bis zehn Kilometer.

Manchmal kostet mich die Produktion meiner Kunst und Literatur auch das Abendessen.

Eigentlich ein gutes Bild, um zu verdeutlichen, wie wir ‚Taugenichtse‘ der feinen Künste, die wir alltäglich scheinbar ein feines, freies Leben jenseits der Knochenmühle führen, ticken.

Unsere Ideen und Bilder strahlen wir hinaus in die Welt. Jeder darf sie haben, darf sie nutzen, sich daran erfreuen oder auch mal darüber aufregen, sich inspirieren lassen. Kostenlos.

Dennoch stehen wir Künstlerwesen stets ein bisschen so da, als würden wir uns das Leben auf Kosten Anderer leicht machen. Verdammt, es ist ja auch frei und leicht, aber das Auf-Kosten-Anderer kann so nicht stehen bleiben.

Kunst ist oft eine nicht wahrgenommene Arbeit. Genau wie Luft eine nicht wahrgenommene Ressource ist.

Und Schnecken? Hunderte braune eklige nackte Viecher kriechen am Abend aus der Wiese. Als lebten sie in einer unterirdischen Gegenwelt, kriechen am Zelt hinauf, an den Wasserflaschen, am (ausen) Kocher und in die Schuhe. Hinterlassen Kackspuren, Schleim. Der Lagerplatz auf einer abgegrasten Weide unweit von Eslöv ist dennoch viele Sterne wert. Five Stars sagt Ray.

Mhmm, four because of the trains nearby.

Alle halbe Stunde donnern Güterzüge etwa hundert Meter jenseits an uns vorbei. Das gibt Punktabzug.

Und wenn ich es mir nun recht überlege, ich hätte diesen Artikel auch mit den Güterzügen beginnen können.

Tag 19 | Vinslöv

Ich war noch unterwegs, bei einer Freundin, als ich Irgendlinks Nachricht las. Aus Vinslöv.

Warum bloß kommt mir dieser Ortsname so bekannt vor? Ein Name, der nach frühem Regen und später Sonne roch, mich an Spiegelpfützen erinnert und mich an damals, denken lässt, als es hier im Süden den ganzen Sommer regnete und wir in Schonen bestes Radelwetter hatten (zum Erinnerungslink).

Aber wir sind ja heute, hier und jetzt und nicht damals, vor vier Jahren. Heute sind Irgendlink und Ray in Vinslöv eingetroffen, vertrauensvoll dem Sverigeleden folgend.

Die ungefähre heutige Radelstrecke gibt es hier → klicken.

Und hier wieder ein paar Tagestweets von @irgendlink:

Gedanken zu Prozessualer Kunst – reblogged

Lieben Dank an Freund Emil für seinen heutnächtlichen Blogartikel

Fernwehleidig hinterherträumend dazugesellen #ansKap,

aus dem ich nachfolgend zitieren darf:

Ein Kunstwerk

Ein Kunstwerk, das ist etwas Fertiges. Ein Photo. Ein Buch. Ein Gedicht. Ein Film. Ein Gemälde, ein Kupferstich, eine Skulptur, eine Plastik. Ah ja. Und wie ist es bei einer Komposition, einem Drama? Die brauchen doch auch die gegenwärtige, im Moment stattfindende Aktivität von Schauspielerinnen und Musikern, Sängerinnen und Tänzern. Erst im Prozeß der Darstellung/Darbietung des “Kunstwerkes” wird das Kunstwerk daraus. Ist es bei dieser Reise nicht ähnlich: Betrachten wir da nicht ein Kunstwerk, das gerade aufgeführt, dargeboten, gespielt, gelebt und Er-lebt wird? Er-lebt wie Erschaffen? Erfahren? Und das alles im wahrsten Wortsinne!?

Das Kunstwerk ist nicht das hinterher erhältliche e-Book, es sind nicht die iDogma-Karten, die Fotos. Nein. Das Kunstwerk ist, was gerade in diesem Moment geschieht. Wie bei einem absolut geilen, frenetisch extatisch erlebten Live-Konzert meiner Lieblingsband. Die CD, die ich mir dort nach dem Konzert kaufe, dient nur dazu, mein Kunsterleben erinnerbarer zu machen. Und jeder Moment Kunst, den der Künstler schafft, kostet ihn Anstrengung, im Zweifelsfalle Geld (für die SIM-Karte des Telefones und die entprechenden Gebühren) oder Zeit oder eben, wie er im von mir erwähnten Artikel schreibt, auf dieser Reise eben Kilometer. Der schriftstellernde Appspressionist und Radfahrer als darstellendern Künstler …

Und glaubt mir bitte: Auch andere Kunst erfordert Schweiß und Blut und kostet. Mag sein, daß dann solche wie ich, die sich aus prinzipiellen, persönlichen Gründen bezahltem Kunstschaffen verweigern (naja, wahrscheinlich wird jedes Prinzip irgendwann zumindest einmal gebrochen), die Achtung vor der Leistung einer Künstlerin/eines Künstlers “versauen”, so wie andere Billigheimer woanders die Preise “versauen”. Mit dem (Selbt-)Vorwurf muß ich leben; aber ich muß nicht von meiner Kunst leben. Ich würde das aber ganz sicher gern tun, wenn es möglich wäre; allein daran fehlt mir echt der Glaube, und der Selbstwert und die Zuversicht und der Wille dazu fehlen mir im Moment auch.

Aber der/die da, der/die jetzt in Schweden irgendwo in seinem Zelt/ihren Zelten liegen und tief und fest schläft/schlafen, der ist/die sind dort nicht (nur) zu seinem/ihrem Vegnügen unterwegs. Sondern nimmt/nehmen den ganzen Weg auf sich zu meinem, zu unserem Vergnügen, die wir uns an diesem Prozessualen Kunstwerk in all seiner Vergänglichkeit und Konservierbarkeit erfreuen, es ohne Anstrengung genießen können.

(Quelle: Der Emil)

Zum Originalartikel, der noch mehr  über Irgendlinks Projekt verrät, gehts hier → lang.
Herzlichen Dank, Emil!