Das dritte Standbein am Melkschemel des Seins

Ein kleines Wunder: schlaflos! Erstmals seit wievielen Wochen. Dabei lief alles so gut. Der gute Carlos konnte wieder ein Einzelzimmer für sich ergattern, eine mittlerweile lückenlose Serie von Einzelzimmern seit wir in diesem Pulk von etwa acht Peregrinos laufen. Sowas ist wohl nur im Winter möglich. Überhaupt hat das Winterpilgern viele Vorteile. Das wurde mir auf der Etappefoncebadon Ponferrada bewusst. Der bisher wärmste Tag. Schon in den Bergen auf etwa 1500 m Höhe kletterte das Thermometer auf Frühling. Ein seichter Wind treibt uns zum Cruz de Ferro, welches ein enttäuschend winziges Kreuz ist auf einem zehn Meter hohen Mast, an dem man traditionell einen Stein ablegen kann symbolisch für eine schwere Last oder einen Wunsch, den man im Leben hat. So gut bin ich über das Cruz de Ferro und die Geschichte, die sich darum rankt, nicht informiert. Wie ich sowieso recht unbedarft an den Camino herangehe. Etwa wundert mich, dass weiter unten im Tal Scherzbolde etwas auf einen großen Brocken geschrueben haben: ‚Paparazzi, nimm diesen Stein mit zum Cruz de Hierro‘ – ja was nun, heißt es Ferro oder Hierro?
Ich merke, wie beweglich und veränderbar doch Information ist. Eigentlich ist es auch egal. Fakt ist: ein Mann geht den Berg rauf, kommt auf etwa 1500 Metern Höhe an einem Pfosten vorbei, auf dem ein Eisenkreuz montiert ist und der auf einem Steinhügel steht. Mann wirft eigenen Stein zu den anderen Steinen, wünscht sich was und geht weiter. Dass der Mann das Halbwissen um das Ritual schon seit hunderten Kilometern mit sich rumschleppt, welches sich nun im Akt des Steinwerfens bündelt, ist beachtlich.
Etwa eineinhalb Stunden, bevor ich das unheimliche Los Arcos erreichte, ist sicher zwei Wochen her, verirrte ich mich an einer Weggabelung, an der weit und breit keine Fleche amarilla, kein gelber Pfeil zu sehen war, welcher sonst den Weg nach Santiago zeigt. Ich setzte den Rucksack ab, wurschtelte darin herum, trank einen Schluck Wasser, lief einen Umweg. Später fand ich einen Stein in dem Rucksack und da nahm diese, meine Geschichte mit dem Cruz de Ferro oder Hierro ihren Anfang. 300 km Halbwissen. Zwischendurch hatte ich noch einen zweiten Stein in Herzform eingeseckelt, den ich für die geliebte Sofasophia ablegen wollte. Wenn schon Halbwissen, dann richtig, dann kann ich auch für andere etwas wünschen, ablegen, beten. Irgendwie ist das Cruz auch ein Wurmloch in die Welt, die ich vor der Pilgerei kannte. Die knallharte, kalkulierende Welt, in der man ständig Entscheidungen treffen muss und sich im Schinden um sinnloses Materielles alltäglich aufreibt. So denke ich doch glatt darüber nach, ob ich mir für den Stein lieber Gesundheit wünschen soll oder Erfolg. Als ich den Stein werfe, wird mir klar, dass es nicht darum geht, welcher Wunsch der wichtigere, der bessere ist, sondern ich sollte mich mit dem Prinzip des Wünschens ansich beschäftigen, jenem geheimnisvollen dritten Standbein am wackligen Melkschemel aus Haben, Sein und Wollen.
Schmunzelnd laufe ich Manjarin an, ein zwei notdürftig zusammen geschusterte Häuser, in denen Templer Thomas wohnt. Er trägt eine weiße Kutte mit rotem Templerkreuz. In Manjarin kann man auch übernachten. Es dürfte ähnlich verträumt, spartanisch, gutherzig sein wie Davids Scheune pberhalb Astorgas. Vor der Hütte hängen Hinweisschider: Trondheim 5000 km, Rom soundsoviel, Mexico auch soundsoviel, Schrezheim 1906 km und Jerusalem und und und. Die Strecke von Foncebadon bis zum Abstieg Richtung Ponferrada zieht sich etwa 2,5 Stunden über Stock und Stein. Sie folgt grob der Straße 142, kreuzt diese immer wieder. Nachmittags klettert das Quecksilber im Tal auf gefühlte 18 Grad. T-Shirt-Wetter. Die Sonne verkriecht sich als schemenhaftes Etwas hinter grauem Schleier. Die letzten 6 km zwischen Molinasecco und Ponferrada laufen wir auf dem Gehweg neben der 142. Samstagspatziergänge, zigmal Buenas Tardes sagen, Buen Camino hören. Jogger und Mountainbiker.
Vor der Albergue in Ponferrada steht ein Meilenstein: Santiago 202,5 km.
Am Abend kochen die beiden Rosen und Carlos ein opulentes Essen: drei Sorten Salat, Spaghetti, Bolognesesauce, andere Köstlichkeiten, Brot und Mandarinen und Schokolade und Sardellenhäppchen und etliche Flaschen Wein. Kein Orujo, jenen traditionellen Schnaps, der uns seit Astorga in seinen mannigfaltigen Formen begegnet (hierzu wären noch zwei Geschichten zu rekonstruieren, die ich als Sprachnotiz angelgt habe).
Diese Nacht erstmals schlaflos. Am Abend quartiert sich Laura in unser Zimmer ein. Dass sie nicht gerade leise atmet, weiß ich seit Pamplona. Dass das Etagenbett, in dem sie die Liege über mir hat, beim Nicht-gerade-leise-atmen schaukelt wie ein Schiff, ist mir neu. Gabs gestern etwa doch Orujo? Beim nächsten Cruz de Ferro/Hierro wünsche ich mir Stille.

2 km vor Ponferrada – seichte Sonne über spanischer Tackerwerkstadt

Was uns Pilger antreibt

Was könnte ich es so gut haben und gemütlich zu Hause neben dem Ofen sitzen und einen Nesbø- oder Vargas-Roman verschlingen. Ab und zu ein Mama-gebackenes Weihnachtsplätzchen und das surren eines Topfes Glühwein auf dem Ofen.
Hundegebell. Durchs Fenster blitzt im Halbsekundentakt das Signal eines Windrads. Sternklare Nacht. Multiples Menschenschnaufen. Martina schnarcht wieder wie ein unglückliches Schlossgespenst. Wie die unerlöste, kalte Seele in feuchtem Gemäuer. Im Dachgeschoss hat sich Apnoiker Carlos auf einer Matte langgestreckt. Sein Schnarchgewitter grollt im Treppenhaus. Obwohl wir seit wasweißich wievielen Tagen zusammen unterkommen, war er noch nie bei uns anderen im Zimmer. Er ist der rücksichtsvollste Pilger aller Zeiten. Thomas schläft bei Sardi draußen in der Garage, was öfter mal vorkommt. Selten erlauben die Hospitaleros Hunde in der Albergue. Meist aber bieten sie eine wenn auch unkomfortable Alternative.

Foncebadon ist, auf den ersten Blick, ein zerfallendes Bergdorf, in dem es nicht viel gibt, als diese urige Herberge. Im milden Abendlicht erreichen Martina, Chaeuk und ich den Ort. Vorpilgerin Alice hatte mich gestern per Kommentar (im Sofasophienblog und SMS*) warnen lassen, dass es schwer werden würde, den Berg zu erklimmen, dass die letzten 300 m bis zur Albergue eine halbe Stunde Quälerei wären.
Nichtsda. Gemütlich spazieren wir durch fast frühlingshaftes Land. Die Rückblicke nach Astorga, die schiefe Ebene hinunter sind unbeschreiblich. Wie durch dünne Haut auf Milch kann ich das Gefühl der Jugend und des erstmals erlebten Augenblicks fühlen. Eine Sache, die uns Menschen, je älter wir werden, desto mehr abhanden kommt.
In der Albergue treffe ich Laura wieder. Sie ist seit sechs Tagen hier, Hilfshositalera. Sie gibt uns den Stempel, trägt unsere Namen ins Herbergsbuch ein. Später zeigt sie Bilder auf der Digitalkamera. Der Pass muss noch vor wenigen Tagen tief verschneit gewesen sein. Überhaupt sei dies der erste Tag, an dem man hier richtige Fernsicht genießen kann. Manchmal habe ich das Gefühl, eine unsichtbare Kraft räumt mir den Weg frei. Nicht nur hier, sondern im ganzen Leben. Alles laufe nach einem ausgeklügelten Plan. Zuckerbrot und Peitsche des Schicksals. War es nicht im Mai auf dem Weg nach Andorra genauso: kurz bevor der Schnee kommt, überquere ich den Mont Lozère; und die 2400 m hohe Porte de Envalira taut erste ein paar Tage bevor ich sie erklimme auf, so dass man mit dem Rad hinüber fahren kann.
Franks Frage, was uns Pilger antreibt, wollte ich beantworten. Ich kann es nicht. Vielleicht müssen wir den Camino einfach gehen. Es ist unser Schicksal, die wir hier zu sechst oder siebt heute Nacht in diesem Zimmer schnaufen. Die eigentlichen Gründe, warum wir überhaupt losgelaufen sind, sind so unterschiedlich, wie die schier unmöglichen Zufälle, warum wir als die geboren wurden, die wir sind. Der Camino als Parabel für das Leben ansich? Bist du erstmal unterwegs, lebst du erstmal, fragst du nicht mehr nach dem warum und nach der Kraft, die dich antreibt.
Sicher gibt es Feinheiten, die das Vorankommen begünstigen: Wetter, gute Laume, nette Mitpilgerinnen. Manchmal frage ich mich, ob ich den Weg auch ganz alleine würde laufen können. Ohne meine Pilgerfamilie. Man kommt so erschreckend langsam voran. Die Zweibrücken-Andorra Reise im Mai war zwar eine Reise von ähnlichem Ausmaß und dort war ich alleine unterwegs, aber es lässt sich nicht vergleichen. Ich radelte durch ein opulentes Frankreich und mein Antrieb war die Kunst.
Hier auf dem Camino spielt die Kraft der Kunst und des Schreibens eine untergeordnete Rolle. Ich fotografiere nebenbei, weil es sich anbietet. Genauso ist es mit dem Schreiben. Den Fluss dieser kraftvollen Reise bremst es weder, noch beschleunigt es ihn. Kunst und Schreiben fallen als Triebfeder weg. Sinnsuche ebenso. Wenn etwas antreibt, dann die Gemeinschaft mit den Anderen, doch auch sie ist kein richtiger Grund. Das Lemmingeprinzip. Wir alle laufen in einem gleichmäßigen Strom. Seit ich losgelaufen bin steht meine Zeit still. Die Vergangenheit ist wie ausradiert. Insbesondere die Alltagssorgen. Die Zukunft beschränkt sich auf das Erreichen der nächsten Albergue, der nächsten Bar, manchmal nur der nächsten Wegbiegung.
Was habe ich es doch so gut.

Foncebadon Ortseingang aus Rabanal kommend
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EDIT:
* siehe nachfolgender Kommentar von Sofasophia

In Foncebadón

Zur Etappe/Karte des 22. Tages … > hier klicken

In Foncebadón ist, wie ich höre, wieder die ganze gestrige Pilgerfamilie anwesend. Samt Hund Sardi, der aber heute Nacht draußen schlafen muss … Irgendlinks Tag war sehr schön, T-Shirt-Wetter und gute Stimmung, sagte er vorhin am Telefon. Doch er ist müde. Eine lange und auch ziemlich anstrengende Wanderung war das heute. Von 868 m. ü. M. auf 1439 m ü. M. ist ja auch nicht ohne.

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Nachtrag/Internetrecherchen zur Casa de los Dioses, die Irgendlink im vorherigen Artikel erwähnt:

… zu Davids Website > hier klicken

… auf YouTube > hier klicken

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by Sofasophia

Santa Catalina de Somoza

Endlich die große Ebene überwunden. Seit zwei Stunden stetig bergan, Astorga hinter mir. Zunächst leicht befahrene Landstraße, später auf schmalem Pilgerfeldweg. Die gestrige Etappe steckt mir noch in den Knochen. Der Tag war sowohl geistig, als auch körperlich anregend.
Gegen Dämmerung erreiche ich Astorga. In der Pilgerherberge hat ein deutscher Hospitalero vier Uhren aufgehängt, die allesamt beharrlich tickend die Camino-Weltzeiten der nächsten Etappenorte zeigen: Astorga 18:15, Rabanal 18:15 und so weiter. Zusammen mit dem brasilianischen Radpilger Joáo werde ich ins Zimmer ‚Eunate‘ einquartiert. Dort liegt schon erschöpft unterm Bett Thomas‘ Hund Sardi. Auch Martina, die beiden Roses, Chaeuk sind da – mittlerweile erkenne ich ihre Ausrüstung.
Weil ich so spät bin wird der Abend ein Pilgerspießrutenlauf: Einkaufen, Geld ziehen, Münzen wechseln fürs Telefon und drei verhärmte Bettler, Duschen, Socken waschen, punkt halb Neun im Guide Michelin Restaurant La Peseta, wo sich das gesamte Happy Pilgrim Family Zimmer an einem runden Tisch zusammen findet, um die regionale Spezialität ‚Cocido Maragato‘ zu genießen. Nicht gerade billig, aber ein touristisches Muss.
Später lichten wir unsere von drei vier Flaschen Rioja schweren Köpfe in einer Internetkamera, die in der Albergue steht, ab. Die Bilder sollten umter http://pilgrimportrait.com/ zu finden sein.
Morgens um halb Acht forciertes Aufstehen. Eigentlich will ich gemütlich in der Alberguenküche Kaffee kochen, rumhängen und wach werden, aber Martina, frómistageschädigt wie ich, mahnt, dass wir um Acht das Zimmer räumen müssen.
Ich merke, die Pilgergeschwindigkeit zieht in vielerlei Hinsicht an. Es ist, als gerate man in den Sog eines alles verderbenden Strudels, dessen dunkles Auge Santiago ist. Ich habe alle Hände voll zu tun, dem mit auferlegten Pausen entgegen zu wirken. Es tut guz, jetzt in dieser Bar in Santa Catalina zu sitzen und diese Zeilen zu schreiben. Schon gestern habe ich eine Art Vielpausentechnik erprobt, um die aufkoemde Pilgerendzeithektik zu dimmen.
Etwa 6 km vor Astorga in den Bergen stoppte mich David vor seiner ‚Casa de los Dioses‘ (Webrecherche) und machte mich mit ruhigen Worten auf die Wichtigkeit des Innehaltens aufmerksam.
Doch das ist eine andere Geschichte, die ich in einem ruhigen Moment rekonstruieren möchte. Auch Franks Frage, was uns PilgerInnenspinnerInnen antreibt, werde ich einmal in Ruhe beantworten. Zu behaupten, es sei die Eigendynamik des Lemmingetums, wäre zu selbstironisch :-)