The Schnarchtweets

Ich denke über das Twitterformat nach. Darstellung einer Reise in Form von hunderten von Textbausteinen. Das Experiment wärs wert. Ob das Format womöglich egal ist? Und die einzigen Voraussetzungen sind, dass man sich schreiberisch ausdrücken kann, struktiriert arbeitet und etwas zu erzählen hat?

Vorhin hätte ich folgendes getwittert:

„Eben auf Klo. Aus dem Zimmer vom dicken Neupilger abscheuliches Geröchel. Gut dass er in Einzelhaft.“
Gestern Nacht:
„Der alte Berber schnarcht wie ein Truppenübungsplatz.“
Vor einigen Tagen:
„Nora:’Oh my Goodness! She is (engl. schnarchen) like a Ghost‘ (über Martina)“
Und:
„Elender Blogschmierfink! Verpetzt uns alle beim Schmarchen :-)“
Sowie:
„Die (Schnarch)Reise nach Jerusalem: immer wenn das Schnarchen aufhört, müssen wir die Betten wechseln. Wir können also liegembleiben bis zum St. Nimmerleinstag“
Oder:
„VerJamesBondung des Schnarchens: ‚Lizenz zum Schnarchen'“

Ausbreitversuch der Seele

Für den Betonwissenschaftler ist der Ausbreitversuch ein gutes Mittel, um die Güte von Frischbeton zu testen. Man benötigt dafür eine genormte Menge frisch gemischten Betons, der auf ein Rüttelbrett gestoßen wird wie etwa ein Pudding, den man aus der Form kippt. Dann wird das Brett, auf dem der nasse Beton zu liegen kommt, in einer ebenfalls genormten Weise gerüttelt. Verteilt sich der Beton zu stark, ist er zu nass, bleibt er in seiner Form, ist er zu trocken. Der Betonwissenschaftler erhält mit dieser Methode ein gutes Werkzeug, um Schäden am Betonbauteil, etwa einem Brückenpfeiler zu vermeiden.
Der Ausbreitversuch für Beton lässt sich eins zu eins auf die menschliche Psyche übertragen.
Ich glaube, dass jeder Teil des Jakobswegs für den Pilger einen ganz bestimmten Sinn hat und dass die Streckenführung eine ausgeklügelte, ja genormte Methode ist, den Bußfertigen seinem Ziel der Erkenntnis näher zu bringen. Kein Reiseveranstalter würde eine Outdoor-Wanderstrecke tagelang durch die Mesieta führen, die dem zahlenden, abenteuerlustigen Kunden nichts als Langeweile und Verdruss bietet.
Wir Pilger sind aber keine Abenteuertouristen und unsere Reise führt auch nicht unbedingt durch die echte Welt. Somit ist der Weg nur eine ausgeklügelte Hilfskonstruktion, um die Konsistenz unserer Seelen zu testen. Wir sind wie Frischbeton auf einer Rüttelplatte.
„Pensar“ leite ich das Wort für ‚denken‘ vom französischen ‚penser‘ ab und treffe offenbar voll ins Schwarze, denn Rose lacht und gibt mir zu verstehen, ja genau deswegen sei sie auf dem Weg. Mit Händen und Füßen und Satzfetzen verständigen klappt gut. So laufen wir in Terradillo ein. Das Dorf liegt scheinbar mitten im Nichts. In der Pilgerherberge, die es schon seit über 20 Jahren gibt, hängt ein Luftbild, das im Frühling gemacht ist. Es zeigt eine ganz andere Atmosphäre, als wir sie erleben. Ein riesiger grauer Hund, der mir bis untrr den Rucksack reicht, begleitet uns bis zur Herberge. Er ist etwas aufdringlich und nimmt alles ins Maul, was nur geht; meine Hand zum Beispiel, die Trinkflasche eines wuchtigen spanischen Neupilgers, der erst gestern zu uns gestoßen ist, Rosas Wanderstöcke. Als wir den Hof der Herberge betreten, fliehen alle Katzen auf den höchsten Baum.
Die Herberge besteht aus mehreren Häusern, einem Restaurant, einem winzigen Lebensmittelladen und dem dem beheizten (!) Herbergsgebäude. Sieben Euro, Fünferzimmer, keine Etagenbetten, sauber.
Nach solchen Tagen, an denen sich die Seelen der Pilger über der Mesieta ausgebreitet haben, Erholung pur.
Ich habe nun aufgehört, die Tage zu zählen, die es dauert, bis wir in eine abwechslungsreichere Gegend kommen. Auch habe ich auf der letzten Etappe vergessen, das Moschelbachtal zu installieren zu eigenartig war die Nebeletappe. Sie hat jegliche Art Gegend weggezaubert. Eigentlich bräuchte ich überhaupt keine Gegenden. Ich könnte frohen Mutes durchs Nichts laufen. Geliebte Sofasophia hat mich mal gefragt, wie ich mich wohl verändere auf dieser Reise und als was oder wer ich zurückkehre.
Ich verändere mich nicht. Ich werde nur stärker.

Der ‚weibliche‘ Jakobsweg

Was für eine Etappe heute! Zunächst 17 km schnurgeradeaus. Zwischen Carrion und Calzadilla am Rio Cueza ist nichts. Und mit nichts meine ich NICHTs. Der Nebel hängt wie eine weiße Glocke über dem Land und das Summen der A231 im Norden wir mit jedem Kilometer, den man läuft leiser. Der Camino schert auf einer Schotterpiste in flachem Winkel südwestlich aus. Sichtweite höchstens 100 Meter, geschlossene Schneedecke. Zwei Rastplätze mit Sitzbänken auf den 17 km. Unterwegs rede ich mit mir selbst: „Also was sich so manche Dichter früher erlaubt haben, ’seltsam im Nebel zu wandeln, einsam steht jeder Baum und Strauch'“ äffe ich nach. „Völlig an der Realität vorbei! Wo leben die denn? Hier gibt es keinen Baum und Strauch! Hier gibts nur Weiß und Weg.“ Und andere Pilger. Zum Glück. Immer wieder begegne ich Misaki (so ist der Name wohl richtig :-)) und den beiden Spanierinnen Rose aus Barcelona und Rosa aus Alicante. Sowie Angelo, einem 54-jährigen Brummbär, der einen kontinuierlichen aber langsamen Schritt hat. Ohne Mitpilger würde ich die nebulöse Hölle auch nicht überstehen. Auf halber Strecke steht schließlich doch ein großer Baum links des Wegs mit einer wuchtigen, ovalen Krone. Ich fotografiere ihn, Als ich später das iPhone durchsuche nach dem Bild, ist es verschwunden. Alle fotografieren diesen Baum im 17 km langen Nichts. Nach zwei Dritteln der Strecke steigt der Weg etwa 60 m lang an und überwindet vielleicht 5-6 Höhenmeter. Irgendwo steht auf eine Querstraße gekritzelt: nächste Bar 9 km.
Dort trudeln alle PilgerInnen zwischen 12 und 13 Uhr ein. Man munkelt, der Besitzer stellt jeden Tag seine Uhr auf 12:27, wenn der erste Pilger aus Carrion eintrifft. Das sei genauer, als eine Atomuhr.
Lange laufe ich mit den beiden Rosen, radebreche Spanisch mit Rosa und parliere Englisch mit der Touristenführerin Rose. Frauen pilgern ganz anders, als Männer. Das fängt schon bei der Vorbereitung an. Frauen gehen in einen Trekkingladen und sagen frank und frei, ich will den Camino laufen, verkaufe mir eine sinnvolle Ausrüstung. Männer, also ich, drucksen in dem Laden herum, wofür sie die Ausrüstung brauchen: Tagestouren im Pfälzer Wald lügen sie, damit bloß niemand erfährt, an welch großem Expeditionsprojekt sie womöglich scheitern. Genauso ist es mit der Wegsuche. Frauen fragen nach dem Weg und Männer laufen erst fünf mal durchs ganze Dorf, um auf eigene Faust das zu finden, was sie suchen. Bloß keine Blöße. Männliche Pilger überholen andere männliche Pilger im ewigen Camino-Revierkampf und geben nur einen kurzen, gepressten Gruß. Hola. Frauen drehen sich viel öfter um, schauen, ob es den Mitpilgerinnen auch gut geht, tragen füreinander Sorge.
Mit Rosa übe ich mich einige Kilometer weit im Spurenlesen. Es gelingt uns mit vereinten Kräften sämtliche Stiefelabdrücke im Schnee zuzuordnen. Herrliche Hobbyindianer sind wir. Ich mache Fotos von allen Abdrücken und spreche aufs Band, welcher von wem ist. Noras umd Akis Wespentaillenprofil ist nicht dabei.
Nachmittags lichtet sich der Nebel. In der Herberge in Terradilla sind wir zu neunt auf drei Zimmer verteilt. Die Rosen, Misaki und Martina in einem Frauenzimmer, Töng, Nicholas und Angel (sprich Anchel) sind bei mir. Nun erinnere ich mich aich, woher ich Angel kenne: er war einer der beiden Spanier, die in dem verwanzten Raum in Zariguiegui übernachtet haben. Nicht der Widerwart mit dem Zahnstocher. Angel ist verheiratet und läuft den Camino zum zweiten Mal. Ich mag es, wie er mich liebevoll Jorge (sprich Horche) nennt. Vielleicht sind Pilgerinnen und Pilger gar nicht so verschieden.

Der ‚männliche‘ Jakobsweg

Im Restaurant gestern Abend fällt mir siedend heiß ein, dass die D300 unbewacht im Rucksack liegt. Mein Kreuz. Ich habe es einfach liegen lassen. Aber nun, da ich daran denke, wiegt es mir umso schwerer. Solch eine Situation hätte mir vor dem Weg eine regelrechte Panikatacke versetzt und ich wäre sofort aufgestanden, um den wertvollen Gegenstand zu sichern. Ich bleibe aber sitzen fast entspannt Der seltsame Nicholas sitzt mir gegenüber und starrt mich wortlos an. Mit am Tisch Chaeuk und Masaki. Ein bunter Pilgerhaufen. Im Restaurant surrt der Kühlschrank. Wir reden englisch. Zäh fließt das Gespräch fast wie unser geinsamer Weg. Jeder muss sein Kreuz tragen, denke ich. Und es ist fast immer nur ein Kopfproblem. Mein Kreuz ist leichter geworden. Eine grobe Einschätzung der Lage ergibt, dass die Kamera in der Herberge fast 100% sicher ist. So esse ich beruhigt.
Auch Thomas Kreuz, sein Hund und wie die beiden unterkommen, ist vermutlich leichter geworden. Die Erfahrung der letzten Tage wird ihm gezeigt haben: es geht immer irgendwie weiter. Und spätestens das Beispiel von Albergue-Volontär Christobal zeigt, dass man sogar mit vier Hunden nach Santiago pilgern kann.
Wir alle werden schmeller. Wir sollten das Ziel nicht herbei denken. Vor einigen Tagen belausche ich Nora und Aki, wie sie über die Tagesetappen reden. Man kann sich der schrumpfenden Entfernung nach Santiago eigentlich gar nicht entziehen. Mindestens ein Mal am Tag steht am Wegrand ein Schild, wie weit es noch ist. Ohne es zu merken beschleunigt man seinen Schritt, zählt die Tage, rechnet Durchschnittsgeschwindigkeiten aus, überlegt Doppeletappen zu laufen. Das ist völlig unproduktiv, läuft der inneren Ruhe und dem Einswerden mit dem Weg gegen. Ein Phänomen der Leistungsgesellschaft? Frauen scheinen damit viel weniger Probleme zu haben. Martina und Masaki laufen einfach ihren Takt. Sie haben aber auch kein Datum, an dem ihr Flieger fliegt. Man sagt, wahre Pilger pilgern sowieso die gesamte Strecke zurück. Nicholas will den Küstenweg zurück laufen.
Was mich erstaunt, ist dass Töng-Chaeuk offenbar in den Ankommensstrudel geraten ist. Erst diese widersinnigen 40 km an der Landstraße, als ihn die LKW beinahe streiften – er muss am rechten Straßenrand gelaufen sein, denn als er mir gestern beim Abendessen davon erzählt, macht er eine Handbewegung, dass ihn der Luftdruck links traf. Deshalb habe ich ihn aus dem Busfenster auch nicht mehr gesehen.
Ich habe alle Mühe, nicht ans Vorankommen zu denken. Den Willen, das Ziel möglichst schmell zu erreichen zu ignorieren. Seit gestern ist mein Rückflug gebucht für den 22. Dezember. Läuft alles nach Plan und ich laufe die sinnvoll strukturierten Etappen auf dem Plan aus St. Jean, komme ich am 20. an. Jetzt bloß nicht rennen.