Bayonne, fast am Ziel – ähm am Start

Im Diesel getriebenen Einwagenbähnchen verlassen wir Bayonne. Ja, ich bin nicht mehr alleine. Schon im TGV kam mir der Typ mit der Brille verdächtig vor, bestand sein Gepäck doch aus einem ähnlich fetten Rucksack wie meiner, obendrein noch Wanderstöcke festgeschnallt. In Bayonne beäugte er die Zuganzeigetafel irritiert.
Stunde Aufenthalt. Ich gehe durch die Schalterhalle in die Stadt, um Brot und Wasser zu kaufen. Bayonne ist genau wie Kollege T. es beschrieben hat. Zusammengerollt wie ein Embrio liegt ein rotnasiger Säufer in der Ecke. Typen mit Lumpen am Leib und ssssolllchen Hunden lungern vor der Tür. Ein schlacksiger Junge spuckt Bindfäden auf die Straße. Als ich in einem Abrissgebäude eine zerbröselnde Wand fotografiere – ich habe die Kaputze auf, weil es regnet – spricht mich ein Typ von hinten an, erschreckt mich zu Tode, labert etwas von „Vodka“ und „Argent“. Er trägt einen grüngelben Jogginganzug, auf dem „Marocain“ geschrieben steht; gibt die Konversation auf, als ich ihn nicht verstehe.

Zurück im Bahnhof spricht mich eine Dame an, ob ich pilgere und erzählt mir von ihren vielen Camino-Reisen.

Nun im Zug. Feierabendmenschengemurmel und Dieselrußgestank. Mein neuer Freund spricht kein Wort Deutsch, Französisch und kann kaum Englisch. Immerhin erfahre ich, dass er Jon Su heißt, aus Korea kommt, 51 Jahre alt ist und gedenkt in 45 Tagen nach Santiago zu laufen.
Er scheint, ebenso wie ich, keinen Plan zu haben, wo er nachher unterkommt. Die Pilgerherberge, sagt der Zugführer, sei vermutlich zu. Aber es gebe Hotels …

Zugfahrt von Angoulème bis Dax

Im Zug zwischen Angoulème und Bordeaux. Zum ersten Mal seit Tagen sehe ich wieder einen Streifen Sonne. Wie gut es tut, der novembertristen Saqrpfalz den Rücken zu kehren.
Die fünfstündige Fahrt von Paris bis Bayonne zieht sich ungemein. Ich bin seltsam aufgekratzt, ein bisschen hungrig, aber auch müde und gelangweilt. Entweder fährt der TGV nicht so schnell wie gehofft – über 300 Sachen – oder ich schätze die Geschwindigkeit falsch ein, habe mich schon daran gewöhnt? Es ist sehr still im Zug. Die Leute wollen eben nur von A nach B. Ich ja auch. Aber ich will auch den Weg erleben. Darüber schreiben, ihn fotografisch setzieren.
Gerade denke ich – weil sich gestern Abend beim Irgendlink-Blog-Statistik lesen andeutete, dass einige neue LeserInnen herein schalten, ich sollte das Projekt und mich mal grob vorstellen.

Die Idee: mache eine Reise und berichte live darüber im Blog. Nutze dafür nur das iPhone, indem du die Methode iDogma anwendest. iDogma ist jedes geschriebene oder fotografierte / gefilmte oder aufs Diktiergerät gesprochene künstlerisch digitale Produkt, das alleine mit dem iPhone und seinen Software-Erweiterungen (Apps) erzeugt und auch publiziert wurde.

Die Ausgangssituation, ich: 44, körperlich recht fit, aber noch nie mehrtägig mit Gepäck gewandert. Meine einzige Tageswanderung, die länger als 20 km war hatte ich im Mai 2008 – ohne Gepäck, auf dem Pfälzer Jakobsweg.
Ich bin also ein absolutes Greenhorn, was das Wandern betrifft.

Ausgangssituation Technik: Der Rucksack wiegt mit 1 Liter Wasser und ein bisschen Essen 15 kg. Schwerster Gegenstand dürfte die Nikon D 300 samt Ersatzakku und Ladegerät und Objektiv sein. Ich hatte überlegt, sie daheim zu lassen. Aber ohne Foto keine Fotos. Weiters trage ich zwei Ladeakkus für das iPhone mit und eine Solarzelle, um den kleinen Stromfresser möglichst niemals hungern zu lassen. Was noch? Notizbuch, Bleistift und den recht schweren Pilgerführer, in den ich noch immer nicht reingeschaut habe. Vielleicht lasse ich ihn in Roncesvalles, dem Ziel der ersten Etappe zurück? Der Winterschlafsack ist vielleicht auch überflüssig. Warme Kleider, und, StammleserInnen werden es nicht glauben, Unterhosen und T-Shirts und sogar Geld. :-)

Nun ist der Zug schon in Bordeaux. Ein Mann mit zwei großen schwarzen Hunden steigt zu und eine geduckte Gestalt mit Buckel und rotem Cape, die aussieht wie der Gnome in diesem uralten Gruselfilm, der in Venedig spielt. Wie heißt der Film noch? Wenn die Gondeln trauer tragen?

Die Typen fahren bestimmt nach Bayonne. Kollege T., der letztes Jahr den Jakobsweg geradelt ist, hat mich vor Bayonne gewarnt: seltsame Typen hängen dort vorm Bahnhof rum. Mit Hunden und roten Capes und Ringen in den Nasen. Ich werde langsam nervös. Der Zug rollt wieder. Unaufhörlich.

Bahnhof Dax. Noch eine halbe Stunde bis Bayonne, dem letzten Umsteigebahmhof vor dem Ziel. Regen in Sturzbächen. Mist. Hier herrschen vielleicht andere Wettergesetze, als bei uns? Die Kumstbübchenrechnung geht womöglich nicht auf.

Im TGV mitten in Frankreich

Feine Damen, ich müde. Fröstelnd am Bahnhof Saarbrücken. Was ist der Mensch in Bewegung doch so zerrissen zwischen den Welten. Ewig kahle Cerealien-Champagne. Braune Felder, keimende Wintergerste, 317 km pro Stunde. Ich habe ein bisschen geschlafen, so weit das möglich ist in den Zugsitzen. 20 Minuten bis Paris. Dort treffe ich Steph. Gut zu wissen, er wird mich durch die Großstadt führen. Ist doch fast wie in Paulo Coelhos Jakobswegbuch: der Mensch braucht einen väterlichen Führer in dieser bedrohlichen kalten Eisenwelt.

Leute: geliebte Eltern stecken mir Geld zu und fahren mich in aller Herrgottsfrühe nach Homburg. Man mit Rohloff-Schaltung radelt jeden Tag 76 km nach Burbach zur Arbeit. Er hat eine Freundin in Niederösterreich, redet viel und hat fast alle Regenjacken und Schuhe getestet, die es gibt. Frau mit Nasen-Op, iPhone 4 und Stöckelschuhen. Der Typ neben mir nach Paris mit dem Java2 Lehrbuch. Bettlerin vor einer Bäckerei in Paris Montparnasse. Steph steckt ihr 50 Cent zu. Er erklärt mir die Stadt, das neue Radwegenetz, das seit ein paar Jahren ausgebaut und verbessert wird. Es gibt überall Fahrrad-Leih-Stationen, an denen man per Kreditkarte ein Rad nehmen kann, es an einer anderen Station wieder abstellt.
Paris war aufregend. Nicht zuletzt weil Steph mich warnt, ich solle meinen Rucksack nie aus den Augen lassen, auch nicht im Zug. Misstrauisch kauerte ich in Metro vier Richtung Montparnasse, dem Bahnhof, an dem die West- und Südzüge abfahren. Im Zug gönne ich dem iPhone eine Aufladung. Jedes Sitzpaar hat eine 220 V Steckdose. Tastaturengeklapper vor mir, Schnarchen neben mir, Zeitungsblättern. Seit 12 Uhr rasen wir durch flaches Land. Haben einen großen Fluss überquert. Die Loire? Sonne zaghaft. Wir müssten bald Angoulème erreichen.

Nachtrag: nun im Bhf Angoulème. Upload.

Gestartet

7:35 Saarbrücken Hauptbahnhof.

Pamorama im Saarbrücker Hauptbahnhof Blick nach Gleis 14.
Fertig gepackt mit neuer, Einfamilienhaus-ähnlicher Jacke vorm Hauptbahnhof Homburg.

Die Schöne, das Biest und der Pilger

Wassen Tag! Frühmorgens erwache ich mit sofort einsetzender Grundnervosität, die sich den ganzen Tag über auf einem einheitlichen Niveau hält, so als würde in meiner Brust jemand sitzen, der ununterbrochen „Ommmmm“ singt. Aber das Omm trägt nicht zur Beruhigung bei. Gegen 11 überfällt mich Künstlerin H., welche sicher der seltsamste Mensch ist, den ich kenne, und belagert mich mit ihren Geschichten – davon erzähle ich besser ein Andermal, denn das ist ziemlich abgedreht. Ich Hobbypsychiarter, ich. Aber gute Ablenkung vom Ommmmm. Genauso wie die Mail vom Künstler Schalenberg, dass noch dies und das an seiner Homepage zu erledigen sei, und ich sogleich im Quelltext wühle. Nebenbei immer wieder den Arbeitsplatz verlasse, Dinge auf den Boden werfe neben den nigelnagelneuen Rucksack, eine Packliste kritzele. Einkaufen, telefonieren, die Welt retten. Liebling, so ist mein Tag aber das Schlimmste kommt ja noch: Die Steuererklärung, die mir Journalist F. gestern Abend in sein Laptop gehackt hat, ist noch immer da drin! Da ich i-Dogmatiker bin und somit gewohnt, alle relevanten Daten über, durch und mit dem iPhone zu beackern, habe ich keinen Drucker. Und so musste der Herr F. die Declaration of Steuer bei sich zu Hause ausdrucken, sie mir gegen Punkt 19:55 Uhr vor der Festhalle der Stadt in einem neutralen Umschlag zu überreichen (er hatte einen journalistischen Termin, keineZeit, keineZeit, keineZeit). Wie konspirativ wir doch sind. Im Schatten eines Baumes wartete ich neben fahlem Laternenlicht und beobachtete das Spektakel: die halbe Stadt hat sich Tickets besorgt für das Musical Die Schöne und das Biest. Menschentrauben strömen im Halblicht in die bunt beleuchtete Festhalle. Es riecht nach süßem Parfüm, Fönwelle und Ganzrasur. „Das Alles“, denke ich, während ich auf Journalist F. warte, „wirst du fünf Wochen lang vermissen.“

Gleich nachdem ich das Kuvert mit der Erklärung in der Hand halte, schleiche ich zum örtlichen Finanzamt und werfe es verstohlen in den Briefkasten.

Was noch? Gegen Mittag strömen im Minutentakt Kommentare in den Blogeinträgen herein, welche mir Mut machen, Wildgans, Soulsnatcher, Axel, Andrea – hab ich jemanden vergessen: IHR SEID EINFACH GOLD. Danke für die lieben Wünsche, Tipps und Rippenknuffer. Ich werde die nächste Zeit eher schludrig die Kommentare verfolgen können – Ihr wisst ja: das Live-Blogging steckt noch in den Kinderschuhen und ich muss mit zwei nicht zufrieden stellenden Apps hinausziehen und das Blog mit Texten versorgen. Aber das wird schon.