Bliestallabyrinth

Die ersten 25 Bilder sind im Kasten. Insgesamt brauche ich 400. Ich habe das Kunststraßenkonzept an die besonderen Bedingungen angepasst. In jedem Bild wird man das nächste Bild erkennen. Das Konzept wächst mit seiner Umsetzung.

Es entsteht ein räumlicher Film. Ich peile stets den Horizont oder die nächste Biegung an, fotografiere in die Straßenflucht, laufe bis zum nächsten Punkt, wo sich mein angepeiltes Ziel zu einer erstaunlichen Größe gemaußert hat, dringe somit weiter und weiter ins Bliestallabyrinth vor. Und auch wenn ich mich zunächst von meinem Ziel entferne, so komme ich ihm doch mit jedem Foto näher.

Als ich zum Gehöft zurückkehrte, war ich erschöpft, weil ich die steilste Straße der Stadt wie im Flug hinaufgehechtet war. Ließ mich in den Sperrmüllsessel auf der Südterrasse fallen, atmete tief und ruhig. Die Vöglein zwitscherten. Alles schien zu zwitschern. Der gesamte dreidimensionale Raum knisterte: „Es ist das Knistern der Welt, die wie ein Segelschiff auf unruhiger See strauchelt.“ murmelte ich.

Ich dachte an den armen Ingenieur, den sie vorgestern beinahe totgeschlagen hatten. Die Welt knistert und ächzt unter gut vertäuten Ignoranten. Es hätte jeden, auch einen Ignoranten, treffen können.

Am Rande meines Labyrinths saß ich auf staubigem Sofa, den Kopf voller Grübeleien, unsicher, ob nun die Vöglein zwitschern oder die Welt knistert

Ein Buridans-Dilemma

Im frühen Sonnenlicht unter einer Papier-Blende auf dem Küchentisch liegt die Digitalkamera. Ich habe eine 65 mm lange Röhre aus Pappe aufgesetzt und eine Halterung für Kleinbild-Negative. Die Methode ist besser als Scannen. Man erhält mehr Bildpunkte und es dauert nur wenige Sekunden, bis man ein Bild in Daten verwandelt hat.

Werde nachher runter in die Stadt, um mit dem Bliestallabyrinth zu beginnen. Das wird eine Rauminstallation für die Galerie Beck als geokoordiniertes Kunstwerk. Das Labyrinth führt bis in die hochauflösende Satelliten-Zone, die etwa zehn Kilometer westlich bei einem Dörfchen namens Kirkel beginnt. Wenn ich also in dieser Zone fotografiere, werden die Bilder map-fähig und man kann sie als kleine rote Sticker via Google-Maps oder Mapquest sehen.

Befinde mich in einer angespannten Phase – zwischen Kunst und der Suche nach einem Brotjob. Im Dezember lauert eine Deadline, die sich dadurch manifestiert, dass der Geldpegel auf dem Konto unter Null sinken wird. Das engt. Und lässt mir derzeit nur zwei Alternativen: Job finden oder Kunst verkaufen.

Dann wird mir plötzlich klar: wenn es diese Kunstprojekte und Ideen nicht gäbe, wäre ich gar arm dran. Dann bräche ein mächtiger Zweig meines Lebens zusammen. Dann müsste ich Trinker werden oder mir die Kugel geben. Denn das ist es was mich antreibt: Die leuchtende Kraft der Energie, etwas wahr zu machen. Ich bin ein Landnehmer, ein Forscher, ein Abenteurer mit einer gehörigen Lust am Unbekanntnen. Es ist ein großes Gefühl, das, wovon man  noch vor kurzer Zeit nicht glauben konnte, dass es existiert, plötzlich leibhaftig zu erleben.

Zurück zu den Alternativen: Kunst vs. anständige Arbeit. Ich ziehe in Erwägung, dass ich in einer Art Buridans-Dilemma stecke.

Ostern rum

War mal wieder ein langes Cacher-Wochenende in der Südpfalz. Kokolores und ich ließen es jedoch ruhig angehen. Bei einem Erdversteck namens Houscht  erstmals zwei andere Cacher bei der „Arbeit“ getroffen. Sie fummelten in einem Birnbaum, gut sichtbar zwischen Pfälzer Rebenzeilen nach etwas, und als wir uns näherten, taten sie so, als würden sie Schuhe binden, fotografieren, knutschen, wie auch immer. Wir Cacher müssen oft im Tarnmodus in aller Öffentlichkeit an komplizierten Stellen nach merkwürdigen Dingen suchen. Hunde, Kinder, Fotoapparte sind zur Tarnung recht nützlich.

Nun. Die Kollegen L. und L. hatten den Baum nach einem Micro-Versteck sondiert, als wir gerade hinzu kamen, und jedoch nichts anmerken ließen, denn zu tief saß die oberste Cacher-Regel: Sei unauffällig. Gib dich nicht zu erkennen. Und vor allem, um Himmels Willen gib das Versteck nicht preis.

Schmunzelnd liefen wir unseres Weges. Aber wir hatten die Rechnung ohne den Spürsinn, den ein Cacher hat, gemacht. Nach einigen Minuten kamen L. und L. mit dem Auto zurück. L. öffnete die Beifahrertür und rief: „Wer seid Ihr?“ Wir waren enttarnt. Nun hielten wir ein Schwätzchen. Wie sie uns erkannt hatten? Es ist ungewöhnlich, wenn ein Auto mit fremdem Kennzeichen in den Weinbergen der Südpfalz parkt. Obendrein hatten wir einen dicken Ordner mit den Geocache Beschreibungen hinter dem Beifahrersitz liegen.

Die Linien, die ich zog …

Guten Morgen. Samstags kommen die Geocaching Reports reingeflattert. Eine E-Mail, in der die neu vertsteckten Erdverstecke der letzten Woche veröffentlicht sind im Umkreis von 100 Meilen des eigenen Standorts. Das ist praktisch. Falls man das Wochenende noch nichts vor hat, druckt man sich die nächsten Clues aus und marschiert, bewaffnet mit GPS, hinaus in die Wälder.

Ein Hoch auf die Datenbanken! Als Geocacher ist man ein geokoordinierter Punkt, metergenau in einer gigantischen amerikanischen Datenbank. Man wohnt Tür an Tür mit den Mitspielern in einer extra angelegten Tabelle, in der die Parameter der Web-Existenz gespeichert sind: Nickname, Anzahl der gefundenen Erdverstecke, gepostete Bilder, Datum wann wer wo war und in welchem Umkreis er sich bewegt hat. Es ist berauschend. Nach dem Rausch kommt gemeinhin die Ernüchterung, welche sich in Unbehagen ob der Transparenz der eigenen Existenz niederschlägt.

Winzig wie mathematische Punkte ziehen wir unsere Linien auf dem Globus. Hinterlassen, von einer theoretischen göttlichen Existenz beäugt Spuren.

In den hintersten Winkeln der gestrigen Party unterhielten sich Informatiker über die grundlegende Funktionsweise relationaler Datenbanken. Ein Blitzgewitter ging über die Schar der Feiernden nieder, nicht alleine verursacht durch Journalist F.s nigel nagel neue Kamera. Diverse andere Investigatoren hatten es sich zur Aufgabe gemacht, das Event in Milliarden von Pixeln zu dokumentieren.

„Die Parties der Achtziger Jahre,“ raunte ich dem Journalisten zu, „muten dagegen an wie ein grobes Beisammensein in einer dunklen Höhle.

„Wir hörten Rockmusik von echten Rockgruppen auf pechschwarzem Vinyl,“ sagte der Journalist.

Ich trank mein Bier aus, wir verabschiedeten uns.

Draußen auf der Straße unter dem Vollmond mutmaßte ich: „Das ist keine Party, sondern eine Datenbank mit vielen exzessiven Tabellen, die auf verschiedene Arten miteinander verknüpft sind. Die Bierkisten, welche auf dem Balkon lagern, sind eine Tabelle. In den Spalten sind die verschiedenen Sorten aufgelistet, die Zeilen enthalten nur wenige Parameter wie etwa Alkoholgehalt, Anzahl der Flaschen. Nun kommts: die Partygäste sind in einer anderen Tabelle gespeichert und mit der Biertabelle verknüpft. So kann jedem Gast eindeutig eine Biersorte, sowie Menge etc. zugeordnet werden.“

Der Journalist schwieg. Wir standen unterm Vollmond. Dunst waberte die Realschulstraße hinauf. Die Stadt war friedlich wie Spalten und Zeilen.

Party rum

Schon spät. Die Party ist zu Ende. Zumindest für mich. Habe geschwächelt. Das wird mir Morgen zu Gute kommen. Kein Kater. Keine fremde Frau im Bett … (Kokolores, falls Du das liest, das ist ein Scherz!).

Gute alte Freunde wieder getroffen. Es ist schwierig, mit guten alten Freunden zu erzählen, weil man ruck zuck auf der Schiene „na was machst Du so?“, landet. Zur Zeit kein angenehmes Thema: „Ich hocke zu Hause und schalte morgens den PC ein, abends wieder aus. Dazwischen filze ich die Datenbank des Arbeitsamts, schau mir PHP Turorials an, feile an meinen eigenen Seiten. Manchmal glotze ich einen Bericht über China zum Beispiel: Wanderarbeiter überfluten die Stadt Shanghai. Sie sind voller Hoffnung und arbeiten für fünf Euro am Tag. Sie träumen vom besseren Leben. Alle Menschen träumen vom besseren Leben. Von Sicherheit, Geborgenheit, davon ihren lästigen Chef loszuwerden, ohne ihre Arbeit zu verlieren. Oder besser …“

Die alten Freunde wiederum plagen sich in ihrem Job mit widerspenstigen Kunden herum und es will und will und will nicht so recht laufen. Weil das Leben Geld kostet verschulden sie sich. Schulden sind eine Investition in die Hoffnung.

Ein chinesischer Wanderarbeiter hat versehntlich ein zweites Kind gezeugt. Das könnte ihn teuer zu stehen kommen. Er rechnet mit einer Strafe von 500 Euro, weshalb er sich an seinen Job klammert, wie der Ertrinkende an ein Stück Treibholz. Alleine bleibt er im Molloch Shanghai zurück, während seine Frau mit den Kindern zu den Eltern zurück kehrt.

Ein anderer Wanderarbeiter hat eines Tages seinen fünf-Euro-pro-Tag-Job an den Nagel gehängt und ist mit zwei Plastiktüten voller Habesligkeiten in die Provinz zurück gekehrt. Dort verschuldete er sich, um ein kleines Unternehmen zu gründen, scheiterte. Dann war der Dokumentarfilm zu Ende.

Der Europenner ist ein Mensch, der Kraft seiner Herkunft ein Leben führen kann,  welches anderen, vor allem chinesischen Wanderarbeitern, Afrikanern, Südamerikanern und den jugendlichen in LAs Ghettos die Haare zu Berge stehen lassen würden. Vielleicht ein Illusionist? Der Europenner ist eine Romanfigur.

Zurück zum Gehöft. Ein Uhr nachts. Ich stinke nach Rauch. Friede herrscht. Das war ein guter Tag.