Der Tag des Künstler-in-die-richtige-Richtung-Drehens | #UmsLand Bayern

Ich kenne die Frau doch, die sich da neben mich auf das Wartebänkchen beim Bahnhof Grafenau setzt. Und den Mann da drüben auf dem Parkplatz beim Rewe, den kenne ich auch. Mit dem Busfahrer, der gerade am Busbahnhof nebenan abfährt, habe ich mich vorhin im Café des Rewe unterhalten, als wäre er ein alter Freund. Fazit: ich bin von hier. Ich habe immer hier gelebt, war nie weg und diese ganze lange Radelreise rund um Bayern habe ich mir nur ersponnen.

Fast werde ich verrückt. Es ist wie einst in der US-Serie Dallas, als Bobby Ewing starb und nach vielen Folgen, in denen er scheinbar tot war, plötzlich unter der Dusche hochschreckte und feststellte, dass er das alles nur geträumt hat.

Morgens stand die Frau, die nun neben mir sitzt, beim Bahnhof Zwieselau, der eigentlich nur aus einer Holzhütte und einem Bahnsteig besteht. Das war beruhigend für mich, denn ich kenne das Prinzip des Bedarfsbahnhofs noch nicht so recht. Der Zug kommt immer zwei Minuten später, sagt sie und man muss aus dem Häuschen raustreten, sonst hält er nicht. So einfach. Und wenn man drinnen ist im Zug und aussteigen will, fordert einen eine Ansage auf, einen der im Wagen verteilten Halt-Knöpfe zu drücken.

Alles ist unklar an diesem Tag, außer, dass ich mir das Nationalparkzentrum mit seinem Baumwipfelpfad und dem Museum anschauen will. Bloß, wie komme ich dahin? Die Bahnlinie führt ja nicht bis zum Zentrum.

Im Zug weiß man Abhilfe: Mit dem Igelbus, jenen Linien, die auf die Berge Lusen und Rachel fahren und auf den wenigen erlaubten Straßen am Rand des Nationalparks Bayerischer Wald. Im Zug gibt es Begleitpersonal. Die Fahrkarte wird noch wie früher bei diesen Menschen gelöst. Sie lösen auch dein Problem, wenn du eins hast, geben Auskunft, scherzen manchmal, um die Leute bei Laune zu halten. Die Schaffnerin reicht mich an einen Fahrgast weiter: Der da, der kennt sich aus!, und so steige ich mit dem Mann in Spiegelau aus, er dreht mich in die Richtige Richtung, dort, bei der Bushaltestelle. Kommt gleich. Im Bus gehts genauso weiter. Der fährt nämlich gar nicht zum Nationalparkcenter. Es gibt keine direkte Verbindung dahin. Man muss umsteigen (falls Ihr jemals im Nationalpark seid und Bus fahrt, merkt Euch die Haltestelle Diensthütte. Sie scheint Dreh- und Angelpunkt zu sein. Das Dubai des Bayerischen Walds sozusagen).

Diensthütte umsteigen in den Lusenbus, der hinauf zum etwa 1300 Meter hohen Berg fährt, Wanderer hinbringt, abholt und wieder runter über Diensthütte dann zum Nationaparkzentrum.

Ein schön organisiertes Besucherzentrum mit Museum im Dr. Eisenmann-Haus, jenem Minister, der in den 1960er-Jahren diesen ersten deutschen Nationalpark maßgeblich initiiert hatte. Draußen ein Freigehege für Wild – man muss Glück haben, welches zu sehen. Die Gehege sind groß. Dann ist da noch ein Pflanzenpark und ein geologischer Rundweg und als Krönung der Baumwipfelpfad.

Der gehört einer Baumwipfelpfad-Kette, die auch in Österreich und Teschchien und in der Slowakei Baumwipfelpfade betreibt.

Für 9,50 komme ich rein und spaziere überm Wald bis zum Finale, einem Turm, der sich wie ein Ei um eine Baumgruppe legt. Alles ist barrierefrei. Man kann mit dem Rollstuhl oder Krücken bis ganz hinauf und hat einen prima Blick über den Nationalpark und bei gutem Wetter bis zu den Alpen. Am Holzgeländer sind pfeilförmige Plaketten angebracht, die zeigen, in welcher Richtung welche Stadt liegt, welcher Berg. Zwieselau ist etwa zwanzig Kilometer entfernt. Der Arber, höchster Berg der Gegend ist nicht sichtbar, aber die Richtung, in der er liegt, ist markiert. Er liegt nördlich hinter dem Rachel. München, Passau, Lusen und Rachel, viele kleine Orte der Gegend sind markiert. Finsterau und Mauth dürfen nicht fehlen. Bemerkenswert ist, das fiel mir schon am Baumwipfelpfad Saarschleife auf, es gibt Hinweise auf andere Baumwipfelpfade. Die Saarschleife ist nur 510 Kilometer weiter westlich.

Dies ist der Tag des Künstler-in-die-richtige-Richtung-Drehens. Zurück geht die Reise auf ähnliche Weise. Ich frage mich bei Mensch um Mensch von Ort zu Ort, lande schließlich in Grafenau, dem Endhaltepunkt der Linie drei der Waldbahn. Kein Wunder, dass mir alle so bekannt vorkommen. Ich habe den halben Bayerischen Wald befragt, um meinen Weg zu finden. Der Mann auf dem Rewe-Parkplatz ist derjenige, der mich in Spiegelau in die richtiger Richtung drehte. Der Busfahrer, mit dem ich über Porschetraktoren und Walter Rörl redete, hatte im Bus wegen des Fahrlärms recht laut geredet, ab und zu in den Rückspiegel blickend, Kontakt aufnehmend und hier im Café flüstern wir beinahe.

Die Waldbahn ist ein wunderbares Phänomen. Ich glaube nicht, dass wir schneller als fünfzig, sechzig Sachen auf der geschwungenen Trasse dahin fahren. Es geht familiär zu und unheimlich entspannt. Für den Moment denke ich, das ist es, was die Welt braucht: Entschleunigung, mehr Unsicherheit (so verrückt das klingt, im Sinne von weniger Durchtaktung), Ungewissheiten, Fragen, Langsamkeit, viel mehr Herz und Zwischenmenschlichkeit, anstatt abgehetzt und geschunden zwischen Maschinen und Automatismen hin und her zu hecheln.

Zurück auf dem Campingplatz erwartet mich eine Überraschung. Eine Gruppe mit drei Wohnwagen richtet gerade ihre Wagenburg ein. Ich weiß nicht, was mich so beklommen macht, aber ich glaube, es ist genau das, dieses Wagenburgbauen, dieses Grenzen errichten, dieses Hier-sind-wir-wer-seid-ihr-denn-Gebare. Drei riesige schwarze Hunde an langen Leinen bellen sich warm. Fast wie Schach, denke ich, wie sie die Hunde positioniert haben und nun stellen sie die Wohnwagen zur Rochade um.

Es ist fast 17 Uhr. Sieht nach Regen aus. Ich habe die nächste Nacht noch nicht bezahlt. Die Platzwartin war noch nicht da.

Es soll ja noch einen Campingplatz geben in Zwiesel, fünf Kilometer entfernt.

Schnell gepackt und los.

Den Campingplatz in Zwiesel gibts nicht mehr. Der nächste wäre in Regen. Elf Kilometer. Ich stelle mich auf Wildzelten ein, radele Richtung Regen. Nieselregen setzt ein. Regenklamotten anziehen unterm Dach der Bushaltestelle beim Krankenhaus. Weiterradeln. Plötzlich ein Schild Richtung Bahnhof. Nur ein Kilometer bergab. Hey, Mann, hast ja noch das Tagesticket der Waldbahn, könntste doch …

Und so kommt es wie es kommt. Schon stehe ich gegen 19 Uhr am Bedarfsbahnhof Bettmannssäge, einem winzigen Weiler. Weiß ja nun, wie das funktioniert. Dasein. Einsteigen, weiterfahren. Rausche durch bis Plattling.

Das liegt an der Isar, kurz vor deren Mündung in die Donau. Es gebe zwar keinen Campingplatz, aber bei der Isarwelle würden oft die Surfer mit ihren Caravans wild campieren, erzählt mir ein Fahrgast.

Obendrein lädt er mich während der einstündigen Fahrt zu einem verbalen Ausflug nach Berlin ein, ein Hausprojekt, faszinierende Geschichte, andere Geschichte.

Abstand zum Mittelpunkt Bayerns bei Kipfenberg 110 Kilometer.

Nationalpark-Radweg | #UmsLand Bayern

Liege im Zelt auf dem Rücken. Schaue in die Apsis. Die Sonne hebt sich aus dem Morgen. Ganz wie ich es gestern berechnet hatte, scheint sie über den Mühlbach zwischen den beiden Birken hindurch direkt aufs Zelt. Nachttau verdunstet. Die ersten Käfer verirren sich die Zeltwand hinauf ins – für sie wohl fraktale – Gewinde des fremden Universums, das sich über ihren Höhlen wie aus dem Nichts aufgebaut hat. Ob die Insekten dieses Universum erkunden? So wie ich Bayern? Ob sie eine Vorstellung von dem haben, worin sie sich befinden, wo die Grenze ist, wo der Ausweg, wo das Zurück?

Der Mühlbach plätschert gegen das Zischen der Bundesstraße an, die um die Frühstückszeit deutlich an Wucht gewinnt.

Die gestrige Etappe von der Šumava oberhalb Finsteraus über Mauth, Spiegelau und vorbei an Frauenau führte sehr oft an dieser Straße entlang. Dieser oder einer anderen Straße, die wie scharfe Klingen am feinen Hals des Naturidylls und Nationalparks Bayerischer Wald liegen. Hier die Straße, das Gezeter, der Dieselruß und jenseits meines fast immer ungeteerten Radwegs dichter, naturbelassener Wald. Abgebrochene Bäume. Felsen, Tümpel. So als habe Gott als kleines Kind hier gespielt und nicht aufgeräumt.

Was heißt nicht aufgeräumt? Was aufgeräumt bedeutet, liegt ja im Auge des Betrachters.

Ist das, was der Mensch gesäubert und aufgeräumt hat, der erstrebenswerte Zustand? Parzellierung, Aufteilung, Grenzen ziehen, Verbote aussprechen, Gesundes in zwei Hälften teilen mit der scharfen Teerklinge namens Fernstraße absolut naiv annehmen, dass daraus zwei Gesunde entstehen?

Die Narbe sind wir selbst, die wir immerzu von A nach B wollen – und das schnell und ohne ausgebremst zu werden.

Von der ehemaligen Zonengrenze rausche ich über Finsterau hinab ins Tal, stets auf einem schmalen Teerweg im Wald, vorbei an einem Freilichtmuseum. Das Museum ist zwar um halb zehn schon geöffnet, aber das Café, nachdem ich mich sehne, macht erst um 12 Uhr auf. Weiter abwärts bis kurz vor Mauth. Der Nationalparkradweg ist sehr gut beschildert, würde mich an Mauth vorbei durch den Wald führen.

Eine junge Frau erzählt mir, dass in Mauth an diesem Sonntag Markttreiben ist. Ein Umzug zieht durchs Dorf. Oben bei der Kirche gebe es auch ein Gasthaus und eine Konditorei. Konditorei, Kuchen, lecker.

Einen halben Zweibrücker Kreuzberg schwitze ich hinauf ins noch morgenverschlafene Dörfchen, doch der kommende Umzug wirft schon seine Schatten voraus. Vor der Feuerwehr bei der Kirche haben sich schon einige Menschen versammelt. Dirndln und Lederhosen. Es gibt sie tatsächlich. Das ist nicht nur ein Bayernmythos. Ich erlebe die Menschen in ihrem Festtagsstaat.

Als ich bei der Konditorei ankomme, völlig außer Puste, kommt gerade der Chef heraus, hält inne, magst an Kaffee. Jaaa. lechze ich. Da schließt er noch einmal auf, versorgt mich mit Kuchen und Apfeltasche und einer riesigen Schale Milchkaffee. Er ist selbst Radler, sagt er, und da weiß er wie das ist, wenn man außer Puste vor verschlossener Tür steht. Offiziell öffnen sie erst um 12 wegen des Umzugs und des Markttreibens. So, jetzt aber schnell schnell, so geht er nach Hause, um seine Festkleidung anzuziehen, während ich bloggend die Außenterrasse hüte.

Nach Mauth findet man am Nationalparkradweg nichts Besonderes. Nur Waldwege, keine einzige Parkbank auf den zwanzig Kilometern bis Spiegelau. Ein sanftes Auf und Ab unter dem Knirschen der Reifen auf Waldwegekies. Vermutlich haben die Planenden des Nationalpark-Radwegs eine Koombination aus Forstwegen und Loipen meist entlang der Straße mit Radwegeschildern versehen.

Einzig das Nationalpark-Zentrum am Lusen, etwa zur Mitte zwischen Mauth und Spiegelau ist eine kleine Ablenkung. Baumwipfelpfad. Restaurants, viele Leute. Würstchen kaufen, essen, rumlungern, beobachten, danach ist mir. Aber die Schlange beim Imbiss ist ewig lang, so dass ich weiterrolle, vergeblich auf der Suche nach einer Parkbank zum einfach nur Rumliegen und in die Wipfel starren.

Erst gegen Spiegelau gibt es wieder von Menschen für Menschen gemachte Areale. Ein Lauschplatz mit riesigem Trichter, durch den man in den Wald hinein lauschen kann. Eine Weile ruhe ich an einer Fichte hockend – auch hier keine Parkbank – und übertrage die Daten vom Smartphone auf den USB-Stick. Muss auch mal sein, Datensicherung. Von Spiegelau tosen Lautsprecherstimmen durch den Wald. Die Waldakustik ist wirklich berauschend. Ganz besonders. Ich kann es nicht beschreiben. Als würde man in einem riesigen Fass stehen und der Ton bricht sich zigfach. Ich verstehe nicht, was die Lautsprecherstimmen sagen. Aber als ich gegen 15 Uhr den Ortsrand von Spiegelau streife, kommen mir hunderte Menschen entgegen. Die Feuerwehr regelt den Verkehr. Was ist das? Volkslauf? Nahahaein, sagt ein Feuerwehrmann, ein Footballspiel. Football wie Football frage ich, ja, Football. Dann habt ihr hier eine Footballmannschaft? Jahahaha.

Trotzdem radele ich weiter, obschon so eine Show mit typisch Football, so wie ichs mir vorstelle, bestimmt ganz interessant wäre. So etwas habe ich noch nie gesehen und im Bayerischen Wald auch nicht erwartet.

Jenseits von Spiegelau ruhe ich auf einer Parkbank ein wenig, schließe die Augen. Ein Bus donnert vorbei und noch einer und noch einer in regelmäßigem Takt. Der Nationalpark wird nicht nur behütet wie ein Augapfel, er wird auch reguliert für den Tourismus erschlossen. Es muss sich wohl um die Ringbuslinie handeln, die ab Spiegelau zum Baumwipfelpfad und zu den Bergen Rachel und Lusen führt. Immer wenn ein Bus vorbeifährt auf der zwanzig Meter entfernten Teertrasse, vibriert der Boden wie Turnhallenboden, so weich, wie Torte aus Teer.

Weiter gehts nach Frauenau, also eigentlich an Frauenau vorbei, das unterhalb meines Forstwegs namens Nationalpark-Radweg liegt. Erst in Oberfrauenau finde ich ein Restaurant direkt am Weg, gönne mir ein Essen, weil Sonntag ist, lade die Powerbank, die sich dummerweise in der Satteltasche eingeschaltet hatte und sich in den letzten zehn Tagen selbst entleerte.

Der Forumslader kommt die letzten Langsamtage auch nicht nach mit Laden. Ich kriege ein Stromproblem.

Eine Pension oder ein Campingplatz wäre gut. Nein, wir vermieten keine Zimmer, sagt der Gastwirt, aber da unten, Zwiesel, da hats Campingplätze.

So radele ich als schweren Herzens abwärts (’niemals an Höhe verlieren!’) und quartiere mich auf dem Campingplatz Green Village, direkt am Kleinen Regen ein.

Wenn dies mein Universum ist, so wie die doppelte Zeltwand das Zufallsuniversum zahlreicher Käfer geworden ist, und wir alle nach einem Ausweg suchen, so wo ist dann mein Ausweg? Zwischen den sonnenbeschienen Zeltplanen immer Richtung Licht, gibt es da auch noch andere Wege, frage ich mich, nicht zuletzt im Hinblick, dass ich während dieses Abschnitts nie und nimmer die Runde um Bayern zu Ende bringen kann. Ich muss irgendwann abbrechen, aussteigen, zur Erde zurückstürzen, in den Alltag zurückkehren, um neu zu beginnen. So – wo gehts hier raus?

Die Antwort fließt wohl direkt neben meinem Zelt, oder sie tutet warnend vom Schienenstrang.

Ich beschließe, einen Tag Pause einzulegen und einen Abstecher per Bus und Bahn ins Nationalparkzentrum zu machen.

Bordelle, Tand und schöne Lande | #UmsLand Bayern

Hin und wieder bezeichne ich die Kreuzbergstraße in meiner Heimatstadt Zweibrücken als steilste Straße der Stadt. Sie führt fast schnurgerade vom Herzogplatz und dem alten Brauereigelände hinauf auf den Kreuzberg, auf dem sich die Fachhochschule der Stadt befindet. Ich weiß nicht genau, wieviel Prozent Steigung die Straße hat. Mit einem größeren als dem ersten Gang, kann ich sie jedenfalls nicht hinaufkurbeln. Das kurze Stück Straße überwindet eine Höhe von etwa 80 Metern und im weiteren Velauf kommen noch einmal etwa 40 Höhenmeter hinzu, bis ich mich von der Innenstadt hinaufgeschuftet habe nach Hause. Unterwegs in der Fremde radelnd nehme ich gerne den Zweibrücker Kreuzberg als Maß für die zu überwindende Steigung.

Am gestrigen Morgen, erinnere ich mich schmerzlich, habe ich mit Gewissheit mindestens drei Zweibrücker Kreuzberge in den Schenkeln, als ich nach 13 Kilometern von meinem Wildzeltplatz auf der Wiese des Landwirts, der mit einer Remscheiderin verheiratet ist, das Ende des Donau-Wald-Radwegs in Jandelsbrunn erreiche. Inständig bete ich unterwegs, dass der Folgeradweg, der Adalbert-Stifter-Radweg ein Bahntrassenradweg ist. Und zwar ein richtiger Bahntrassenradweg, nicht Zahnrad. Mit höchstens drei, vier Prozent Steigung, Tunneln und Brücken …

Haidmühle, etwa anderthalb Stunden später. Jackpot. Der Adalbert-Stifter-Radweg führt tatsächlich auf einer alten Bahntrasse geschwungen stets gleichmäßig steigend aufwärts. Dritter Gang ist mein zweiter Vorname. Einfach ist es nicht, aber erträglich. Und die Landschaft durch Fichtenwälder, hoch auf dem Bahndamm über die vorbeilaufenden Dörfchen blickend, ist ein Genuss.

Adalbert Stifter, dem der Radweg gewidmet ist, wurde Anfang des 19. Jahrhunderts hier im Böhmerwald geboren. Auf einem Themen-Wanderweg erfährt man auf etlichen Schautafeln, die mit Zitaten Stifters garniert sind, allerlei über den Künstler, Literaten und Pädagogen. Dass er Kunst und Literatur schuf, begeistert mich insofern, als es auch genau mein Genre ist. Schon dichte ich ihm kurbelnd über den Kies des Radwegs eine Art Urvaterschaft des Appspressionismus an, ein Mensch, der die Mittel seiner Zeit nutzte und kreativ kombinierte und dabei ein künstlerisch-literarisches Gesamtwerk schuf.

Was wohl, wenn Stifter unsere heutigen Mittel zur Verfügung gehabt hätte, Smartphone, Kommunikation, multiple Apps, mit denen er sich nach Belieben eine Schreib- und Malpalette zusammenstellen könnte und im Hintergrund ein robustes Blog als Mittel des künstlerischen Ausdrucks?

„Waldtraktor steht hinter Waldtraktor, bis einer der letzte ist und den Himmel, nein den Baum, abschneidet, denn der letzte ist ein fieser Harvester …“ verhonepipele ich ein Adalbert-Stifter-Zitat. Vielleicht hätte er es gemocht?

In Haidmühle führt ein Teerweg bis zur Grenze, kurz vor der Grenze ein Parkplatz. Mit dem Auto darf man da nicht durch. Es geht nur zu Fuß oder per Rad nach drüben.

Der Parkplatz ist rege belegt und ich sehe schon warum. Menschen mit Plastiktüten und Zigarettenstangen kommen mir entgegen. Drüben befindet sich neben einem Bahnwagen, in dem ein Café-Imbiss ist auch ein Shop und etwas weiter eine Pension mit Restaurant. Die Leute schwappen herüber, um billig zollfrei einzukaufen.

Es hat etwas Schmuddeliges. Wie Männer, die sich aus Sexshops herausschleichen mit anonymen Tüten voller Wasweißichs.

Ein tschechischer Radler klärt mich ein bisschen auf, ich solle ein Bier trinken hier. Er prostet mir mit einem bauchigen, fast kugelrunden Glas zu. Die kalte Moldau sei dies hier. Ein Hochland, umringt von Fichtenwäldern, weit geschwungen, darin die alte Bahnlinie und ein winziger Bachlauf.

Von der Bahnlinie gibt es nur noch einen Kopfbahnhof, der beim Kiosk liegt und einen Fetzen alter Bahnlinie direkt an der Grenze. Die kürzeste internationale Bahnstrecke der Welt (siehe Bild im Blogartikel zuvor). Transportsfahrzeug ist eine winzige Dampflok. Die Schienen sehen marode aus.

Weiter gehts durch Tschechien auf der Šumava-Tour, so zumindest ist sie im Internet ausgewiesen. Tatsächlich folge ich etwa dreißig Kilometer den Schildern des Eurovelo 13. Einzige größere Siedlung am Weg ist Strážný, ein ehemaliger oder gar immernocher Skiort, der aber nun ein Billigtandkundentrampelpfad geworden ist. Wunderbare, seltsame Waren von Körben über Gartenzwerge, Blechzeugs, Kunststoffmissratenheiten bilden ein Spalier des unwiderstehlich Günstigen. Dazwischen Zigaretten, Alkohl, Parfüm und auch ein, zwei Bordelle.

Gut dreißig Kilometer führt die Šumava-Tour entlang der Grenze durch Niemandsland und Bäume. Auch hier gehen mir der eine oder andere Zweibrücker Kreuzberg in die Knochen.

Am Abend lande ich wildzeltend auf 1100 Metern Höhe auf einer offen gelassenen Kuhweide zwischen riesigen Felsbrocken, Moos und viel Stille.

Ich schätze, dass ich etwa 1000 bis 1200 Höhenmeter geradelt bin. Zum Mittelpunkt Bayerns sind es 160,4 Kilometer.

Auf dem Donau-Wald-Radweg ins Dreiländereck | #UmsLand Bayern

Murmelnder kleiner Bach hinterm Zelt. Man habe Flusskrebse darin angesiedelt, sagt mein Host für diese Nacht. Der Bach speise seine Fischteiche, die direkt unterm Wald an der österreichischen Grenze liegen. Ein bisschen weiter, dort unten, die Kapelle, die ist schon in Österreich. Brauchst noch irgendwas?, fragt der Mann. Mit dem Firmentranstporter parkt er auf der Wiese, dort wo mein Fahrrad steht, dort wo ich das Zelt aufbauen darf. Er war neugierig und kam noch einmal zurück, um meine Geschichte zu hören. Zuvor hatte ich ihn angesprochen, als er noch mit dem Traktor die weitläufige, mehrere Hektar große, frisch gemähte Wiese beackerte. Obs denn ein Platz fürs Zelt gäbe. Ja freili! Um Zeltmöglichkeiten muss man sich hier im Dreiländereck nordöstlich von Passau wahrlich keine Sorgen machen. Wiesen so weit das Auge reicht zwischen Wäldern, meist Nadelgehölz, so weit das Auge reicht. Dazwischen wie mit impressionistischem Pinsel dahin getupft einzelne Gehöfte. Kaum befahrene Sträßchen.

Viele Stunden zuvor erreiche ich Passau auf dem Innradweg, der ab Neuburg über einen holprigen, verwurzelten Waldweg führt, vorbei an riesigen, glazialen Felsgebilden. Hie und da sind Kletterstrecken eingerichtet. Spuren von Haken sichern die Routen, die teils an der glatten Wand hinauf führen. Unten fließt ruhig der Inn, stürzt sich kurz vor Passau über ein finales, vielleicht sechs bis zehn Meter hohes Wehr mit Getöse auf Donauniveau.

Passaus Altstadt liegt auf der Spitze zwischen dem Zusammenfluss. Auf der anderen Donauseite mündet noch die Ilz. Welch faszinierender Dreiklang von Flüssen, denen allen noch deutlich das Hochwasser der letzten Tage anzusehen ist.

Einen Stadtspaziergang lasse ich mir nicht entgehen, durch teils nur meterbreite Gässchen. Von der hoch frequentierten Straße gehts schiebend Richtung Dom. Da, ein goldenes Dacherl. Ist das echt, frage ich die Bedientochter des Restaurants, das sich im Gebäude der ehemaligen ‚Goldenen Waage‘ eingerichtet hat. Ja freili. Blattgold. Wie in Innsbruck. Das kleine, runde Vordächlein hängt hoch genug, dass niemand es mitnehmen kann.

Eine Stadtführung. Knappes Dutzend Menschen in Motorradkluft, die aufmerksam der Touristenführerin zuhören, die die Geschichte der Wiegestation erzählt.

Auf dem Marktplatz hinterm Dom wird das ganze Ausmaß des Touismusführungsrudellaufs offenbar. Noch mindestens drei weitere geführte Gruppen tummeln sich. Wenn ich nur geschickt zwischen den einzelnen Führungen hin und her lausche, und den meist weiblichen Führerinnen – teils auf Deutsch, teils auf Englisch – gut zuhöre, kann ich mir die Geschichte Passaus in Windeseile draufschaffen, mein Tourismusführer-Diplom machen und für immer hier bleiben.

Schon schlägt mein clowneskes Hirn Kapriolen und denkt sich, ich könnte auch die Führung mit dem Passau-Wissen in Zweibrücken machen. Die Idee einer Fake-Touristentour mit völlig frei erfundenen Geschichten – natürlich öffentlich bekannt, ohne Verarsche – schwebt mir schon länger vor. Tourismusführung im Postillon-Stil.

Die englische Gruppe nähert sich. Die Führerin spricht mich an, Sie mit ihrem schweren Radl, was machen Sie? Where are you heading today, what’s your mission usw. Sehr gut. Baue spontan Dinge und Menschen in dein Programm ein, die normalerweise nicht in der Stadt vorkommen, die nicht zum Programm gehören. Das würzt die ganze Chose perfekt ab.

Zum Glück trage ich mein UmsLand/Bayern-T-Shirt mit Tourplan und Umriss meines Vorhabens. So skizziere ich kurzerhand mein Vorhaben, zeige aufs T-Shirt, look, here we are now. Last year I did this, fom Rossenbüarg ob the Tauber, you know, to Lake Constance. One week ago I started here, passed the alps – ihre Augen folgen meinem Finger auf dem T-Shirt – and now, Pässau. Am writing a book about Bavaria, füge ich noch nonchalant hinzu.

Woher sie denn kommen? America. California, präzisiert eine Frau.

Und schwupp weiter im Gemahle zwischen Touristenführungen und Caféterrassenalltag zu Füßen des gerade in Renovierung befindlichen Doms. Man baut den Dom barrierefrei, erzählt mir später ein Radler, der sein Sportdreirad mit Handkurbeln bedient. Kilometerweit folgt er meinem Windschatten am nicht sehr schönen Donauradweg bis fast nach Obernzell, barrierefrei macht man den Passauer Dom. Für Hörgeschädigte, Rollstuhlfahrer und Blinde.

Die engen Gassen unter dem Dom sind ein akustischer Genuss, zumindest dort, wo keine Autos fahren dürfen. Es herrscht vermutlich eine Akustik ähnlich wie die Gerüche auf einem orientalischen Markt (bzw. so, wie ich mir die Gerüche auf einem orientalischen Markt vorstelle: üppig, unendlich reich und vielfältig).

Ab Obernzell biege ich auf den Donau-Wald-Radweg ein, der das steile Donautal nordwärts verlässt. Am Grießenbach führt eine konstant steile unbefestigte Trasse bergauf. Erster Gang. Verflixt. Das ist keine normale Bahnstrecke, diagnostiziere ich, das sind mindestens sechs Prozent Steigung. Nicht enden wollend. Über zahlreiche Treppen im Abstand von wenigen Metern stürzt der Bach und rauscht und stürzt.

Ein altes Muttchen spaziert vor mir her. Ich kann sie nicht einholen. Zu oft muss ich das Radel stoppen, verschnaufen, und was solls, ist ja schön hier. Schäfchenweiden, Jungvieh. So niedlich. Hie und da schwätze ich mit Passantinnen und Passanten. Liebkose mich dementsprechend den Berg hinauf und stehe in Untergrießbach doch tatsächlich vor einem großen Edeka-Markt. Mit Café. Mit Kaffee. Mit Erdbeerkuchen. Mit Sitzgelegenheit.

Ich hatte im Dreiländereck eigentlich nichts erwartet außer ein Gasthaus hie und da, vielleicht einmal ein Dorfladen, der von vier bis sechs auf hat, aber keine großen Lebensmittelversorger.

Auch in Wegscheid, Kilometer später, sehr hoch gelegen auf über 700 Metern, gibt es alles, was die Radlerbübcheninfrastrukturphantasien sich erträumen. Einkaufen bis acht, Kuchen essen usw.

Aber hart erschwitzt. Der Donau-Wald-Radweg führt auf und ab und die Steigungen sind fast grundsätzlich kaum fahrbare Erster-Gang-Steigungen. Nach der ehemaligen Bahnlinie folgen kleine Sträßchen. Nur ein, zwei winzige Stücke von ein paarhundert Metern auf stärker befahrenen Straßen.

Die österreichische Grenze ist nah. Manchmal gibt es Beschilderungskonflikte mit der ähnlich verlaufenden Zwei-Länder-Radroute. Gut, dass ich den GPS-Track auf dem Smartphone habe.

Nun sitze ich im Zelt am Waldrand neben dem Bächlein, in das man Krebse ausgesetzt hatte und das den Fischteich meines Hosts speist, schreibe diese Zeilen, koche Kaffee und lausche dem Surren der Heuwender, die sich des weitläufigen Wiesengeländes annehmen.

Jandelsbrunn, mein gestriges Tagesziel ist noch etwa 12 Kilometer entfernt. zum Mittelpunkt Bayerns – ich kann es nur immer wieder gebetsmühlenhaft erwähnen, irgendwo zwischen Ingolstadt und Nürnberg – beträgt die Distanz 179,4 Kilometer Luftlinie.

Wie Tennis aus Sicht des Balls | #UmsLand Bayern

Augen zumachen und sich voll und ganz auf das Konzert der Natur konzentrieren. Dabei schön die gerade Linie halten, ruhig pedalieren und das Knacken der Reifen auf dem Kiesweg als Hintergrundmusik hinnehmen. Das wärs. Nicht!

Der Weg ist schmal und rechts und links geht es steil die Dammkrone hinab. Rechts würde man mitsamt Radel und Gepäck direkt im Inn landen, links käme man mit etwas Glück unversehrt nach etwa zwanzig Metern auf einem anderen Kiesweg zum Stehen. Über viele Kilometer stört kein unnatürliches Geräusch auf dem Inndamm. So etwas findet man selten. Der Radweg führt durch Auenwälder, meist Weiden, Schilf und Tümpel. Vogelstimmen, Froschgequake. Leise murmelt der Fluss, der noch immer Hochwasser hat. Manchmal stört ein Flugzeug das Konzert.

Die gestrige Etappe führte bis auf wenige Orte – Simbach ist einer davon – abseits der Zivilisation. Normalerweise können mich solche ebenmäßig geplanten Dammradwege ziemlich anöden, aber dieser hier ist anders. Ist es sein Friede, den er ausstrahlt oder liegt es daran, dass die letzten Tage in den Bergen so heftig waren, dass ich dieses friedvoll dahin treibende Stück Radweg einfach nur genieße? Wie nach langer abenteuerlicher Tour wieder mal einen Tag auf dem heimischen Sofa sitzen?

Wie auch immer.

Die österreichische Grenze ist nah. Gegenüber Simbach liegt Braunau. Der markante Kirchturm ragt hoch hinter den Weiden am Fluss. Baustelle. Bagger. Zwischenlärm.

Wem es zu langweilig wird auf dem Damm, der kann auf andere Radwege ausweichen, die auf kaum befahrenen Sträßchen durch die Dörfchen führen. Es lohnt sich. Kirchen, Cafés, winzige Dorfläden. 

So lasse ich mich gestern fast achtzig Kilometer Richtung Passau treiben und die Entscheidung, ob ich den ‚Rücksturz zur Erde‘ mache und mich ab Passau auf dem Donauradweg zurück Richtung Schweiz oder der heimischen Pfalz mache, oder ob ich weiter radele wie geplant, scheint nachmittags sonnenklar: natürlich weiterradeln!

Heute Morgen, nachdem ich im Garten privat bei Gerhard, dem Theatermacher, untergekommen war, ist die Frage wieder ganz offen. Ein Teil von mir sagt, radele unbedingt weiter, du weißt, wie schwer es ist, nach einer Pause in eine schon begonnene Reise wieder einzusteigen.

Ein anderer Teil aber sagt, machs wie der Berliner (siehe in den Blogartikeln zuvor), lass dich treiben. Wirds zu steil oder irgendwas sonst passt nicht, passe deinen Kurs an.

In Neuburg sitze ich in der Bushaltestelle im Schatten, schreibe diese Zeilen. Jemand mäht Gras. Autos brummen vorbei. Gummi auf Kopfsteinen. Ein Bus. Der Fahrer beäugt mich, ob ich ein Gast bin, der mitfahren will, bemerkt das Radel, rollt langsam vorbei. Die Blicke der wenigen Gäste kleben an mir. Fast wie beim Tennis bewegen sich die Hälse. Nur, dass es nicht der hin und her flitzende Ball ist, dem die Blicke folgen, sondern der da sitzende – ja was macht der Typ denn da? – Radler und das Publikum ist es, das sich bewegt und weshalb die Hälse … für mich ist das wie Tennis aus der Perspektive des Balls.

Der Lärm nervt. Wenn man einmal den Nichtlärm gehört hat. Noch etwa zehn Kilometer bis Passau (wo es übrigens entgegen aller Antworten aller Passantinnen und Passanten, die ich fragte, doch einen Campingplatz gibt. Es ist ein Kanuklub-Camping an der Ilz, den kaum jemand kennt, verriet mir Gerhard. Irgendwie erinnert mich das an die Paddler von Ulm bei denen ich im ersten Tourabschnitt, letzten Sommer zeltete).

In einer halben Stunde weiß ich, welche Wendung meine Tour nimmt.

Bis zum Mittelpunkt Bayerns bei Kipfenberg sind es heute 157,8 Kilometer.