Brotjagd in Vernet-les-Bains oder willkommen im Ferienalltag

Diese Ferien, bei denen man auf’s Geratewohl ein Häuschen mietet, laufen immer ähnlich ab. Fast schon möchte ich von Ferienalltag reden. Spätabends Ankunft und das Domizil einrichten. Am ersten Tag dann Erkundung der Umgebung zu Fuß. So laufe ich gestern rüber ins Dorf, ganz Mann, ganz Jäger, um Baguette zu kaufen und ein paar Croissants, während SoSo die warme Bude gemütlich macht. Ein Katzensprung in die Steinzeit der modernen Reisegewohnheiten. Unser Appartementhaus besteht aus vielleicht sechzig winzigen Buden in einem dreigegliederten Bau, A, B und C. Außer dem unseren sind nur zwei drei weitere Appartements bewohnt, was auch gut ist. Das Haus ist ein hellhöriges Betongerippe, das zu einer Zeit gebaut wurde, als der schwimmende Estrich wohl noch nicht erfunden war. Jedes Stuhlrücken hört man. Ich fabuliere für meinen bauesoterischen Roman solch ein Haus, dessen Bewohnerzahl sich anhand des Lärmpegels selbst reguliert.
Die Brotjagd führt mich in den alten Ortskern jenseits des Flusses, der wie ein Ameisenhügel aussieht. Vernet ist ein verwinkeltes Etwas mit winzigen Gassen und Treppen. Ich steige dem Brotduft folgend empor Richtung Kirche, verliere die Witterung wieder, irre umher zwischen Hinterhöfen und unter diesen typisch französischen außenliegenden Verkabelungen, die so charmant improvisiert wirken und einfach ein Muss sind für ein authentisches Frankreichbild. Von oben erinnert mich das Dächermeer an ein zu klein geratenes Salzburg. Allein, es fehlen die Pferdedroschken und die lebenden Mozartstatuen. Das Dorf ist Erster-Weihnachtstag-still. Eine Frau mit Hund ist die Einzige, der ich begegne. Aus ihrer Tasche tropft Wasser. Wie ein Auto mit leckem Kühler keucht sie die Gasse hinauf. Als ich sie darauf aufmerksam mache, sagt sie, das muss so, c’est ça. Und sie zeigt auf den Hund, der hinter ihr her trottet. Die Bäckerei sei da unten, à gauche, à droite, wieder nach links und dann tout droite, immer geradeaus. Tatsächlich tut sich ein kleines Ortszentrum auf mit Bäckerei, Metzgerei, Tabak- und Zeitungsladen ty-pisch fran-zö-sisch, denke ich. Mir geht das Herz auf. Die Sonne, die Stille, die fremde Welt und der riesige Mont Canigou direkt hinter der Häusersilhouette, dieses Sontagsgefühl mitten in der Woche. Wie in die Seele katapultiertes Glück. Ich kaufe Baguette, knipse hie und da ein paar Straßenszenen. Die große Platane auf dem Marktplatz ‚frisst‘ nach und nach das Emailleschild mit den Marktöffnungszeiten, das man ihr vor vielen Jahren angenagelt hat. Zwei Gebirgsbäche schießen durch Vernet-les-Bains. Ich weiß nicht, wie sie heißen. Befestigte, fast schnurgerade Rinnen von etwa zehn Metern Breite, alle fünfzig Meter abgetreppt. Man ahnt, dass hier zu Schlechtwetterzeiten immense Kräfte wirken. Es gibt ein Casino und ein Thermalbad. Auf dem Rückweg in die neueren Dorfgebiete fühle ich mich eigenartig an das einst so florierende Kurstädtchen Bad Münster am Stein in der Nordpfalz/fast schon Rheinhessen erinnert. Ein leerstehendes Gebäude, vor dem ein Schild ‚Residenz‘ steht wirkt abrissbereit. Vernagelte Fenster im Parterre. Die Zeichen stehen, genau wie in Bad Münster auf Schrumpfen, auf Zerfall, Rückbau und Abriss. Was muss ich davon halten? Ich müsste recherchieren. Leute fragen, das Internet. Die Infotafeln, die über die Vergangenheit Auskunft geben übersetzen. Wovon lebt(e) man in Vernet? Aufstieg, Fall, Erneuerung … Recherche auf Livereisen ist ein ganz eigenes Thema. Man ist als erlebender Betrachter abgeschnitten von Information, obwohl man sich doch mittendrin befindet in der eigenen, sich selbst schreibenden Geschichte.
Auch Heiko Moorlander scheint übrigens in der Gegend sein Unwesen zu treiben
Frau SoSo bloggt auch, sozusagen im Duett.
Und zuguterletzt noch eine Bildcollage, gestern getweetet

Straße, je t’aime

Dann doch wegfahren. Obwohl kaum Geld auf dem Konto. Ein Angebot auf Francevoyage.com lockte mit einem Appartement für 170 € die Woche. Ganz unten in den Pyrenäen. Nur fünfzig Kilometer vom Meer. Nix wie gebucht. Die anfallenden Fahrtkosten und Autobahngebühren liegen zum Glück noch im Blinden Fleck.
Dienstags abends die 300 km Fahrt zur SoSo in die Schweiz sind schon speziell. Vorbei an den Vogesen, dunkle Silhouette vor Sonnenuntergang, aggreable Fahrt, wenig Verkehr. Müde und angeschlagen bin ich – morgens gab es noch eine Hörsturzdiagnose inklusive hochdosierter Kortisoninfusion – was eine Art Trotzreaktion auslöste, jetzt erst Recht. Raus aus dem alljährlichen Weihnachtstrubel. Wie auch immer hat uns am acht Uhr frühen Heiligen Abend 2014 die Straße wieder. SoSo kutschiert uns durch die morgenfrostige Schweiz vorbei an der Aargauer Industrie, Gewerbeparks, Glasfassaden, dampfende Schornsteine vor Jurafels. Hinüber ins Seeland, Solothurn und Biel-Bienne zur Rechten, Bern zur Linken. Lange Schatten von einzelstehenden Bäumen auf grün-raureifiger Wiese, garniert mit zwei Reitern. Hundegassigänger. Vom Beifahrersitz versuche ich die Szenen fotografisch einzufangen. Vergeblich. Die Leitplanke stört. Andere Autos und LKWs, die wir oder die uns überholen stören. Immer schiebt sich ein Hauch Geschwindigkeit ins ansich ruhige Bild. Man müsste anhalten können. Autofahren, selbst nur als Beifahrer, und Fotografieren geht nicht. Schon lange denke ich darüber nach, welche Kunstform mit welcher Art, sich fortzubewegen gut harmoniert. Fotografieren und Radfahren oder Wandern hat sich bewährt. Überhaupt könnte der Grundsatz gelten, je langsamer, desto Kunst. Dass es auch etwas gibt, was mit dem Autofahren harmoniert, sollte ich am gestrigen Heiligen Abend erkennen. Längst sind wir in Frankreich. Rauschen auf Grenoble zu. An LED Infotafeln über der Fahrbahn blendet die Mautgesellschaft Vinci immer wieder Botschaften ein. Fröhliche Weihnachten. Achtung Baustelle.
Straße, je t’aime, denke ich plötzlich. Ich liebe dieses von Menschen geschaffene Monstrum, das sich durch Tunnel und über Brücken kreuz und quer durch die Lande zieht.
Pollution. Reduisez votre vitesse, wird uns in der Nähe von Valence auf den Tafeln mitgeteilt. Schon sind wir im Rhône-Tal. L’Autoroute du soleil. Aber mit Sonne hat dieser eigentlich sonnige Tag nichts zu tun.
Der Himmel ist gelb. Die Horizontlinie wirkt schmutzig. Die Sonne ist ein schmieriger Ball, der in einer Kloake zu schwimmen scheint. Die Luft ist verpestet. Pollution! Jetzt wissen wir, was die Vinci Botschaften auf den Tafeln bedeuten: Luftverschmutzung, langsam fahren.
Der fünfte Apokalyptische Reiter, das sind wir. Wir Menschen. Der fünfte Apokalyptische Reiter ist ein zieseliges, schizophrenes Kollektiv egoistischer, voranstrebender Individuen. Unaufhaltsam schiebt sich einjeder von uns durch seine Welt in seine ihm wohlgefällige Richtung und trägt damit zur natürlichsten Form der Apokalypse bei, phantasiere ich. Das wäre mal ein Blogartikel wert. Dass es die biblische Form der Apokalypse zwar nie geben wird, dass die Wesen aber sehr wohl und ohne es zu ahnen, ihre eigene Apokalypse kredenzen. Von innen heraus, wuchernd wie Krebs.
Auf dem Beifahrersitz twittere ich, während SoSo das TomTom zum Jaulen bringt. Immer wenn sie die zulässige Geschwindigkeit überschreitet, bimmelt das Ding. Vorbei an Montélimar. Atomkraftwerk. Hundert Meter hohe Dampfsäule über Kühlturm in giftgelbem Himmel neben einem schrägen Ausläufer des Zentralmassivs, dessen Abhang so gerade verläuft, als wäre er von deutschen Ingenieuren konstruiert. Das Kernkraftwerk von Pierrelatte, dessen Kühltürme mit spielenden Babys bemalt waren. Ich vergesse, zu schauen, ob die Gemälde noch immer darauf sind. Vorbei an Montpellier. Eine französische dreispurige Autobahn vermittelt einem irgendwie das Gefühl galanten Miteinanders. Kein Gemetzel wie in Deutschland manchmal, wo man mit 250 km schnellen Geschossen rechnen muss, die von Hinten wie aus dem Nichts auf einen zurasen.
Die Fahrtrichtung führt uns immer genau Richtung Sonne. Zunächst nach Süden und ab Bezier/Perpignan dann nach Westen. Die Helden reiten in den Sonnenuntergang. Wir beiden millionstel apokalypischer Reiter, wir.
Gegen 19 Uhr erreichen wir unser Domizil in Vernet-les-Bains. Die Hausverwalter sagen, wir sind 750 Meter hoch. Das hatte ich nicht bedacht. Dennoch. Der Winter ist noch nicht gekommen. Tagsüber 12 bis 15 Grad. Nachts leichter Frost. Das Studio ist ein gemütlicher Raum in einem Appartementhaus, Balkon nach Osten. Die Sonne sollte bald hinter den Bergen hervor kommen.
Die Luft wirkt sauber.
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