Mainz – alle wollen mitpilgern …

(… und das tut ja so gut, liebe Freundinnen und Freunde!)

Der Jakobswegplan verdichtet sich. Und er entwickelt eine Eigendynamik, die mir nicht gerade lieb ist. Ich bin in einer seltsamen Stimmung. Tod und Verwelktes gaukelt über allem. Ich kann nicht sagen, dass ich unglücklich, depressiv oder hoffnungslos bin. Es ist vielmehr so: da ist etwas Unausweichliches, kriecht langsam auf mich zu, ohne dass ich es sehe, aber ich spüre mit jeder Zelle, dass es da ist, kann es nicht beschreiben.

Frühmorgens erwachte ich aus den seltsamsten Alpträumen seit Langem, kochte, noch im Halbschlaf, einen Kaffee, schürte den Holzofen und noch ehe ich mein Ich halbwegs rekonstruieren konnte, wurde mir klar, dass Träume die letzte Bastion des Geheimnisvollen sind. Alles andere, bilde ich mir zumindest ein, habe ich erklärt. Alles andere stellt kein Rätsel mehr dar und es macht auch keinen Reiz, seine schwindende Lebenszeit in die Erklärung offensichtlicher Dinge zu verschwenden. Meine Träume, insbesondere, wenn sie mich, so wie heute Morgen, in einem verängstigten, schutzlosen Zustand in die Welt spucken, sind die neue Hürde, die es zu nehmen gilt.

Schludrig wie ich bin, schiebe ich den seltsamen Gemütszustand darauf, dass ich mich mit der angekündigten Live-Reise auf dem Jakobsweg einfach viel zu weit hinaus gewagt habe, dass ich gegen meine stille und sorgsame Natur gehandelt habe, mich selbst viel zu sehr unter Druck setze und der ganze technische Klumbatsch mit dem iPhone und den Apps, der nicht so recht funktionieren will, tut sein Übriges. Ich bin ja sooo einfach gestrickt, wie ich im Auto gegen Mittag die Sickinger Höhe erklimme und Richtung Mainz rase, noch immer dieses seltsame Gefühl des Alpdrucks im Genick. Träume, so sagt man, kann man auf ganz einfache Weise deuten: nicht etwa, wie man das in Esoterik-Kreisen anhand von beschreibenden Büchern mit typischen Traumbildern tut: Pferd reitet durch Feuer, Mann mit Schwert verfolgt dich, flatterndes schwarzes Gewand, in dem ein gesichtsloses Wesen steckt, starrt einen unentwegt an. Vergiss den Esoterik-Quatsch. Jeder Mensch entwickelt seine eigene Traumbild-Sprache und somit ist für den einen der Löwe vielleicht das, was für den anderen der Hamster ist. Alles nur eine Frage der Übersetzung. Während ich an einem einsamen Gehöft in der Nähe von Landstuhl vorbei rase, wird mir klar, dass man sich in der Traumdeutung unbedingt von jeglichem Bild lösen muss. Alle Bilder sind nur dazu da, um dich zu verwirren und einen Alptraum kannst du nur dann richtig deuten, wenn du die Spur des Gefühls aufnimmst, das du hattest, just als du aus dem Traum erwachtest.

Das ist kein leichter Weg. Wer stellt sich schon gerne seinen Gefühlen?

Die 130 Kilometer bis Mainz durchquerte ich oktobergoldene Wälder und mehr als Einmal war ich versucht, zu stoppen, die Pracht in vollen Zügen zu genießen, sie zu fotografieren, festzuhalten, zu bannen. Bis zur A6. Gemetzel. Das Angenehme, wenn man so wie ich den Weg geht, den Lebensweg oder auch nur den Fetzen Autobahn, der vor einem liegt, um von Ort A nach Ort B zu kommen, ist, dass die Benutzung des Wegs und die damit verbundene Ablenkung einen beruhigen und einen aus den Tiefen der eigenen maroden Seele retten kann. Ich vergaß den mächtigen Alptraum, der mich den ganzen Morgen begleitet hatte, nicht ohne mir zu merken, warum ich ihn überhaupt hatte:

Alle Sorgen, alle Ängste und alle Zweifelhaftigkeiten, die ich mir derzeit aufbaue wegen der Jakobsweg-Direkttour, sind nur eine Ablenkung von dem Tiefgründigeren, was hinter der Sache steht. Das müsst ihr nicht verstehen. Aber vorhin, auf dem Weg nach Mainz zu den lieben und guten Freunden, ist mir klar geworden, dass es in der Reiseaktion gar nicht darum geht, zu erforschen, ob es möglich ist, konsequent täglich Reiseberichte via iPhone, ausgestattet mit dem High-End-Bereich der heutigen Technik, zu senden. Es geht viel tiefer, und das macht mich so verletzlich. Es geht nun um den Kern meines Wesens, um mich selbst. Welch Hohn, Herr Irgendlink tut das, was er hätte schon vor 20 Jahren tun sollen: er findet sich selbst (oder er verliert sich? Was weiß denn ich.)

In Mainz mussste ich wieder ein bisschen den Mutigen spielen, und als ich mit Brandstifter und geliebtem Freund QQlka durch die Gassen streifte, schwadronierte ich natürlich über das Jakobsweg-Live-Reise-Projekt, kramte bei jeder Gelegenheit das iPhone herraus und prahlte, wie großartig das doch ist, was man mit dem kleinen Telefoncomputer alles machen kann. In der Gaugasse machte ich folgendes Bild als HDR-Aufnahme.

QQlka und Brandstifter sagten sofort, „ich pilgere mit … und ich auch“ und Goldschmiedin T. stimmte ein in den Chor und irgendwie war es ein cooles, gemeinschaftliches Erlebnis, so dass ich mich alles andere, als alleine fühlen konnte, und ich proklamierte, ich werde darüber berichten, über jeden einzelnen Tag, Mann, wie spielte ich den Coolen, den Hintern gleichzeitig auf Grundeis, an diesem absolut dünnhäutigen Tag, es sei obendrein zu erwähnen, dass man auch noch über Büssis grausamen Tod (darüber habe ich vor einiger Zeit glaub ich mal gebloggt) redete, was mir gar nicht so recht war. Wie sehr ich den Tod hasse.

Zu guter Lettzt auf meinem einsamen Rückweg über die dunkle Autobahn, dudelte im Radion, just, als ich den Donnersberg passierte, ein Bericht über Roboter, künstliche Intelligenz und den Vergleich zu uns Menschen – ein Kybernetik-Philosoph äußerte sich zum Thema Mensch und dass wir Menschen täglich in unserer Tiefschlafphase Momente erleben, in denen wir gar nicht sind, in denen es unser Ich nicht gibt und genau das –  wurde mir dann klar – das war es, was ich heute Morgen im Aufstehen empfunden habe: es gibt mich Streckenweise nicht. Ich bin im Nichts und überall, ich habe keinen Körper, ich bin so lange tot, bis ich wieder erwache.

Oke, wer glaubt schon an das Gefasel eines Radio-Kybernetik-Professors, sage ich mir nun da ich dies schreibe, aber ich habe ein bisschen Angst, einzuschlafen, in Alpträumen aufzuwachen, vielleicht mich nach dem Erwachen nicht mehr zu kennen- es könnte mir allerdings einiges ersparen ;-)

iDogma-Bild Birnbaum

Montage mit Autostitch auf dem iPhone und mit PS-Express entsättigt und geschärft. Originalgröße etwa 2000 px breit. Nachbearbeitet mit The Gimp auf dem heimischen PC. Somit ist es kein echtes iDogma-Foto, denn nur vollständig im iPhone verarbeitete und damit veröffentlichte Bilder folgen dem iDogma.

Entwurf: Große Konsumentenpumpe / 1000 Sklaven der Freiheit

Das neue, freie Leben ist noch etwas ungewohnt. Schon der heutige Feiertag macht mich ein bisschen nervös. Ich gebe offen zu, dass mir die Lohntackerei einen wunderbaren, psychischen Halt gibt, den ich als Freischaffender nicht habe. Ein Phänomen, das ich in den letzten Wochen auf der Arbeit festgestellt habe, ist das Vergessen oft guter Ideen. Morgens sprudele ich manchmal über vor Ideen. Auf dem Weg zur Arbeit über die Sickinger Höhe scheint mein Hirn auf Hochtouren zu pulsen. Weites abgeerntetes Land im Herbst, in den steilen Tälern schmiegt Nebel an den Waldrändern. Oft hat man bombastische Aussichten bis weit ins Saarland. In Käshofen, zwei Dörfer vom einsamen Gehöft entfernt, ist es mit der Weitsicht vorbei. Und oft auch mit den guten Gedanken. Dort biege ich ab auf die schmale, unfallträchtige Landstraße ins Lambsbachtal. Tal des Vergessens nenne ich es. Die Straße hat keine Markierungen, in dieser Jahreszeit liegt nasses Laub – Bauernglatteis genannt – darauf. Sie windet sich wie ein Wurm. Hinter jeder Kurve lauern Gefahren. Ich muss hochkonzentriert sein. Schon ein paar Mal hätte es beinahe gekracht. Und ich habe schon mindestens 3 Unfälle dort gesehen. Die Vernunft sagt mir, dass das Tal des Vergessens nur deshalb so vergesslich macht, weil mein Geist nicht friedlich vor sich hin trudeln kann, denn er wird beansprucht, den Körper in den Wachsam-Modus zu versetzen. Und wenn ich dann auf der Arbeit ankomme, am anderen Ende dieses Wurmlochs, bin ich selbstverständlich wie verwandelt. Dann warten die lieben Kollegen auf mich. Und es werden die Tacker sprechen. Eine laute, mantrische Arbeit, die zwar den Gedanken wieder freien Lauf lässt. Ich phantasiere oft einfach so vor mich hin und habe die ein oder andere gute Idee. Aber wenn ich sie nicht aufschreibe, werde ich mich schon nach wenigen hundert Tacks nicht mehr daran erinnern. Manchmal tippe ich ein gutes Wort ins Notizbuch des iPhones, manchmal kritzele ich etwas ins Papiernotizbuch, das mir fürs schnelle Merken zwischendurch ein guter Genosse ist. Aber die meisten Gedanken, die ich während der Arbeit hege, wäscht der Mahlstrom des Vergessens dahin. So dass ich zwar morgens passagenweise Blogartikel denken kann, und mir auch vornehme, sie abends zu schreiben. Aber solch ein Tackertag geht nicht spurlos an mir vorbei. Abends bin ich müde und leer. Ja. Leer vor allem.

Ich glaube, die Art wie wir Menschen in Deutschland leben, ist nicht förderlich für die Kreativität des Einzelnen. Manchmal habe ich den Eindruck, Kreativität ist überhaupt nicht erwünscht. Gar vermute ich, dass wir uns im täglichen Revierkampf der Kreativität befinden; dass man, wenn man selbst kreativ ist, die Kreativität der Anderen zurück drängt, weil einfach das Revier für’s Kreativsein nicht groß genug ist. Natürlich hören wir während der Arbeit in der Lohntacker-Werkstatt Werberadio. Ein interessantes Phänomen. Tagein tagaus die gleichen Lieder, die gleichen Slogans, die gleichen einfachen Gewinnspielchen; heimlich reiben sie dir ihre Parolen zwischen die Hirnwindungen. Kauf! Und untermalen das Ganze Gewerbe mit eingängigen Popsongs. Nachts dudeln mir die ewig gleichen, seichten Lieder im Kopf. Es ist fast, als würden sie andere, kompliziertere Dinge in mir überschreiben oder ersetzen. Ich glaube, wir Menschen sind für das Einfache gemacht. Für Leichtes, statt für die schwere Kost. Schwere Kost ist so anstrengend, dass man sie nur in kleinen Häppchen genießen kann. Deshalb gibt es so viel einfache Musik im Radio, so viele seichte, nichts bedeutende Nachrichten, Gesellschaftstratsch und all das. Aber es ist genau diese institutionelle Kreativität, die die Kreativität des Einzelnen zurück drängt. Kommt dann noch ein angezüchteter Minderwertigkeitskomplex hinzu, hast du die Menschen dort wo du sie haben willst: rosiger Lachs im Fischteich des Konsums.

Ich bin noch immer verseucht von den wochenlangen täglichen acht Stunden leichter Radiokost. Mein Geist ist angereichert mit dem Mist. Morgens erwache ich mit Pop-Liedern im Kopf.

Die ganze letzte Woche habe ich damit verbracht, über dieses Phänomen nachzudenken. Manche meiner LeserInnen können es vielleicht nachvollziehen, weil auch sie zu den Ganztags-Werberadiohörern gehören. Andere könnten es auf sich nehmen, es einmal auszuprobieren?

Empfehlenswert ist es nicht.

Die Zeichen, die auf mich eindringen sind eindeutig: wir versuchen uns gegenseitig in dieser Gesellschaft zu Sklaven zu machen. Die „Tausend Sklaven der Freiheit“, schrieb ich schon 1990: Ein Kreativer Mensch, der sein Buch, seine CD oder sonst ein geistiges Produkt veröffentlicht, schart mit seiner „Tat“ die Massen um sich, schlimmstenfalls und so ist es in der Popindustrie, macht er sie zu willenlosen Sklaven, mit seinen einfachen Tralala-Parolen überschreibt er ein Teil der Kreativität in ihren Köpfen und kriegt obendrein noch Geld dafür.

Mit dem letzten Update der iPhone-Software hat es ein Games-Programm in den Mini-Computer gespült, welches fest ins System integriert ist. Das Programm lässt sich, wie alle System-Programme, schwerer entfernen, als die Programme, die man sich freiwillig aufs iPhone lädt. Seit ich den Minicomputer von Apple besitze, bin ich hin und her gerissen. Eine wahre Hassliebe. Zum Einen ermöglicht es mir, meine Studien fürs Live- und Direktbloggen von unterwegs voran zu treiben. Zum Anderen habe ich erheblich mit den besitzergreifenden Knüppeln zu kämpfen, die mir der Konzern unter die Füße wirft: am besten würde ich ihnen meine Kreditkartennummer verraten, mich wie jeder brave Nutzer fest im Shop registrieren. anstatt auf die nicht sehr einfache Möglichkeit zurück zu greifen, per gekaufter Guthabenkarten das iPhone aufzuladen. Es ist natürlich klar, dass Nutzer, die ihre nahezu unlimitierte Kreditkarte als Legitimation angegeben haben, den Umsatz besser fördern, als solche, die ihren Einkauf auf z. B. 15 Euro mit einer Kaufkarte beschränken. Das ist wie in echten Läden auch: wer nur 15 Euro dabei hat wird nur 15 Euro ausgeben können. Wer mehr hat, bleibt an den schönen Auslagen hängen und kauft auch mehr. Selbst ich, der ich mich für vernünftig im Umgang mit dem Konsum halte, gehe allzu oft mit mehr aus einem Geschäft, als ich eigentlich kaufen möchte.

Ich glaube, wenn alle Menschen nur das kaufen würden, was sie wirklich wollen, wäre unsere westlich zivilisierte Konsumgesellschaft am Ende.

Eines Morgens auf der Sickinger Höhe der Erkenntnis sah ich die Konsumentenwelt als geschlossenes System, erkannte es sogar als meine Bürgerpflicht an, zu konsumieren. Ich arbeite, um mir etwas kaufen zu können, das ich nicht brauche und kaufe Dinge, die ich nicht brauche, um meinen eigenen Arbeitsplatz zu erhalten.

Und die Revierkämpfe der Kreativität? Mit diesem Artikel, den du offensichtlich zu Ende gelesen hast, habe ich dich davon abgehalten, selbst einen Artikel zu schreiben oder ein Bild zu malen. Du hast es freiwillig getan, das weiß ich. Vielleicht ergibt sich aus dieser Situation eine weitere Komponente der Kreativität – die positive Seite: sich gegenseitig zu inspirieren und voran zu bringen, anstatt einander zu versklaven zu versuchen.

Jakobsweg Testlauf – eine Rekapitulation des Erlebten

Höm? Ich hab die Dinge, glaub ich, ins Rollen gebracht. Nur noch der Tod kann mich vom Santiago-Trip abhalten – kleines Grinsen im Gesicht. Die gestrige Wanderung von 9 Kilometern mit mehr als vollem Gepäck ließ sich doch ganz gut an: 18 Kilo bergab und, nachdem ich Künstler H. die Stahlplatten für seine Kunstwerke abgeliefert hatte, nur noch 14 Kilo bergauf. Es ist psychologisch von Vorteil, wenn man den Weg, den man geht, schon kennt. Um Vieles schwerer werden 9 Kilometer ins Unbekannte sein. Hirn, dein Name sei Verrat.

Abends entpackte ich den nigelnagelneuen Rucksack in der Künstlerbude und dividierte von den flüchtig gepackten Gegenständen diejenigen, die ich nicht mitnehmen werde auf den Camino Frances, schrieb eilig eine Liste der Dinge, die zusätzlich in den Rucksack gepackt werden müssen und eine Liste derer, die ausgetauscht werden müssen gegen leichtere Gegenstände. Den Regenschirm, liebe rebellierenden FernwandererInnen, lasse ich natürlich daheim. Ich hatte mir nur die Illusion gemacht, dass es gut ist für die sündhaft teure D 300, sie unter einem Regenschirm im nassen Galizien zu bedienen. Aber vielleicht lasse ich auch die D 300 zu Hause. Was nützt mir die beste Hightech-Kamera, wenn ich mir wegen ihres Gewichts die Gelenke zu Schanden laufe?

Ihr seht, liebe Live-Blog-Lesende, ich hadere im Vorfeld dieser Reise mal wieder sehr mit den Möglichkeiten – und weiß gleichzeitig, dann, wenn alles begonnen hat, wird es ein Großes werden, und kein Hahn mehr, insbesondere ich selbst, wird danach krähen, woran man einst zweifelte.

Bilder aus Zweibrücken

Montage mit Pixter auf dem iPhone
1 Hofenfelsstraße nähe Hilgardcenter
2 Der ewige Birnbaum vor Irgendlinks Haustür
3 Straßennamenschild
4 Buntes Haus in Niederauerbach