Das heißt Nebel, lerne ich von einer der beiden Spanierinnen, die gut Englisch und auch ein bisschen Deutsch spricht.
Am Morgen zeigen im Schlafsaal alle Handyladegeräte grünes Licht. Scheiben angelaufen. Ein zerzauster spanischer Peregrino spricht mit der Microwelle und sieht mich dabei an. Er hat eine Träne im Auge. Ich nicke verständnisvoll ohne ein Wort zu verstehen und die beiden Spanierinnen grinsen unter sich.
Nieble. Klasse. Brauche ich gar keine Mütze in die Augen zu ziehen, um im Kopf das Moscheltal zu installieren. Ich beginne in Teschenmoschel.
Wie es wohl Menschen ergeht, die ein Lebtag im Nebel leben?
Was, wenn er sich lichtet?
apt-get install alsenztal
Carrion, Herberge Spirit y Santos (ungefährer Name – das Licht im Schlafraum ist schon aus und ich will nicht raschelnd den Pilgerpass rauskramen, um auf dem Stempel zu recherchieren, wie man das richtig schreibt).
Ein von Ordensschwestern geführtes riesiges Haus. Die Räume tragen die Namen Europa, Asia, Africa und America. Wir sind zu neunt im Asia (11 Betten): die Frómista-Gedemütigten ohne Aki und Nora, die beiden Spanierinnen, die schon in Castrojeriz bei uns waren und die seit Roncesvalles laufen, ein weiterer Spanier und gegen Dämmerung kommt noch Töng-Chaeuk hereinspaziert reichlich erschöpft, da er die 40 km an der Lamdstraße nach Burgos auch gelaufen ist, die ich im warmen Bus absolviert habe. Heute hat er 35 km in den Beimen. In Burgos hat er Laura getroffen, die nun aber schon per Bus in Leon sein dürfte. Thomas meldet sich ab und zu per SMS, sagt aber nicht, wo er ist. Der singende Draht auf dem Camino. Es wäre mal ineressant, zu beobachten, wer wann wo und mit wem und warum … Wir sind einander näher, als wir glauben. Am Besten wäre, wenn alle Pilger bloggen würden (danke, Alice). Oder ein elektronischer Pilgerstempel.
Mit im Zimmer ist noch ein Berberpärchen. Sie haben das einzige Doppelbett zwischen den beiden Fenstern direkt unterm Jesuskreuz. Im Raum America befindet sich ein uralter Internetcomputer und eine Microwelle, Spüle und Wäschespinne. Bibel auf dem Tisch. Die beiden Berber haben sich dort häuslich eingerichtet und als sie glückselig vor dem Computer sitzen und einen ruckelnden Disneyfilm schauen, der in einem mondänen Märchenschloss spielt, bringt mich das fast aus der Fassung. Diese filmreife Gegensätzlichkeit. Mit meinen Gefühlen ringend lese ich in der aufgeschlagenen Bibel: Mateo 20 ‚Trabajaderos del Viñes‘ oder so ähnlich und Mateo 21 irgendas mit Jerusalem. Von allen wahren Begebenheiten dieser Erde sind es die Nöte der Anderen, die ich am allerwenigsten wahr haben möchte. Trotzdem scheinen die beiden alten Leutchen glücklich wenigstens für diesen einen Abend. Ich hoffe, sie müssen nicht nach Frómista.
Unterwegs vertiefte ich mich heute genau wie gestern in eines der Nordpfalztäler, in denen ich meine Kindheit verbracht habe. Mütze in die Augen, Reduktion der grausamen weißen Weite auf einen Quadratmeter Sichtfeld, Alsenztal installieren umd los gehts bei der Quelle in Alsenborn. Enkenbach, Langmeil, dann besagte Brauereistadt Winnweiler, Mütze hochschieben, Rucksack runter und mit dem halben Liter Rotwein von Gestern ordentlich Brauereibesichtigung spielen. Man sollte trotz aller Träumerei nicht den Bezug zur Realität verlieren. Mütze zuziehen, Schweißweiler, Imsweiler, Rockenhausen. Dort in Form einer Kirche (in der hießigen kahlen Einöde) einen Abstecher ins Kahnweilermuseum,(Traumwelt) weiter weiter weiter. Irgendwo kommt mir ein Mann mit schwerem Rucksack entgegen, Michel aus Belgien, angeblich auf Rückpilgerschaft nach Hause. In Santiago habe man ihn beraubt, behauptet er und er habe nur noch 14 Cent. Der Mann friert, ist nass, muss draußen schlafen. Sein Handgelenk ist tätowiert, am Daumen trägt er einen Silberring, die Zähne sind gelbe, krumme Etwase. Ich glaube ihm kein Wort. Spätestens seit ich 1992 den Berberdjango in Nierstein am Rhein kennengelernt habe, weiß ich aber wie wichtig die ‚Lügengeschichten‘ für die Berber sind. Es sind ihre Schutzpanzer, ihre Einfamilienhäuser, ihre goldglänzenden Disneyschlösser. Sie haben nichts, als Worte, um sich den multiplen Gefahren einer gemeinen Welt zu stellen. Ich suche im Geldbeutel nach ein paar Münzen, finde keine, greife den kleinsten Schein, den ich habe, einen Zehner. Ist zwar auch für mich viel Geld, aber wenn ich bedenke, wieviel ich täglich verblogge oder wieviel Sofasophia allabendlich mit mir vertelefoniert, dann ist das nichts.
Nun schlafen alle hier im Raum. Schnaufkonzert. Ich wage mich kaum hinuulegen, weil ich dann husten muss und alle wecken könnte. Auch Japanerin Masaki (so ist der Name glaub ich richtig) ist erkältet. Zusammen mit Töng (Chaeuk) entern wir eine Farmacia, eine Apotheke, und radebrechen Englisch, Brachialspanisch unsere Gebrechen. Masaki hat kurzerhand das Medikament, das sie braucht, aufs Handy fotografiert. Ich simuliere einen Hustenanfall, um mein Gebrechen zu erklären und Chaeuk redet mit Händen und Füßen. Ach was sind wir doch für herrliche kleine Hobbyspanier.
Wie ich die Profile der nächsten vier Tage deute, erwartet mich weiterhon flaches, das Gemüt eines Nordpfälzer Talkindes zermürbendes Flachland. Morgen gedenke ich, das Moschelbachtal zu simulieren. Langsam gehen mir die Nordpfalztäler aus.
Wenn der Hurliburli ist getan
When shall we Two meet again?
In Thunder, Lightning or in Rain?
Eine Bar in Población de Campos. Popmusik. In der Nacht hat es acht cm geschneit. Trockener, eiskalter, stahlblauer Morgen. Als ich die A67 überquere und schnurstracks an der P980 entlang laufe Richtung Westen, bin ich heilfroh, das verwirkte Frómista zu verlassen. Elender Knast. Vom Hostalero der Albergue Municipal bis zur Stadtgrenze gejagt. Eine ungünstige Konstellation von Kulissen lässt das ansich schöne, weitläufige und saubere Frómista mit seinen beiden Kirchen ziemlich schlecht dastehen. Am Abend nehme ich in der Pension Marisa unweit der Pilgerherberge ein widerwärtiges Abendesssen für 9 €: gebrochenes, Baguette vom Vortag an per Mircrowelle erwärmte Spaghetti, die die Besitzerin vom Mittagstisch übrig gelassen hat; zur Hauptspeise überfahrenes, frittiertes, ungewürztes Huhn, behauptet man. Als Nachspeise siegt meine Vernunft und ich wähle, meinem Darm zu liebe die verschrumpelte vier Wochen alte Naranja zum Selberschälen, anstatt das Eis.
Die Nacht zu sechst mit Nicholas aus Paris, Misaki, Martina, Aki und Nora. Der Raum kühlt auf unter 10 Grad ab. Nora und Aki klauben alle Wolldecken zusammen, um zu überleben, verlassen 5 Uhr früh das Eisloch. Um 8:11 erwachen wir anderen leider viel zu spät. Der Hostalero legt einen geradezu militärischen Drill an den Tag, uns aus den Federn zu treiben: Andale, andale, andale – arriba! Speedy Gonzales meets Ausbilder bei den US Marines. Schon sehe ich uns im Stechschritt im Innenhof der Albergue exerzieren: „San tia go ist ein fei ner Mann – ich die ne ihm so guut ich kann!“
Der Hostalero zerrt uns vom Klo, reißt Misaki beinahe die Zahbürste aus dem Mund – fehlen nur noch die Fußtritte für den noch immer schlafenden Pykniker Nicholas.
Aus purer Bosheit lasse ich beim Gehen alle Katzen ins Haus.
Später außerhalb der Stadt denke ich, ob wohl gerade eine schlimme Rückkopplung in der Albergue stattfindet. Von Tag zu Tag spitzt sich die Lage mehr zu und auf eine Reaktion von Seiten des Hostaleros folgt eine Reaktion von Seiten der Pilger. Die Resonanzkatastrophe steht unmittelbar bevor in Frómista.
Meidet die Stadt!
Wann sollen wir beiden uns wiedertreffen, Frómista?
In Donner, Blitz oder im Regen?
When the Hurliburli ’s done!
Halbzeit
Die heutige Etappe auf Guuglmäp: hier klicken …
Die heutige Etappe auf fernwege.de: hier klicken …
Frómista – „Siebenbettzimmer – ähm Katzenklo …“, schrieb Irgendlink heute per SMS.
Und um neun Uhr wurden auch schon die Lichter gelöscht. So was aber auch …
by Sofasophia
Traumpfade
Albergue Municipal in Frómista. Die Mitte der Reise und die Mitte des Buchs. Mit einem Lächeln muss ich an Monty Pythons ‚Mitte des Films‘ (Sinn des Lebens?) denken.
Irgendwie lässt mich das Aki-Nora-Mysterium nicht los und ich laufe die ersten sechs Kilometer viel zu schnell, weil ich ihre Pilgergruppe einholen will. Erstmals aus dem eigenen Takt. Fast ist es wie früher in der Schule, als man alles mögliche Widersinnige getan hat, nur um irgendwie zur coolen Clicque zu gehören. Tatsächlich bilden sich morgens beim Frühstück zwei Gruppen. Ich sag noch zu Alice: „Guck, die da drüben sind die coolen Kiffertypen, die sich hinter der Turnhalle zum Rauchen treffen und wir sind die braven Streber, die immer schön ihre Hausaufgaben machen.“ Desillusioniert nehme ich meine Hornbrille von der Nase. Paar Stunden später treffe ich Nora, Aki, den Bologneser Hochleistungspilger Paolo und die zwei Spanierinnen in einer Bar in Itero wieder. Am Tisch kein Platz mehr frei. Trolle ich mich an den Strebertresen. Aufwärmen. Durch den Nordwestwind bin ich fast erfroren. Der Mundschenk murmelt etwas von ocho und Allemagna und zeigt mit der Daumen nach unten und macht Brrr, um mir zu sagen, dass es daheim noch viel kälter ist, als hier. Ich Glücklicher. Hier hat es gerade mal Minus drei Grad und die Sonne scheint. Als die fünf die Bar verlassen, klopft mir Nora ermunternd auf die Schulter. Hinter Itero finde ich meine eigene Geschwindigkeit wieder. Genug Zeit, über diese seltsamen Menschen nachzudenken. Und mal wieder darüber, dass all unsere Bilder, die wir uns auf dem Weg erdenken, erschreiben und ertratschen, also die Bilder von unseren Mitpilgern, doch nur ein 800 km langes Kulissenschieben ist. Jeder für sich. Nichts und niemand ist echt. Nichts hat Bestand. Der Jakobsweg ist eine riesige Ansammlung von Variablen. Und auch was ich hier festschreibe, solltet Ihr, die Ihr das lest niemals als Ratgeber für die Reise benutzen. Geht hinaus und macht Euch euer eigenes Bild. Und genießt diesen Augenblick, den ich hier schreibe als das was er ist: ein winziges Element seiner Zeit. Um die ganze Wahrheit über Nora und Aki herauszufinden, müsste ich sie nur fragen. Die Wahrheit läuft gerade mal 200 m vor mir in der garstigen kastilischen Einöde.
Wäre ich diese Strecke vor 20 Jahren gelaufen, würde ich jetzt sicher im Irrenhaus sitzen. Ich kann mit großen weiten Flächen ohne Baum und Strauch überhaupt nicht umgehen. Es macht mich geradezu panisch. Einzig die Immunisierung, die ich durch meine vielen Reisen erfahren habe, ermöglicht mir, heute diese Strecke zu laufen. Und die Gewissheit, dass ich ein Molekül im großen Pilgerstrom bin.
Kurz hinter Itero ziehe ich meine Mütze in die Augen, so dass ich nur noch zwei Meter Weg vor mir sehe. Kein Horizont, keine fernen Dörfer oder garstige Bergkuppen oder die Fünfergruppe da vorne. Nur noch der Weg, gefrorene Pfützen, faustgroße Kiesel. Im Kopf installiere ich kurzerhand das malerische Appeltal in der Nordpfalz, wo ich aufgewachsen bin. Seine sanften Hügel, die kleinen Felder, Bachauen am Fuße des Donnersbergs. So laufe ich in Gedanken von der Appelquelle in Marienthal den feinen Wanderweg vorbei am Rußmühler Hof über Gerbach, Sankt Alban (auch Delwe genannt) nach Gaugrehweiler. Mütze hochschieben, gucken, immer noch kahl, Mütze wieder runter, Kläranlage des Abwasserverbands, Oberhausen, gedanklicher Abstecher zum Grab meiner Oma, Mütze hoch, immer noch leere Weite, Mütze runter, Niederhausen, Tiefenthal. Als Orientierung auf diesem meinem Traumpfad dienen mir einzig die Fußspuren meiner Mitpilger, die sich im tauenden Weg abdrücken. Akis und Noras Wespentaillenprofil sind unverkennbar. Kilometerweit laufe ich einzig mit einem quadratmetergroßen Wegstück voller brauner Kiesel vor Augen. Ein km hinter Boadilla trifft der Camino auf den Canal de Castilla. Ein tiefgrünes Gewässer, das durch den Wind aufgewellt wird. Bis Frómista etwa drei vier Kilometer, wo der etwa acht Meter breite Bewässerungskanal über vier Stufen in die Tiefe stürzt. Etwa sechs Meter tiefer verläuft das Gewässer ab Fromista weiter bis Valladolid.
Nun sitze ich hier in der eiskalten Herberge. Der winzige Radiator ist nicht in der Lage, das 12qm Zimmer aufzuheizen. Wir sind zu sechst: Martina, Aki, Nora, Misaki (ich hab riesen Probleme, mir fernöstliche Namen zu merken) und Neuzugang Nicholas, der seit drei Monaten von Paris aus unterwegs ist.
Morgen werde ich das Alsenztal in meinem Kopf installieren. Ich muss nur aufpassen, dass ich nicht in der Bischhoff-Brauerei in Winnweiler hängen bleibe.