Das Kunststraßenkonzept hat eine ganz eigene Botschaft. Entwickelt in einer Zeit, in der der Protagonist, moi-même, sich mal eben ins Auto zu setzen pflegte und rüberzujagen nach Paris, Eifelturm anstarren, Louvre, Montmartre, pi pa po, setzt es diesem Wahn, die Welt aus Besonderen bestehen lassen zu wollen, dem man hinterherhechelt wie ein Hund, einen puristischen Kontrapunkt. Das Kunststraßenkonzept lässt schlicht den Weg hochleben, der meist lästig, am besten per Zug durchjagt oder überflogen zum Stiefkind des zeitgenössischen Reisens wird.
Wir rennen, rennen, rennen, in unseren Hochleistungsjobs genauso, wie in den Leistungsferien. Schließlich wollen wir nach der Reise ja etwas vorzuweisen haben. Eine Eins für den Eifelturm, den Schiefen Turm von Pisa, die Freiheitsstatue, Pyramiden, Nilkreuzfahrt und ein Bad in den heißen Bächen von Landmannalauga. Dass zwischen all den zu absolvierenden Abschlussprüfungen des modernen Tourismus auch der Weg liegt, nicht unerheblich in einem Verbindediepunkte-Spiel, ist eher lästig.
Die scheinbar wahllose Fotografie alle zehn Kilometer in Reiserichtung, die den Kunststraßen ihre Struktur gibt, will diesem Leistungsreisewahn entgegen wirken. Natürlich nehme ich in die Fotoserien auch das Schöne, das Sehenswerte und das Besondere auf, aber ohne die Mühsal des Weges, würde eine solche Serie verkommen zu einem lieblosen Gemenge an Besonderem, wie es unästhetisch in jedem Familienalbum zu finden ist.
Zehn Minuten nach dem Aufbruch überholt mich kurz vor Riedlingen ein französisches Paar aus Dijon. Er zieht einen Anhänger, auf dem ein kleiner Mischlingshund sitzt. Wir schwätzen ein paar Kilometer weit durch flaches Wiesen- und Getreideland. Sie sind seit dreizehnten Juli unterwegs auf dem Weg nach Griechenland. Ein Jahr haben sie Zeit. Eine Auszeit mitten im Leben? So weit kommt es nicht, die Frage zu stellen. Bei Kilometer 480 mache ich die Streckenfotos, wir wünschen einander Bonne Route, sehen uns vielleicht wieder, schließlich schwimmen wir im gleichen Strom.
Riedlingen querab. Kleines Städtchen, Kirche dominant, Fachwerkhäuser. Da müsstste eigentlich einen Abstecher machen. Riedlingen ist so eine Art Eifelturm, wie sicher auch Mengen, wie auch das Schwarzwald-Freilichtmuseum im Kinzigtal, welches ich bei erbarmungsloser Mittagshitze einem Schläfchen unter einer alten Linde geopfert habe. Wie viel Besonderes habe ich links liegen lassen auf dieser Reise? Wie viel archivierenswertes ‚Material‘? Kann ich das verantworten, all die vielbeachteten Dinge, die die Menschheit und das Alltagsleben ausmachen, einfach meiner Unlust zu opfern?
Oder ist das Archivierungsziel meiner Reise nicht einfach die Reise selbst mit all ihren Serendipitäten? Eine zufällige Anordnung von Ereignissen, Bildern und Gedanken im Jahr 2013 unserer Zeitrechnung, im Jahr 12.000 nach der letzten Eiszeit.
Vierkommavier Kilometer hinter Riedlingen liegt das kleine Daugendorf auf einem Hügel abseits des Donauradwegs. Ich frage mich zum ‚Lädle‘ durch, wo mich die freundliche Besitzerin mit Frühstücksutensilien versorgt. Inklusive Kaffee. Einen Hocker stellt sie mir in den Schatten vor dem Schaufenster. Leise plätschert das Dorfleben. Omis mit Enkeln auf dem Weg zum Spielplatz. Nie käme ein Mensch auf die Idee, mit dem ICE eine Reise nach Daugendorf zu buchen. Hier gibt es nichts, außer Alltag. Ähem. Gerade belausche ich die dreiköpfige Familie, die zehn Meter rechts von mir im Schatten einer Scheune sitzt: mit dem Flieger sind sie dreizehntausend Kilometer bis hierher geflogen, um eine Brieffreundin zu besuchen. Warum spreched (richtig, spreched) sie so gut deutsch, fragt eine Passantin. Wir kommen aus einer deutschen Kolonie.
Morgen wollen sie weiter. Nach Bochum.
Nachtrag: ein paar Kilometer weiter steht am Radweg ein Schild mit der Aufschrift Dorfbrunnen, schlicht und unauffällig. Ich folge und lande am munter plätschernden Dorfbrunnen von Bechingen. Sonst scheint es hier nichts zu geben. Zumindest nichts, was sich eifelturmesque aufdrängt. Ich nässe T-Shirt und Kopftuch, um mich auf den alltäglichen Mr. Wet T-Shirt Contest vorzubereiten. Im Ohr eine hymnenähnliche Melodie des großartigen Animal Collective.
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