An den Grenzen,

jaja, an den Grenzen. Ist es immer spannend. Man kann von Hüben nach Drüben sehen und umgekehrt. Das Unbekannte fasziniert.

An den Grenzen ist mein Heim. An der deutsch-französischen ganz konkret.

Aber auch im übertragenen Sinn bewege ich mich immer an der Grenze. Die Grenze zwischen Gutbürgertum und Kunstspinnerei. Ich bin ein Wechselbalg. Ich laufe seit zig Jahren auf einem schmalen Grat. Schwindelfrei, zum Glück. Weiß nicht, wie lange das gut geht.

Das muss scheitern, sagt der Akrophobiker.

Die Grenze ist mitten in meiner Wohnung. Wenn ich die Tür zum Atelier öffne, stehe ich in der Kälte. Jener Kälte, die den ganz normalen Straßenberber umgibt, und zwar für immer. Ich bin den Straßenberbern nicht fern. Von meinem privilegierten Posten aus beobachte ich sie. Genau wie auch sie mich beobachten – meinetwegen in der Bahnhofstraße in Ingelheim, wo sie auf Parkbänken sitzen und die merkwürdigen Typen beobachten, die alle 20 Meter stehen bleiben und mit Fotoapparat, Zeichenblock und Schreibpapier seltsame Dinge tun. Wie Gegener stehen wir einander gegenüber an gut befestigten Grenzlinien.

Nur zum Spaß vorhin die Pforte zum Atelier passiert und die eiskalte Luft inhaliert. Grenze warm-kalt. Noch immer kreischen Vögel auf dem Weg nach Süden. Ich ahne sie frierend über dem Scheunendach im Vollmond.

Der schmale Grat zwischen Ehrbarkeit – soundso solltest du Leben – und der Welt jenseits der Akrophobie ist mein Heim. Vielleicht ist das ein Privileg. Hat je ein Mensch sich wohlgefühlt auf einem Balkon im fünften Stock ohne Geländer?

Ja, ich in Prag zusammen mit meinen Freuden Leb und Sukai. Wir ließen die Beine baumeln, tranken Bier und beobachteten zwei Schlawiner, wie sie ein meterhohes Christuskreuz aus einer Kirche entwendeten. (Die Polizei alarmierten wir nicht, weil wir kein tschechisch sprachen und Bier tranken und es aus dem fünften Stock bis zur Telefonzelle ziemlich weit war – wie wir in dieses Abbruchhaus mit Balkon ohne Geländer gekommen waren wollten wir auch nicht erklären).
In der Tat ist es nur ein simples psychologisches Spiel: man steht mit wie ohne Geländer exakt 30 cm vor dem Abgrund. Die Aufgabe ist, sich mit wie ohne Geländer gleich sicher zu fühlen.

Ich bin der, der sie tut

Die Brille ist dreckig. Ich nehme sie besser ab. Wenn ich sie morgen suche, brauche ich nur diesen Blogeintrag zu lesen: Mann, die Brille liegt auf dem Schreibtisch, direkt neben dir. Neben Zetteln und Stiften und Plastiktüten.

Übrigens: du solltest die Brille putzen, bevor du sie aufsetzst!

Ein bisschen Chaos. Die Bude riecht nach Tomaten. Ich habe die Ernte getrocknet und mit Kräutern in Öl eingelegt.

Mjam mjam.

Überall liegt Kunst.

Und Kassenzettel.

Brot liegt auch herum.

Die Bude ist warm.

Der Holzofen schnurgelt.

Seit gestern kreischen Vögel über dem Gehöft, ziehen nach Süden. Pfeile aus hunderten von Tieren stehen am Himmel. Sie keuchen gegen den Wind. Das ist mystisch.

Die Sonnenuntergänge sind unbezahlbar, knallrote Etwase hinter kahl gefegten Pappeln.

Diese Zeit ist gut. Mein Leben geht Hand in Hand mit der allgemeinen Konjunktur. In den letzten Wochen haben sich unglaubliche Dinge ereignet – nicht zuletzt, dass die Wespe mich angerufen hat und mir einen zwar unbequemen aber doch nicht auszuschlagenden Vorschlag unterbreitet hat. Die Wespe ist ein stolzer Mensch, der nicht zuhören kann. Selbstverliebt wie alle Künstler (außer mir).

Heute mit Journalist F. auf einen Sprung nach Mainz, um die Kunstwerke anzuliefern, die in der Ingelheim-Ausstellung gezeigt werden. Journalist F. kredenzte Fotos, ich serielle Arbeiten aus 2005. Die neuen Sachen hängen ja noch in der Galerie Beck.

Dort gibts übrigens Morgen einen Sondertermin: Spaziergang mit dem Künstler im original Bliestallabyrinth. Der Künstler bin ja ich. Muss ich also die Wanderschuhe anziehen und mit kunstbeflissenen Menschen ein bisschen plaudern und wandern. Die Oberbürgermeister der beiden miteinander konkurrierenden Städte, durch die das Labyrinth führt, haben erwartungsgemäß abgesagt (die Absagen sind ein Indikator, dass man wahrgenommen wird; nicht immer habe ich Absagen erhalten).

Eine zwanglose Sache also. „Hundebesitzer,“ sagte Journalist F., „du wirst mit allen Hundebesitzern der Region spazieren gehen. Die stehn auf Spaziergänge. Die werden das Nützliche mit dem Kunstgenuss verbinden.“

Die Laudatorin J. ist allerdings die Einzige, die fest zugesagt hat. Und die hat keinen Hund. Eigentlich wäre es traumhaft, alleine mit der Laudatorin loszulaufen. Dann könnte man schamlos das GPS auspacken und ungehemmt auf Geocache-Tour gehen. Aber ich fürchte, es werden noch einige Spaßbremsen auftauchen, die nur die ach so hohe Kunst im Sinn haben.

Und wie geht das nun zusammen: ich müsste doch derjenige sein, der die Kunst ernst nimmt?

Stimmt nicht!

Ich bin der, der sie tut.

Sollen sich die Anderen den Kopf darüber zerbrechen.

Genug geredet. Ich sollte diesen Beitrag beenden.

Hmmm?

Mit einem Semikolon, ja mit einem Semikolon.

Das scheint mir an dieser Stelle angebracht;

Auch das noch

muss das Blog auf Winterzeit umstellen, weshalb dieser Artikel vor dem zuvor geposteten Artikel steht.

Anwalt K. und andere Geister

Habe manchmal diese fixe Idee: wenn ich mich nur kurz umdrehe, wegschaue und erneut das Objekt fixiere, ist es plötzlich weg.

Das Objekt mag ein Mensch sein. Ein guter Freund, mit dem man einen Abend verbracht hat. Sobald man die Haustür hinter sich schließt, verfällt der Freund in einen inkonsistenten Zustand. Das ist gar nicht abwegig. Man geht immer davon aus, dass, wenn man eine Tür schließt und sie nach einer Weile wieder öffnet, sich hinter der Tür noch alles genauso verhält, wie man es verlassen hat.

Trotzdem könnte der Freund, mit dem man den ganzen Abend geschwätzt hat, sobald man gegangen ist einen Herzinfarkt erlitten haben. Man weiß es nicht. Man geht nur davon aus, die Welt ist soundso.

Als ich den Anwalt K. vor knapp zehn Jahren zum letzten Mal gesehen habe, zog ich durchaus in Erwägung, dass er demnächst Selbstmord begehen würde. Zu jener Zeit stand er vor dem Staatsexamen. An besagtem Abend wollte er eine Lernpause einlegen, lud mich ein zum Grillen in der Studentenbude. Wir hörten Weezer, schmorten Würste und Steaks auf dem Elektrogrill. Die Bude roch nach verbranntem Fett. Wir tranken Bier und rauchten Kippen. Das lähmte die Geruchsnerven.

K. war ein grundunglücklicher Mensch, weil er eine schwere Kindheit hatte. Deshalb hatte er sich ein Bolzenschussgerät besorgt, mit dem er sich umbringen wollte. Er zeigte mir das Metallding. Es war schwer. und kalt. Ich hatte Höllenrespekt davor. Genau wie sein Vater es einst getan hatte, würde er es auch tun. Warum er es nicht schon längst getan habe, fragte ich, da sagte er, seiner Mutter zu Liebe, er wolle nicht, dass sie nocheinmal das Schreckliche durchmachen muss. Jenes Schreckliche, was auch er durchgemacht hat. Seinen toten Vater finden.
Nie habe ich einen traurigeren Menschen gekannt als K.

Neulich bei einem Konzert habe ich ihn wieder getroffen. Wie ein Geist stand er umgeben von Kollegen. Bleich und krank. Seine Haare sind dünn geworden. Trotzdem großes Bohei. Wir tranken ein Bier. Und wieder schlug diese abgrundtiefe Depression durch. Ich fragte: „Hast du den Bolzen noch?“ „Natürlich. Ich werde ihn benutzen.“ Da half es nichts, auf ihn einzureden, das Leben sei schön, denn mir wurde plötzlich klar, er hat die gesamten zehn Jahre über gelitten unter dieser schrecklichen Depression. Niemand konnte ihm helfen.

Schnitt.

Ex M. hat eine Postkarte geschickt und sich nach meinem Befinden erkundigt, ihr selbst gehe es gut und sie sei glücklich – aber: sie werde von einer gewissen R. bedroht. Und R. ist ein ganz spezieller Fall, den ich schon vor zehn Jahren, als ich sie kennen gelernt habe, für schizophren hielt.  Wenn man ihr gegenüber steht durchwirkt einen ein Gefühl der Bedrohung – ganz anders als der friedliche Anwalt K., der doch einfach nur Selbstmord begehen will. R. ist da anderweitig aggressiv. Leider erinnere ich mich nicht mehr daran, was zwischen Ex M. und R. und mir einst war, weshalb sie nun so ausflippt – eins steht nämlich noch in der Postkarte: mein Name sei bei diesen Bedrohungen auch gefallen. Hey, das alles ist zehn Jahre her. Da sieht man Mal, wie lange die Dinge in den Köpfen der Menschen wirken.

Was wird nun passieren? Besucht mich die verrückte R. mit dem aufgespießten Kopf von Ex M. eines Tages hier auf dem einsamen Gehöft? Werde ich Anwalt K. jemals wieder sehen?
Bin ich, nun, da Ihr dies lest überhaupt noch am Leben? Die Wirklichkeit ist bei Weitem nicht so konsistent, wie man vermutet.

Alltagsgerede, nicht unbedingt interessant …

… aber auch nicht Nichtzuveröffentlichen.

Ich lese die alten Tagebücher von vor zehn Jahren. Handgeschriebens Zeug. Oft nur Stichpunkte. Abends im Bett, gekrümmt unter der Lampe tauche ich ein in die eigene Vergangenheit. Von Liebe ist die Rede. Wie immer. Es ist amüsant. Ich habe lange gehadert, ob ich die Kladden aufschlage oder nicht. Ein bisschen Angst hat man ja immer. Aber nun, da ich so blättere, frage ich mich, warum nicht öfter, warum nicht immer die Alltäglichkeiten notieren? Es gibt einem später einen Einblick in den, der man einmal war und zeigt, wie man sich verändert hat.

Neue Leutseligkeit?

Egal.

Glotze läuft. Die St. Ingberter Pfanne wird übertragen. Ein Kleinkunstfestival, das alljährlich in der Nachbarstadt ausgetragen wird. Auf dem Ofen dampfen Tomaten. Ich trockne die Ernte und lege sie in Öl ein. Mjam mjam.

Vorhin war das Malerehepaar B. zu Besuch. Wir haben ein Symposion für 2008 ins Auge gefasst. Frau B. kennt die halbe Welt und weiß was von den Geldtöpfen. Herr B. hat meine Postkartenedition gefleddert und mich sogleich für eine Wanderausstellung eingeladen. Thema: „Der lächelnde Christus“. Die Ikone (Link entfernt 2016-11-26) hatte es ihm angetan: „Gibts das auch als Bild?“ fragte er. „Kein Problem, wie groß solls denn sein? Ich muss nur die Datei im Computer finden.“

Mache ich also mit bei der großen Wanderausstellung mit über 50 Künstlern. Nächstes Jahr in der  Kulturhauptstadt Luxemburg.

Ach die Kunst. Sie ist nahezu abgewickelt. Darum bin ich froh. Ich kann nun beruhigt es nebenbei betreiben. Das macht sich in der allgemeinen Entwicklung gerade ganz gut.

Schwer zu erklären. Der Kopf ist plötzlich ganz frei und die Zeit liegt vor mir wie eine frisch formatierte Festplatte. Bereit, beschrieben zu werden.

Apropos Festplatte: hab ein neues Betriebssystem. In den Web-Foren wird es als grundlegend langweilig gehandelt, weil man überhaupt nichts administrieren muss und keinerlei Probleme auftreten. Alle Geräte funktionieren und jede nur erdenkliche Software kommt freihaus übers Netz. Das System läuft auf PC und auch auf Mac. Ubuntu ist ein Traum. Ubuntu ist ein afrikanisches Zulu-Wort, eine Ethik.
Mir gefällt die Philosophie, die dahinter steckt:

»Eine Person mit Ubuntu ist offen und greifbar für andere, bejaht andere in Ihrer Andersartigkeit, fühlt sich nicht von der Stärke anderer bedroht, verfügt über ein angemessenes Selbstbewusstsein, das sich aus dem Wissen um die eigene Zugehörigkeit zu einem größeren Ganzen speist, …« (Erzbischof Desmond Tutu).

Wie kam es dass ich das System installiert habe? Eine Verdichtung von Wahrheiten: zuerst hat mein Cousin davon erzählt: „Probier doch mal Ubuntu, das soll für Linuxlaien ganz einfach sein.“ Aber da hatte ich das Debiansystem, welches als ziemlich abgehoben gilt und nur was für Freaks ist, gerade in Erprobung. Da wollte ich nix Neues anfangen. Dann habe ich die P.s besucht und Herr P. drückte mir eine Life-CD in die Hand: „Da, kannste mal ausprobieren. Wir wollten das den Schülern schenken, aber die haben nur wenig Interesse gezeigt.“ „Klar,“ sagte ich, „Schüler wollen spielen und dafür brauchen sie Windows.“

Okay. Wie kriege ich den Eintrag nun beendet?

Mit einem Punkt.