Das gelbliche, knisternde Etwas im Zuluftschacht des uralten Holzofens kann kein Blatt sein. Zum einen ist es viel zu groß, größer als ein Avokadoblatt, länglicher als ein Ahornblatt und wie sollte das Blatt auch dahin gekommen sein, stand doch der Ofen ein, zwei Jahrzehnte lang in einem Abstellraum, abgeschieden von den Winden der Außenwelt, umgangen von Jahreszeiten, einzig gewürdigt von Spinnen, Asseln, Mäusen und Ratten. Hin und wieder stinkt es in dem feuchten Raum, der sich irgendwo im Kerngehäuse des einsamen Gehöfts befindet, sagen wir einmal etwas aasig, nach zergehenden Körpern irgendwelcher Tiere, die das Zeitliche segneten aus welchem Grund auch immer; liegen gebliebene Körper an Stellen, an denen das Schicksal es für angebracht hielt, dass letzte Atemzüge getan werden, letzte Herzschläge und das Blut zum Stillstand kommt für immer.
Mit etwas Glück habe ich mein Pech für 2022 schon aufgebraucht.
Lapidar getippter schneller Tweet. Manchmal hege ich die Befürchtung, ich vergeude meine Zeit, meine Ideen, Geistesblitze und die Chance auf Größeres im Kurznachrichtendienst. Andermals aber denke ich, genau richtig so, denn was du nicht sofort hinausposaunst in die Welt, sei es nur ein abstruses Wortspiel wie das obige, geht für immer verloren, wird nie mehr erinnert. Es kehrt bestenfalls zufällig wieder im Hirn eines anderen Menschen, der in ähnlicher Situation mit ähnlichem Hintergrund wie du selbst zu einem ähnlichen Gedanken findet und ihn aufschreibt. Womit er, der Gedanke, oder es, das Wortspiel, zum gesellschaftlichen Gemeingut wird.
Mindestens jedoch trägt es eine Weile Frucht in anderen Köpfen, ehe es vergeht.
Das gelbliche, längliche Ding, das ich aus dem Ascheschacht des alten Ofens löse, sieht aus wie ein Zweig, naja, nicht ganz … wenn ich den Gedanken zuließe, wäre es definitiv ein mumifizierter Rattenschwanz. Mit Leichtigkeit löste es sich von einem knisternden Etwas, das aussah wie ein verdorrtes Blatt. Ich will und will es nicht wahr haben, dass in dem alten, verstaubten Ofen, den ich gerade als Ersatz für den undichten, Künstlerbudenofen aufstellte, eine Rattenmumie festklemmt.
Arschkalt vor ein paar Tagen riss ich Tür und Fenster auf, um dichten Qualm in der Bude loszuwerden. Mit dem Ofen, der bis dato gute Dienste leistete, geht nichts mehr, so die Diagnose. Ich muss ihn putzen. Und wenn ich ihn putze, kann ich auch gleich die Dichtungen ersetzen. Das bedeutet, ich muss ihn auseinander schrauben, Verkleidung ab und auch den Katalysator lösen. Man macht so etwas ja so selten. Vergiss die Glasplatte nicht, die sich zierend über den Rauchkanal legt … natürlich vergesse ich sie und ein gusseisernes Teil, das ich nach mühsamem Fummeln an einer versteckten Schraube löse, knallt auf die Glasplatte, kaputt.
Plan B reift im Hirn, wenn der schludrig ausgeführte Plan A misslingt. Der Ofen ist die einzige Heizung in der Künstlerbude. Eine neue Glasscheibe kriegt man ja nicht hinterher geworfen, die Temperatur im normalerweise wärmsten Raum hat mittlerweile drei Grad erreicht, Tendenz fallend. Grautrister Schwerlasthimmel drückt das Gemüt, so viel Pech in diesem Jahr schon! Auto, Haus, Boot. Da ist die kaputte Sichtscheibe doch nur das Tüpfelchen auf dem I.
Ich denke, obiges Zitat ist Programm, hoffe, dass ich das Pech 2022 komplett aufgebraucht habe, krame den alten Heizknecht aus der Rattenkammer, schleppe ihn per Flaschenzug – welch Segen, solche Flaschenzüge – über die Treppe in die Künstlerbude. Das Ding hat zwar nur halb so viel KW und ist recht kompliziert anzufeuern, aber es tut seinen Dienst. Glück also?
Betrachtet man es von außen, mich als Protagonist einer Geschichte, ist das sicher recht amüsant zu lesen. Man friert ja selbst nicht, während man einen Blogartikel liest, der davon handelt, dass jemand anderes eine drei Grad kalte Bude hat, in der er existiert.
Nebenbei erinnere ich mich alter Abenteuerideen vom Winterradfahren und vom mal wieder raus, das Hirn lüften und auf andere, bessere, weniger triste, gar schöne Gedanken kommen. Mal wieder Glück, adieu Pech. Gedanken und Träume, die ich auf Grund meines fortgeschrittenen Alters längst zu den Akten gelegt habe. Bei den Temperaturen draußen tagelang radelnd und im Zelt übernachtend? Das ist was für Dreißigjährige, maximal vielleicht drei-fünf-jährige. Für Ironmänner und -frauen, Brevet adictetes Gravelbikevolk. Mir bleibt nur die Improvisation … egal, wie ich also in der eisigen Atmosphäre des eigenen Scheiterns das beste aus der Situation mache, hellt sich das Gemüt wieder auf, ich glaube, das war vorgestern oder vorvorgestern. Plötzlich ist es doch möglich, theoretisch, die Kälte zu überstehen wie früher schon öfter durchlebt. Es gab da ein paar Radtouren im Januar und Februar vor unzähligen Jahren, die mich wochenlang südwärts führten. Vom Schicksal in der heimischen Wohnung auf Außentemperatur reduziert, denke ich, dass es klappen könnte und das gibt mir ein bisschen Kraft: Wenn ich wollte, könnte ich direkt die Satteltaschen packen, Zelt, Schlafsack, Kocher, den gesamten Europennerhaushalt, und los radeln wohin es mich gerade zieht, täglich siebzig achtzig hundert Kilometer voran, nach Süden, Osten Westen, gar nach Norden. Ja. Das könnte ich.
Derweil das erste Anfeuern des Ersatzofens gar nicht mal so übel läuft. Der Feinstaubsensor in der Bude gibt traumhafte Werte aus, konstant im grünen Bereich.
Nun steht er draußen auf dem Balkon, der alte Ofen, vielleicht repariere ich ihn, vielleicht besorge ich einen neuen? Setze ich mich aufs Radel? Wahrscheinlich nicht. Das Thermometer der Künstlerbude zeigt 22 Grad.
Meist bin ich guter Dinge trotz Pechs. Die Ofennummer, die hatte jedoch etwas Existenzielles.
Ironie des Schicksals: Während dieser Artikel entsteht, verschmort das Baguette im Backofen. Im konzentrierten Schreibflow habe ich den Wecker schlicht überhört.
Das Pech 2022 ist noch lange nicht aufgebraucht.