Das Ende. Damit will ich beginnen. Damit muss ich beginnen. Aufräumarbeiten im Atelier wie jedes Jahr um diese Zeit. Wenn die Offenen Ateliers Rheinland-Pfalz einen großen Sinn stiften, dann die, dass die vielen kleinen Künstlerinnen und Künstler, so auch ich, einmal im Jahr einen Cleansweep im eigenen Atelier machen. Die Spinnen und Insekten vergrämen, Staub wischen, Überflüssiges vor die Tür räumen auf einen Entscheidungshaufen, der in aller Ruhe inspiziert wird und Wegwerfenswertes von Nichtwegwerfenswertem geschieden wird. Den Preis für einen Container müsste man sich leisten können.
Kubikmeterweise Seltsames vor der Tür, das man in die Kategorie „Könnte man mal noch brauchen“ einsortiert. Welch fatale Einstellung. Nichts ist mehr brauchbar, wenn man es genau betrachtet. Das Leben ist zu Ende gelebt. Alles was ist, ist nicht. Schrödingeresk nimmt jede Materie zwei Wahlzustände an. Wenn man mit verschränkten Armen vor seinem Tagwerk steht und den Haufen betrachtet, ist man nicht bereit, sich einzugestehen, dass alles, woran man schuftete, was einem wichtig und wertvoll schien, gleichzeitig auch wertlos ist. Es ist wie mit der Katze, nur dass die Zustände nicht Leben und Tod sind, sondern Wertvoll und Wertlos.
Ich kam ganz gut voran, bewaffnet mit Staubsauger und Putzeimer und den Trennstationen für verschiedene Müllsorten vor der Tür im Staub des immer noch nicht gepflasterten Ateliereingangs. Metall, Glas, Brennbares und gottleidiger Kunststoff. Teufelszeug. Gelbe Säcke, Restmüll, hier ein Bilderrahmen, etwas angemackt, aber könnte man ja nochmal brauchen. Stapel alter Kunstwerke aus den neunziger Jahren. Wenn man wert genug wäre fürs Museum oder die Auktion, sicher ein Schatz, aber so doch nur Plunder in bunten schillernden Farben, der sich nur theoretisch gut machen würde über einem Hipstersofa in der Hauptstadt.
Im Tageslauf schaffe ich es, die beiden Atelierräume in einen ansehnlichen Zustand zu bringen. Zwischendurch immer wieder am PC, die Adressdatenbank durchforsten, wen ich einladen könnte. Sind nicht allzuviele Bekannte und Freunde geblieben. Der Coronagraben geht mitten durch mich hindurch. Ich bin nicht mehr sicher, wer von all den Bekannten wo steht, wen man mit Geimpftsein erschreckt, wen mit Maskentragen und linientreuem Angsthaben. Ich glaube mittlerweile tatsächlich, dass der Coronagraben mitten durch mich hindurch geht und ich mir selbst nicht mehr trauen kann. Mich selbst anfeinde, weil ich mal diese oder jene Position einnehme. Ich bin ja so ein verwirrter Kopf geworden.
Anderthalb Jahre Stillstand und nicht das tun, was man normalerweise täte, frisst sich durch mich.
Zwanzig dreißig Jahre alte Kunstwerke finde ich in einem Schrank. Fotos und übermaltes Zeug, teils recht ansehnlich. Ab in die Tonne? Oder besser auf den Zweifelstsapel, der liegen bleibt für weitere Jahre und über den man mit zeitlichem Abstand noch einmal schaut, sich wundert und sich sagt, Mann, war ich gut, Mann war ich schlecht. Herzlichen Gruß an Schrödingers Entscheidungskatze.
In solchen Situationen komme ich gerne ins globale Weitdenken, was es etwas leichter macht. Wenn man in Dimensionen wie tausenden, hunderttausenden oder gar Millionen Jahren denkt, kann einem ruckzuck alles egal werden, was aus nur irgendeiner Art Materie besteht, weil es ja sowieso von Gletschern zermalmt wird, von Giften zersetzt oder von Skeptikern genichtwertschätzt wird. Man ist dann, nach diesen tausenden oder millionen Jahren ja längst tot. Muss nicht zappeln, fiebern, hoffen. Ein zu Staub, Atomen, undefinierbarem Nichts zerriebenes Etwas ist man.
Ich bin am Ende, stelle ich fest. Ich bin kein Künstler mehr. Als Mensch könnte ich mir eine Zukunft von zwei drei Dekaden als Systemadministrator vorstellen. Irgendwas mit Linux. Am Computer schaffen. Bissel Geld verdienen zum Leben. Das Leben verbringen. Tot umfallen am besten in einer nahen Zukunft. Muss ja. Ist ja so natürlich, dass es endet.
Als Künstler weitermachen und nächstes Jahr schon wieder dieses verflixte, von Insekten, Spinnen, Siebenschläfern und sonstigem Getier verschmutzte Atelier säubern? Muss nicht.
Während ich aufräume, dekoriere ich die Wände mit Kunstwerken fürs Volk, das vielleicht reinschaut, und stelle mir die Frage, was erzähle ich denen denn? Ich bin ein Künstler? Kauft, nehmt reichlich? Ist was wert? Echt jetzt? Ich glaube doch selbst nicht daran. Das da vor mir, all die Materie, ist Vergangenheit. Ich hab das getan. Es entstand. Und nun bitteschön, her mit dem Container. Material jeder Art ist nichts wert. Bzw. ist doch was wert. Nur in dem Moment, in dem jemand das Material kauft, es seinen Besitzer wechselt. Dann ist es für kurze Zeit etwas wert.
Ein Auto zum Beispiel hat nur in einem winzigen Moment einen Wert. Dann, wenn ein Mensch im Autokaufmannsladen sagt, ja, ich will es haben, und es bezahlt. Sobald er sich ans Steuer setzt und damit wegfährt, hat der Gegenstand jeden Wert verloren.
Der Mensch sitzt nun am Steuer einer Drangsalierungsmaschine. Wenn er um die nächste Ecke biegt, steht er im Stau, leidet, vermutlich ohne es zu bemerken, und noch ehe er sich eingesteht, dass er ein Sklave des Autosystems geworden ist, wird er glückselig lächelnd, aber insgeheim voller Zorn all den anderen Staustehern als Feind gegenüberstehen. Schluss mit den feinen Werbebildern, die einem suggerieren, hast du ’ne Karre, bist du frei. Regelmäßige Inspektionen, Tüv, Parkplatzsuche. Gegenstände machen nicht frei, Kauf beleidigt dein inneres Kind, das nur spielen will. Mit Kunst ist das auch so. Kauft keine Kunst! Kauft keine Autos! Kauft nichts!
Den Vorraum des Ateliers habe ich klarschiff. Schön leer. Nur ein paar alte Schinken an den Wänden und eine improvisierte Sitzecke zum gemütlich beieinander hocken.
Ich ackere durch mein Leben und stelle fest, seit dem letzten Stipendium bin ich ja Schriftsteller und kein Künstler mehr. Herrjeh. Ich sollte retrospektieren! Es kommen Ideen, das Atelier in eine Art Rückblick zu verwandeln. Kommentierte Ausgabe des Herrn irgendlinkschen Lebens der letzten dreißig Jahre. Ich lecke Blut. Könnte schön werden. Neben allen Zeigegruppen aus verschiedenen Exponaten einen kleinen Text. Finaler Verweis, dass es einmal war und dass der werte Herr nun geruht, den Rest seiner Lebenszeit damit zu verbringen komisches Zeug zu schreiben.
Warum auch nicht. Ich kann es mir ja zum Glück leisten, an Dingen zu arbeiten, die nicht in die weltweite Produktionskette passen.
Hey, und das, das ist vielleicht ein Lichtblick. Etwas, was mein Gemüt erhellt. Kontinuierliche Nichtproduktivität. Ausdauerndes Nichtbeitragen zum konsumatorischen Wahnsinn. Der finale Widerstand in einem unbequemen System des Zusammenlebens.
Es fehlt nicht mehr viel. Ich bin alt. Die Rente ist nah. Ich hab mein Leben gelebt. Muss nur noch wenige Jahre bestehen. War ’ne schöne Zeit.
Die Gegenwart? Kotzt mich an. Wenn ich könnte, würde ich mich einmauern und eine Wand anstarren. Funktioniert leider nicht. Man muss mithingehen wo alle hingehen. Wir sind Lemminge.
Ich bereite also das Atelier eines Exkünstlers auf, der nun Schriftsteller ist. Von einem brotlosen Beruf in den nächsten gewechselt. Wobei die Brotlosigkeit natürlich Jammern auf hohem Niveau ist. Ich habe ja so viel Glück, in einem der wenigen krisenfreien Länder der Welt zu leben. Ich sollte dankbar sein, achwas, ich bin dankbar!
Beim Atelieraufräumen kommt mir der Elch unter die Finger. Ein hölzernes Ding. Ich habe es im Mittelfenster auf die Fensterbank gestellt. Etwa vierzig Zentimeter hoch. Der Elch ist das Geschenk eines Jungen an meinen Vater. 2016 waren sie Zimmernachbarn im Krankenhaus. Die beiden verstanden sich gut. Mein Vater fungierte dem Buben aus Notfallopa, munterte ihn auf, vertrieb ihm die Zeit mit Scherzen, ohja, das konnte er bestens. So dass der Junge die Woche im Krankenbett halbwegs gut überstehen konnte und ich denke, auch mein Vater profitierte von dieser Notgemeinschaft. 2016 zu Weihnachten stand dann der Elch unterm Baum. Gebaut vom Jungen.
Als mein Vater 2017 im Sterben lag, ging der Elch zu Bruch. Vater hatte ihn, betäubt von Morphinen, verschusselt und der Tierchen zerbach. Stand eine Weile im Keller, bis ich ihm das Gehörn wieder anklebte und es im Atelier auf die Fensterbank stellte.
Wie ich so den Elch anstarre, denke ich, dass er eigentlich ein Kunstwerk ist, das ein Bub geschaffen hat mit Laubsäge und Liebe, um es einem Leidgenossen zu schenken. Herrjeh. Material. Das ist kein Auto, das wertlos wird, sobald es über die Ladentheke geht. Das ist keine Drangsalierungsmaschine, mit der man Menschen in die Abhängigkeit zwingt. Es ist Liebe?
Der Elch wuchs mir ans Herz in den letzten Jahren, die er im Atelierfenster stand. Das alte Künstlerherz schlug. Das Hirn rumorte. Ich beschloss, den Elch bemalen zu lassen von vielen verschiedenen Künstlerinnen und Künstlern. Ein Col-Art-Projekt, bei dem der Junge als Initiator fungiert und ich als Vermittler, als eine Art Reparateur in kaputter Welt, in der es noch immer Liebe und Zuneigung gibt unter Fremden, auch wenn man dies momentan gar nicht vermuten würde. Menschen, die nebeneinander in Krankenbetten liegen, haben etwas Existentielles, finde ich.
Ich kann den Elch aber nicht bemalen lassen von meinen vielen lieben Kunstmitmenschen, ohne den Ur-Urheber des Kunstwerks ausfindig zu machen. Das würde ein faszinierendes Kunstprojekt, denke ich, aber nur, wenn der Bub mit im Boot ist. Schließlich ist er der Erste, der am Kunstwerk gearbeitet hat, auch wenn er davon gar nichts wusste. Es wird nicht einfach, ihn zu finden. Ich nehme nicht an, dass man mir im Krankenhaus mirdnichtsdirnichts die Kontaktdaten des Jungen erzählen würde. Schon phantasiere ich, das irgendwie anzuleiern, kann ja nicht so schwer sein, einen Buben zu finden, der 2016 im gleichen Krankenzimmer wie ein Sterbender lag … so lasse ich den Abend ausklingen mit Könntes und Müsstes und Sollte-man-mals. Vielleicht ist der Künstler in mir ja doch noch am werkeln?
Ob ich es tue? Morgen wird wieder der Profi-Prokrastineur die Regie übernehmen, vermute ich. Der, der die leere Wand anstarrt und damit zufrieden ist.