Spinnertivitätstheorie

Gerade will ich etwas über die gestrige Etappe tippen. Leider geht das nicht ohne Karte. Wie hieß noch der 1290 Meter hohe Pass hinter O Cebreiro, auf dem ich stutzig wurde, ob ich tatsächlich auf 1400 m Höhe übernachtet habe? Ich kann doch jetzt hier im Herbergszimmer in Triacastela nicht im Rucksack fummeln und Karte suchend alle wach machen.
Schreibe besser über Dimge aus der Tiefe des Seins: beim Packen gestern früh taste ich in der Dunkelheit nach ein paar Habseligkeiten, die ich auf das freie Bett unter mir gelegt habe und lange dabei in ein klebriges Gesicht. Unter mir hat sich nachts der besoffene Spinner aus der Bar einquartiert. Das erklärt auch, warum Chaeuk, der schräg unter mir schläft, direkt neben dem freien Bett, nachts im Traum scheinbar perfekt spanisch redete. Auch Chaeuk hatte seine Kamera und sein Reisetagebuch auf dem freien Bett liegen. Nun alle Mühe, die Sachen unter dem Schlaftrunkenen heraus zu fummeln. Vermutlich hat die herzensgute Hospitalera Patricia den armen Kerl nachts nach dem Kehraus in der Bar noch eingeschleust. Die Hospitalersleute sind manchmal selbst seltsame Typen. Weichherzig, sentimental, verträumt, oder auch dogmatisch, streng, fanatisch und sie legen manchmal eine gewisse Pilgerüberheblichkeit an den Tag. Sie rekrutieren sich aus dem Heer der PilgerInnen, sind oft selbst gerade auf Wanderschaft und bleiben mal drei Wochen vor Ort, um eine Herberge zu managen. Nicht dass ein falsches Bild aufkommt. Die meisten sind ganz normale Typen wie du und ich. Ähm.
Patricia gehört zur Kategorie seltsam aufgeschlossen, die Grenze zur Intimität Fremden gegenüber rasch überschreitend. Im Restaurant fällt sie über uns her, bequatscht uns wildfremd und fotografiert uns. Offenbar sammelt sie Pilgerbilder wie normale Menschen Hausnummern- und Straßennamenbilder.
Während der zwanzig Kilometer bis Triavastela habe ich genug Zeit, über mein eigenes Spinnerdasein nachzudenken. Dass der Typ sich ausgerechnet in das Bett unter mir gelegt hat! Wo doch mindestens 30 Betten frei waren. Ganze Flure unbevölkert. Legt er sich zwischen Chaeuk und Roser genau unter mich. Es muss eine geheiminsvolle Kraft geben ähnlich der Massenanziehungskraft. Anziehung der Spinner. Je größer ein Spinner, desto stärker sione Anziehumgskraft. Wie Staub und Meteore stürzen andere Spinner in die Atmosphäre des Oberspinners. Und der scheine ich zu sein.
Während ich so spatziere an diesem sonnigen Tag und diese meine allgemeine Spinnertivitätstheorie entwickele, frage ich mich, wieso Albert Einstein Jahrzehnte verplempert hat, um seine Relativitätstheorie zu entwickeln. Jeden halben Kilometer stoppe ich, um die Zahl auf dem Caminomeilenstein zu fotografieren. So schrumpft der Weg von 150 auf 130 Kilometer. 20 Kilometer komplexen Kopfrechnens mit Eulerscher Zahl und Integration der Plutimikation und schwupp hab ich die Relativitätsformel der Pilgerspinnerei entwickelt:
e=mxp2 (sprich e gleich em mal pe quadrat).
Wpbei E die Energie ist, m das Potential des Spinners und p die konstante absolute Pilgergeschwindigkeit von 4,9537615 km pro Stunde.

Und dies gestrige Strecke? Traumhaft. Sonne von füh bis spät. Fast nur abwärts, unglaubliche Landschaft. Wie jener Ort in Norwegen im Juli neulich.

Die Entfernung nach Santiago schrumpft. Meilensteine in Galicien

ein bisschen Paradies?

Nach den eher intensiven, anstrengenden Etappen der letzten Tage ist Irgendlink mit seiner Happy-Family heute „nur“ um die 25 km gepilgert.  Vorwiegend abwärts. Die schönste Strecke bisher, wie er mir am Vormittag begeistert smste.

Schon um drei Uhr sei er in Triacastela angekommen, erzählte er vorhin am Telefon. Ein bisschen Erschöpfung habe er von der Nacht zuvor schon gespürt, sich nun aber wieder gut erholen können.  In der Privatherberge, die sie heute wegen Sardi, Thomas‘ Hund zusammen belegen, seien sie wieder nur „en famille“, zu acht, ein tolles Gefühl von Zusammengehörigkeit sei das.

Auch toll ist, dass der öffentliche Telefonapparat auf Anhieb funktioniert und sich zurückrufen lässt, nachdem Irgendlink die Münzen ausgegangen sind. Ein kleines Wunder der spanischen Technik. Doch das ist eine ganz andere Geschichte … ;-)

Hier zu den Streckenlinks der heutigen Etappe klicken:
Tag 26: Guuglmäp und fernwege.de

by Sofasophia

O Cebreiro

Auch El Cebreiro genannt. 1400 m hoch gelegen. Beautyful, einfach nur bonito. Ein Bergdorf aus Stein mit Kirche, Kälte, Sternenhimmel. Auf dem Weg zum Restaurant telefoniert Roser mit einem Freund und lässt sich das Firmament erklären. Der helle Punkt neben dem Halbmond, das sei der Jupiter. Heuer besonders gut sichtbar. Im Tal liegt Nebel, der sich milchig gegen die schwarzen Bergrücken abgrenzt und unter der Nebeldecke erkennt man die Dörfer – eigentlich nur eins – als hellen Fleck. Vielleicht jener Ort, in dem Thomas und Hund Sardi untergekommen sind. Was war das für ein Drama! Als Rpser, Carlos und ich als letzte das Sieben Kilometer steile Stück nach O Cebreiro hochkriechen, kommen uns die anderen, Rodrigo, Rosa, Chaeuk, Thomas und der Hund entgegen, versuchen jede Tür eines jeden Schuppen zu öffnen, um ein Plätzchen für den Hund zu finden. In einem aufgeräumten Bergdorf wie diesem mit Souveniershop, mehreren Restauramts und Hostals schier unmöglich. Nach zwei Stunden finden sie einen Padre, der sich erbarmt und Thomas und Sardi ins nächste Dorf fährt, wo er eine Herberge klar gemacht hat. Wohl dem, der spanische Freunde hat und sich verständlich machen kann. Carlos sagt, in Galizien herrschen noch striktere Regeln für Hundepilger. Kurz vor O Cebreiro steht der bunt bemalte Grenzstein zur Provinz. Und am Camino finden wir alle halben Kilometer einen Stein, auf dem die Entfernung nach Santiago eingemeißelt ist (ungefähr 150 km). Wenn das bis zum Ziel so weitergeht, dann willkommen Leistungspilgerei. Das ist ja wie Glotze, die überm Tresen hängt. Ständig bannt sie deinen Blick.
Die Hinweisschilder der Gegend sind allesamt mit Farbe überpinselt. Aus J wird grundsätzlich ein X gemacht und El wird zu O und La glaub ich zu A umgemalt. Ein Krieg der RegionalschriftsprachenverfechterInnen gegen die von staatswegen doktrinierte Schreibweise.
Kurz vor dem Anstieg überhole ich im Tal einen torkelnden Pilger, der sich krakelend mit einem Honighändler unterhält. In einigem Abstand fofgt er mir, brabbelt vor sich hin, schlägt mit dem Pilgerstock auf die Leitplanke. Später bei einem Picknick wo ich Roser und Carlos wieder treffe, setzt er sich uns gegenüber auf den Boden, zieht seinen Pullover und Unterhemd aus, redet mit Carlos. Wirres Zeug, erklärt dieser mir. Am Abend finde ich ihn im Restaurant wieder auf dem Steinboden liegend, am Kopf blutend, aber wohlauf, Bierflasche neben sich. Ein Fremdkörper von Mensch.
In dem riesigen Schlafraum der hießigen Herberge sind noch neun weitere PilgerInnen. Seltsame Atmosphäre am Abend um Halbelf. Zunächst quasseln vier Spanier lauthals über alle Etappen bis Santiago, endlich ankommen. Selbst Roser findet das ungewöhnlich laut. Dann unterhält sich eine Spanierin, die sich den Magen verdorben hat auf Englisch in voller Kneipenlautstärke mit einem kehligen Bayern. Und schließlich als Gutenachtlied die Etappen bis Santiago, das Wetter und die Herberge und die wehen Füße auf Deutsch, Stammtischlautstärke.
Nicht genug. Als es endlich dunkel ist und der gute Carlos munter schnarcht, kommen erste Stimmen auf, die Bestürzung bis Wettbewerbsdenken ausdrücken. Einer sagt, wollen doch mal sehen, wer hier der Lauteste ist.
Ich ziehe mich gedanklich zurück in ein Schnarcherversenken-Spiel: der Schlafraum ist das Spielfeld. Der Gegner ist die neunköpfige Pilgergruppe. Sie wissen nicht, wer von uns schnarcht und wir nicht, wer von ihnen schnarcht. Somit wird die Wahl des Bettes zu einem wahren Schiffeversenken Blindflug.
Jetzt, mitten in der Nacht, ist Carlos in die Küche geflüchtet. Dieser herrlich rücksichtsvolle Kerl.

Lebenszeichen

Nach einer Nacht in Gesellschaft seiner Pilgerfamily in einer Privatherberge in Villafranca der Bierzo, die die Pilgernden durch Gepäcktransportdienste anwirbt, ist Irgendlink heute unterwegs nach O Cebreiro. Eine lange Strecke mit einer happigen Steigung, wie ihr auf dem Streckenprofil auf fernwege.de selbst sehen könnt (hier klicken).

Zur Strecke von Tag 24 und Tag 25 auf Guuglmäp > hier klicken

“ … nun in Vega. Sonnig, 13 Grad. Ruhige Strecke … „, schreibt er mir um genau 13 Uhr per SMS. Am 13ten. Das passt doch irgendwie … :-)

Soeben kommt die nächste Meldung: “ … Noch 8 km bis O Cebreiro. Sieht aus wie im Tessin. Berge aber not so kantig …“

by Sofasophia

Das dritte Standbein am Melkschemel des Seins

Ein kleines Wunder: schlaflos! Erstmals seit wievielen Wochen. Dabei lief alles so gut. Der gute Carlos konnte wieder ein Einzelzimmer für sich ergattern, eine mittlerweile lückenlose Serie von Einzelzimmern seit wir in diesem Pulk von etwa acht Peregrinos laufen. Sowas ist wohl nur im Winter möglich. Überhaupt hat das Winterpilgern viele Vorteile. Das wurde mir auf der Etappefoncebadon Ponferrada bewusst. Der bisher wärmste Tag. Schon in den Bergen auf etwa 1500 m Höhe kletterte das Thermometer auf Frühling. Ein seichter Wind treibt uns zum Cruz de Ferro, welches ein enttäuschend winziges Kreuz ist auf einem zehn Meter hohen Mast, an dem man traditionell einen Stein ablegen kann symbolisch für eine schwere Last oder einen Wunsch, den man im Leben hat. So gut bin ich über das Cruz de Ferro und die Geschichte, die sich darum rankt, nicht informiert. Wie ich sowieso recht unbedarft an den Camino herangehe. Etwa wundert mich, dass weiter unten im Tal Scherzbolde etwas auf einen großen Brocken geschrueben haben: ‚Paparazzi, nimm diesen Stein mit zum Cruz de Hierro‘ – ja was nun, heißt es Ferro oder Hierro?
Ich merke, wie beweglich und veränderbar doch Information ist. Eigentlich ist es auch egal. Fakt ist: ein Mann geht den Berg rauf, kommt auf etwa 1500 Metern Höhe an einem Pfosten vorbei, auf dem ein Eisenkreuz montiert ist und der auf einem Steinhügel steht. Mann wirft eigenen Stein zu den anderen Steinen, wünscht sich was und geht weiter. Dass der Mann das Halbwissen um das Ritual schon seit hunderten Kilometern mit sich rumschleppt, welches sich nun im Akt des Steinwerfens bündelt, ist beachtlich.
Etwa eineinhalb Stunden, bevor ich das unheimliche Los Arcos erreichte, ist sicher zwei Wochen her, verirrte ich mich an einer Weggabelung, an der weit und breit keine Fleche amarilla, kein gelber Pfeil zu sehen war, welcher sonst den Weg nach Santiago zeigt. Ich setzte den Rucksack ab, wurschtelte darin herum, trank einen Schluck Wasser, lief einen Umweg. Später fand ich einen Stein in dem Rucksack und da nahm diese, meine Geschichte mit dem Cruz de Ferro oder Hierro ihren Anfang. 300 km Halbwissen. Zwischendurch hatte ich noch einen zweiten Stein in Herzform eingeseckelt, den ich für die geliebte Sofasophia ablegen wollte. Wenn schon Halbwissen, dann richtig, dann kann ich auch für andere etwas wünschen, ablegen, beten. Irgendwie ist das Cruz auch ein Wurmloch in die Welt, die ich vor der Pilgerei kannte. Die knallharte, kalkulierende Welt, in der man ständig Entscheidungen treffen muss und sich im Schinden um sinnloses Materielles alltäglich aufreibt. So denke ich doch glatt darüber nach, ob ich mir für den Stein lieber Gesundheit wünschen soll oder Erfolg. Als ich den Stein werfe, wird mir klar, dass es nicht darum geht, welcher Wunsch der wichtigere, der bessere ist, sondern ich sollte mich mit dem Prinzip des Wünschens ansich beschäftigen, jenem geheimnisvollen dritten Standbein am wackligen Melkschemel aus Haben, Sein und Wollen.
Schmunzelnd laufe ich Manjarin an, ein zwei notdürftig zusammen geschusterte Häuser, in denen Templer Thomas wohnt. Er trägt eine weiße Kutte mit rotem Templerkreuz. In Manjarin kann man auch übernachten. Es dürfte ähnlich verträumt, spartanisch, gutherzig sein wie Davids Scheune pberhalb Astorgas. Vor der Hütte hängen Hinweisschider: Trondheim 5000 km, Rom soundsoviel, Mexico auch soundsoviel, Schrezheim 1906 km und Jerusalem und und und. Die Strecke von Foncebadon bis zum Abstieg Richtung Ponferrada zieht sich etwa 2,5 Stunden über Stock und Stein. Sie folgt grob der Straße 142, kreuzt diese immer wieder. Nachmittags klettert das Quecksilber im Tal auf gefühlte 18 Grad. T-Shirt-Wetter. Die Sonne verkriecht sich als schemenhaftes Etwas hinter grauem Schleier. Die letzten 6 km zwischen Molinasecco und Ponferrada laufen wir auf dem Gehweg neben der 142. Samstagspatziergänge, zigmal Buenas Tardes sagen, Buen Camino hören. Jogger und Mountainbiker.
Vor der Albergue in Ponferrada steht ein Meilenstein: Santiago 202,5 km.
Am Abend kochen die beiden Rosen und Carlos ein opulentes Essen: drei Sorten Salat, Spaghetti, Bolognesesauce, andere Köstlichkeiten, Brot und Mandarinen und Schokolade und Sardellenhäppchen und etliche Flaschen Wein. Kein Orujo, jenen traditionellen Schnaps, der uns seit Astorga in seinen mannigfaltigen Formen begegnet (hierzu wären noch zwei Geschichten zu rekonstruieren, die ich als Sprachnotiz angelgt habe).
Diese Nacht erstmals schlaflos. Am Abend quartiert sich Laura in unser Zimmer ein. Dass sie nicht gerade leise atmet, weiß ich seit Pamplona. Dass das Etagenbett, in dem sie die Liege über mir hat, beim Nicht-gerade-leise-atmen schaukelt wie ein Schiff, ist mir neu. Gabs gestern etwa doch Orujo? Beim nächsten Cruz de Ferro/Hierro wünsche ich mir Stille.

2 km vor Ponferrada – seichte Sonne über spanischer Tackerwerkstadt