Zweibrücken-Andorra iDogma-Postkarten

Ein altes römisches Stadttor in Straßenflucht. Daneben modernere französische Stadthäuser, Autos, Mülltonnen. Zwei Bilder auf Fimstreifen mit schwarzem Hintergrund montiert. Links die schwarz-weiß-Version, rechts bunt zehn Jahre später aufgenommen. Titel Zweibrücken-Andorra 2000-2010 km 498.

Ich muss aufpassen. Seit einer Woche wie rausgekugelt aus dem Passfälscher-Projekt, das mir so wichtig ist. Das fuchst mich. Zu viel organisatorisches Beiwerk. Zu sehr mich um Geld kümmern müssen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass dieses sich ums Materielle kümmern müssen einen völlig aus der Bahn wirft. Es ist vergleichbar damit, dass man arbeitet, um ein Auto zu finanzieren, mit dem man zur Arbeit fahren kann. Dass man schnell genug sein muss, um schneller als andere zu sein und als erster die Futterstelle zu erreichen. Dann kommt das unbändige Bedürfnis, zu versagen. Sich zu versagen.

Wenn etwa der Online-Shop nicht auch eine Art Werksverzeichnis wäre, hätte ich die aufwändige, stets im Fluss seiende Software längst eingestampft. Immerhin wurde ein Projekt mit unikaten Postkarten heute Morgen fertig, die Zweibrücken-Andorra-Zeitsprünge.

https://shop.irgendlink.de/produkt-kategorie/postkarten/zweibruecken-andorra/

Nachtrag 7. Dezember 2020: das Projekt ist schon beendet. Die Karten gibt es nicht mehr zu kaufen. Sechs Einzelnmotive wurden versendet. Die Serie insgesamt hatte ich an mich selbst beauftragt, so dass mir für Archivierungszwecke erstmals ein astreiner iDogma-Postkartensatz vorliegt. Faszinierend schöne Karten mit Stempel und Macken. Zudem ist dieses etwa vierte größere Mailart-Projekt wie aus einem Guss.

Insgesamt wurden seit 2015 folgende iDogma-Projekte verwirklicht: AnsKap (mit 169 verschickten Karten das größte und vielfältigste), Gibrantiago, sowie zwei drei kleinere Projekte, die ich noch recherchieren und dokumentieren muss.

Ich nenne es iDogma, weil alle Schritte, die zum fertigen Produkt führen auf einem iPhone oder Smartphone ausgeführt werden. Es ist eine Art ‚Reverse Mailart‘, im Gegensatz zur klassichen Mailart also nicht ein Empfänger und viele Absender, sondern ein Absender (der reisende Künstler) und viele Empfänger (seine virtuell Mitreisenden).

 

 

Eine Drecktassenlänge etwas wissen, das man sofort aufschreiben müsste

Überall Geschirr. Als würde es nachts unterm Türspalt hindurch wandern bis in die Wohnung. Sich ähnlich wie beim Schach aus seiner Rochade neben dem Spülbecken lösen; es würde kreuz und quer nach den jeweiligen Möglichkeiten der jeweiligen ‚Geschirrfigur‘ durch die Bude ziehen, springen, vorankriechen. Ein Turm von Tasse neben dem Holzofen, ein Frühstücksteller nebst Kaffeelöffel quer wie ein Springer hüpfend irgendwie neben den Raspi-Sicherungsserver gelangt, dessen LEDs nervös zucken. Halb Mittagessen, halb Suppenteller bewegt sich fragil wie die Dame ein seltsames Etwas zum Wohnzimmertisch … höchste Zeit, mal wieder die Bude aufzuräumen, alles schmutzige Geschirr zusammenzusuchen und es per Hand – ich habe ja kein solch neumodernes Zeug wie eine Spülmaschine – zu reinigen.

Und das dauert, dieses Geschirrspülen. Zuerst muss der Boiler eingeschaltet werden für Heißwasser – die Künstlerbude ist, wie man sich vielleicht denken kann, eine schlichte Bude. Wenn man eine durchschnittliche Kategorisierung anstellen würde, wie der normale Durchschnittsmensch in diesem Teil der Welt so lebt, würde man am Konzept der Künstlerbude vermutlich scheitern: schlicht, funktional, sehr komfortlos.

Ich rücke dem Geschirr bei. In der Regel dauert es etwa eine halbe Stunde, bis alles wieder sauber ist. Kein Hexenwerk also. Aber es dauert und wenn der Kopf während des Dauerns woanders ist, zum Beispiel beim Lösen kniffeliger Servertechnikprobleme oder beim Ausbaldowern eines Kunstprojekts, kann diese halbe Stunde, in der man spült zur kleinen Hölle werden. Sprichwörtlich zur Zerreißprobe. Am Schlimmsten ist es, während des Spülens einen Blogartikel zu denken, den die spülfeuchten Hände gerne schreiben würden. Einen Blogartikel mit einzigartigen Satzkonstruktionen und Worten, die man, sobald diese elende Drecktasse gespült ist, schon längst vergessen haben wird. Eine Drecktassenlänge etwas wissen, das man sofort aufschreiben müsste, um es nicht zu vergessen, ist die Hölle. Ich kann von Glück reden, dass ich in diesem Moment nicht das Geschirr spüle, sondern diesen Blogartikel hier schreibe …

Ich habe versäumt, mitzuwachsen. Das ist eine Erkenntnis, die ich schon lange habe. Um in dieser Gesellschaft bestehen zu können – mitzuhalten – muss man von Anfang an im gemeinsamen Takt mitlaufen, sich durchschnittlich schnell bewegen, ähnlich gut bezahlte Berufe einschlagen, ähnliche Gegenstände kaufen, ähnliche Versicherungen abschließen, ähnliche Hobbys ausüben, ähnliche Lebenswege gehen. Man muss sich dem Durchschnitt so ähnlich verhalten wie nur irgend möglich. Dann kommt man mit ein bisschen Glück vermutlich durch. Garantien gibt es dafür nicht. Wenn man zu langsam wird, nicht so gut kann wie andere, sonstwie Pech hat im Leben, wird man abgehängt, bleibt zurück. Begrabt mich an der Biegung des Flusses, lasst mich einfach liegen, hey, und das geschieht auch. Der breite Weg des Durchschnitts ist gesäumt von Liegengelassenen. Vermutlich gibt es viele Liegengelassene. Nicht jeder erkennt, dass er eigentlich liegt. Nicht jeder spürt, wie sehr ihm der Takt, die unsichtbare Vorgabe schadet. Und liegt. Und wähnt sich im Strom.

Ich bin ein bisschen ein Sonderfall. Ich blieb freiwillig zurück. Mehr oder weniger. Es waren nur ein paar Kleinigkeiten, die anders liefen als ähnlich und schwupp war ich auf dem sparsamer-Künstler-Lebensweg. Die Auswirkungen, die es hat, langsamer zu sein, weniger Geld zu haben, erfahre ich trotz kaum spürbarer materieller und zeitlicher Not dennoch.

Manchmal fühle ich mich wie durch den Wolf gedreht, wenn ich im Takt laufen muss, statt meine eigene Geschwindigkeit zu gehen … es war dieser Gedanke kürzlich, der mich auf das Zeittakt-Problem gebracht hatte: Die Grenzpassage in die Schweiz wird momentan wieder etwas komplizierter. Zwar kann ich vermutlich problemlos mit dem Auto den kurzen Weg durchs Elsass nehmen und komme ohne Probleme zur Liebsten in den Aargau, wenn ich aber meinen Takt gehen würde und mit dem Fahrrad fahren wollte (hatte ich tatsächlich geliebäugelt), wäre mir die Passage durchs Risikogebiet mit ein zwei Ruhenächten verwehrt. Und selbst wenn ich den zig Kilometer längeren Weg am Rhein nähme, wer an der Grenze könnte sich vorstellen, dass das Fahrrad und die Langsamkeit mein Takt ist und dass es ein Fortbewegungsmittel ist … jeder würde mich für einen Touristen halten. Ich existiere nicht als verwaltbares, klassifizierbares Menschenobjekt. Da sind noch mehr Ungenauigkeiten.

Luxusproblem. Vielleicht zeigt es den Kern, dass Menschen auch in einem anderen Takt, einer anderen Schwingung, einem anderen Daseinszustand sein können, den man sich von innen heraus, aus dem soundso festgeschriebenen so-ist-das-nunmal-Leben nicht vorstellen kann.

Zeit. Alles braucht Zeit. Geld. Alles braucht Geld. Zeit und Geld als gesellschaftliche Vereinbarung. Systeme zur Koordination. Wenn man zu langsam ist, ist man raus. Wenn man zu geldlos ist, ist man raus. Das Zuviel hat über das Genug gesiegt. Wenn man den durchschnittlichen  Takt nicht halten kann oder will, ist man raus … nein nein, so kann der Artikel nicht beginnen.

Lasst mich mit dem Spülberg beginnen.

Blinde Begegnung – vom Entzücken, wie groß die Vielfalt im Gleichklang des Auftreffens von Pappelblättern auf Untergründen verschiedenster Natur ist

Eine Blogparade von Frau @traumspruch auf dem Blog Blindleben.

Stockfinstere Nacht vor ein paar Nächten. Ich weiß, dass der Mond wie mit dem Stechbeitel geschnitzt kurz hinter Wolken hervorlugte und der kleine natürliche Lichtimpuls genügte, damit die Sehnerven Umrisse erkennen konnten, Schatten der Bäume hinterm schummrigen, gewellten Dachfenster und ich kletterte aus dem Hochbett über die knarzende Leiter auf den dumpfen Boden, der nicht nur so federt wie ein Turnhallenboden, sondern auch so klingt, ein paar Schritte rüber zur Tür die Treppe runter auf die Südterrasse und ich musste schmunzelnd an die Ateliertüre denken, die mal wieder geölt werden sollte, denn sie quietscht und zwar genauso wie die ersten paar Töne in der Titelmelodie zum Film Spiel mir das Lied vom Tod. Schmunzeln musste ich vor allem, weil ich immer, wenn ich die Ateliertüre aufmache und sie die ersten Töne von Spiel mir das Lied vom Tod quietscht, die nächsten Töne pfeifend ergänze. Aber so weit sollte es nicht kommen, denn ich hatte in dieser zappendusteren Nacht nicht die Absicht, das Atelier zu betreten. Vielmehr wollte ich den haarfeinen Schlitz von Mond betrachten, die Atmosphäre der Nacht genießen, in der Hoffnung, die Unruhe zu vertreiben, die mich manchmal zu nachtschlafender Zeit in Alarmbereitschaft versetzt. Dann pocht das Herz bis zum Hals ganz laut … als junger Mensch hatte mich das in Panik versetzt. Nun bin ich abgebrüht, schlafe meist schnell wieder ein, es sei denn, ich kann mich aufraffen, die Künstlerbude zu verlassen und ein bisschen im Garten zu flanieren.

Die Wolken hatten den Mond schon wieder verhüllt, ehe ich am Fuß der Außentreppe angelangt war und auf der Terrasse unterm großen alten Nussbaum barfuß über den Beton kitschte, Haut auf Beton, die versöhnliche Art, nicht die, wie etwa bei einem Fahrradsturz. Ein versöhnliches Haut auf Beton-Geräusch bis zum Rand der Wiese, vorsichtig tastend, damit ich nicht volle Kanne auf eine Nuss tappe. Bestimmt würde ich den zarten Gleichklang des Winds in den zig Meter hohen Pappeln an der Westflanke durch einen Schmerzschrei stören, wenn Nuss.

Achtsamkeit, Langsamkeit, Tastsamkeit. Es gibt nur noch das Ohr und mich, okay, die Nase gibt es auch und das Auge, alle Sinne sind bereit, bloß, dass der Sehsinn bei dieser Zappendusternis nicht gebraucht wird. Selbst meine Füße nehmen in diesem Moment mehr wahr als meine Augen, und es ist wie Magie, dass dieser Zustand der Nichtabgelenktheit durch Hinschauen alle anderen Sinne stärkt.

Die Luft riecht gut. Die vom nahen Winter angezählten Blätter der Pappel lösen sich und ich bilde mir in diesem Moment ein, nein, ich bilde es mir nicht ein, ich denke nur darüber nach, ob es wohl mit einigem Training möglich wäre, das zarte Rieseln, das die welken Blätter beim Auftreffen auf der Wiese, auf Erde, auf anderen Pflanzen verursachen, so exakt wahrzunehmen, dass ich sie zählen könnte. Vermutlich nicht. Aber ich höre genauer hin und bin entzückt, wie groß die Vielfalt im zunächst angenommenen Gleichklang des Auftreffens von Pappelblättern auf Untergründen verschiedenster Natur ist.


Frau Traumspruch auf Twitter: https://twitter.com/traumspruch

Blindleben-Account auf Twitter: https://twitter.com/MeinAugenlicht

Frau Traumspruchs Blog: https://traumspruch.wordpress.com/


Weitere ‚Blinde Begegnungen‘ der Blogparade (zu sehen in den Kommentaren zum schon zu Beginn verlinkten Blogparaden-Info-Artikel.

Andrea Halbritter im Cotelangues-Blog

liuea im Dazwischen-Blog

https://aquarium.teufel100.de/2020/10/23/wir-behinderer/

https://blindleben.wordpress.com/2020/10/01/ein-beitrag-zur-blogparade-blindebegegnung/