R. I. P. V. I. P.

Freitag früh acht Uhr. Der Loungeaufbau. Ich erkenne: dies ist keine Vorstandssitzung. Keine klassische Loungeveranstaltung mit etepetete-Männchen und -Weibchen, die Fingerspreizend Kaffetassen halten, in ruhiger Atmosphäre Geschäfte abschließen. Von Zivilisation im klassischen Stil kann keine Rede sein. Dies ist ein waschechtes Festival. Sowas wie Woodstock, soll sich herausstellen, ebenso schlammig, aber mit Hight Tech Organisation, Ticktes um 30 Euro. Die Tickets für die V.I.P. Lounge mit eigenem Swimingpool kosten 130 Euro das Wochenende.

Schwer hängt der Himmel über dem kleinen Dorf. Die Lounge findet ihren Platz in einem schicken Zelt, das leider keine Seitenwände hat. Innerhalb von drei Stunden steht alles schniegelweiß. Ansprechpartner W. ist hochzufrieden. Im Gegenwind meiner Vernunft habe ich dies getan, murmele ich mich gegen Mittag in den wohlverdienten Feierabend. Die Sache kann eigentlich nur schief gehen. Bei der Wetterlage ist es unwahrscheinlich, dass es nicht regnet. 12 Uhr. Donner. Vorsichtshalber laufe ich unter ersten Tropfen zum LKW, fahre den guten Kilometer zum Festivalgelände, vielleicht kann ich beim Möbel retten helfen. Es ist so kurz vor Beginn nicht mehr leicht, einen LKW Parkplatz zu finden. Die Crew stellt emsig Barrieren auf. Alles deutet auf eine Veranstaltung mit mehreren tausend Gästen hin. Selbst im über 1 km fernen Dorf stehen Männer mit Warnwesten, auf denen gedruckt ist „Staff“ und „Security“, um die Parkwilligen einzuweisen. Neben dem Festivalgelände hat man eine hektargroße Wiese mit Fahrspuren aus Rindenmulch versehen. Noch ist der Parkplatz leer. Mit den ersten Blitzschlägen kann ich den LKW vor einem Wasserkraftwerk parken, dreihundert Meter zu Fuß bis zur Lounge. Hagel wie aus Kübeln. Verwegen ducke ich mich unter Büschen, kämpfe mich durchs örtliche Sportlerheim, vorbei am Kleiner-Feigling-Stand, zahlreichen Zigarettenfirma Lounges und diesen süßen ballernden Softdrink Ständen. Die V. I. P. Lounge ist klatschnass. Das Gewitter geht. Vier weitere Stunden Arbeit, um die Möbel zu retten. Zwischendrin ruft der Owner an, ob ich nicht den LKW direkt neben der Lounge parken könne und am besten die gesamten 48 Stunden immer auf bereitschaft sein kann,“falls etwas wäre“. Ich sage ja, parke den LKW vor der Kirche beim Hotel, treffe ein Abkommen mit Veranstalter W., dass er mich anruft, wenn es brennt. Und mit wenn es brennt, waren wir uns beide einig, dass das heißt, wenn es brennt. Mittlerweile posteten die potentiellen Gäste auf Facebook, dass es eine geile Party werden würde, dass man aber seine Gummiestiefel nicht vergessen solle und vor allem nix Weißes anziehen solle, so was Weißes wie die V.I.P. Lounge etwa.

Samstagmorgen.  W. hat in der Nacht nicht angerufen. Die Wirtin im Hotel erzählt, es habe noch zwei Unwetter gehabt, nicht ganz so schlimm wie Freitag Nachmittag. Zu Fuß spaziere ich zum Festivalgelände. Sehr langsame Menschen mit roten Augen und schmutzigen Schuhen begegnen mir. Die Straße zum Festival ist mit Glas übersät. Pizzakartons, Pizza und Kotze. Die LKW im Umkreis von 500 Metern um das Gelände sind mit Graffities verziert. Ein gewisser Five hat zugeschlagen. Liebling, ich hab den Firmenlaster gerettet, weil ich ihn neben der Kirche geparkt habe. W. hat die Lounge wie besprochen regensicher in die Mitte des Zelts geräumt. Dennoch sieht sie nicht gut aus. Menschen mit Gummiestiefeln machen grundsätzlich so viel Schmutz, wie menschen mit Gummiestiefeln. Und wenn sie brechen müssen, weil sie zu viel Kleiner Feigling gesoffen haben, machen sie noch viel mehr Schmutz. Rings um das Festivalgelände räumen die Anwohner auf, mit Eimern holen sie den gröbsten Müll von den Gehwegen vor ihren Häusern. Sie sehen gedemütigt aus. Ihren Gesprächen entnehme ich im Vorbeigehen Wortfetzen des Unmutzs. Ein Rentner geht zur Brücke über den Kraftwerkkanal und kippt den Mülleimer einfach ins Wasser. Träge treiben Papierfetzen und Plastik. Zwei Jungs fragen mich nach einem Bäcker. ich schicke sie Richtung Dorf, immer der Glasspur nach, höhne ich. Gebrechlich ziehen sie dahin und ich folge ihnen in respektvollem Abstand, sehr, sehrsehrsehr laaangsam. Vielleicht muss ich  erste Hilfe leisten. Ich beschließe, mich ab nun nicht mehr einzumischen in das aus dem Ruder gelaufene Geschehen in der V.I.P. Lounge. Mit dem Laster kann ich nicht vorfahren weil alles abgeriegelt ist, alle Verantwortlichen verstrahlt, kaum ansprechbar und ein Abbau während der Veranstaltung wäre ja irgendwie feige und steht auch so nicht im Vertrag. Putzen macht auch keinen Sinn. Bleibt nur, auf Sonntag 9 Uhr zu warten und den Rest des Geschehens in die Loungeforensik-Zentrale der Firma zu verlegen. Ich genieße den Tag mit Pilgern.

Eine halbe Million Arbeitsstunden, oh Herr

Ankunft am Zielort. Ein winziges Dorf namens H. an der A. nur etwa 50 km nördlich von München. Oberbayern steht auf den Hinweisschildern. H. in Oberbayern also. Ich habe nie begriffen, dass Oberbayern absolut flach ist. Im einzigen Gasthof checke ich ein. Eine Gruppe kehliger Menschen debattiert lauthals. Die Wirtin entschuldigt sich für ihre Gäste, sie seien nicht immer so. Im Restaurant sitzt ein Junge mit T-Shirt, auf dem etwas gedruckt ist „Kraftwerk Revision“. Die Wirtin klärt mich auf, dass seit ein paar Wochen der Gasthof ausgebucht ist, weil das nahe Kohlekraftwerk verkauft wurde und die neuen Besitzer es nun renovieren. Im Netz recherchiere ich, dass das Kraftwerk einer der größten Arbeitgeber ist, dass es verbessert wird, praktisch neu gebaut in den nächsten Monaten, höherer Wirkungsgrad, umweltfreundlicher. 1,7 Millionen Menschen versorgt es. Fast 500 Megawatt. Die vielen Strommasten in dem flachen Flusstal zeigen, dass die ganze Gegend unter Strom steht. Ich kann nicht behaupten, dass es mir hier zwischen Gerste und Mais in dieser unerwartet unpitoresken Flachheit gefällt.
Im Restaurant fällt mir an diesem Abend ein Tisch vierer Männer auf, genauer zwei Jungs, ein mittelalter und ein älterer ruhiger Herr. Der Mittelalte führt mit markanter Stimme Wort zu den Themen Freelancer, Stundenlöhne, Löhne im Allgemeinen, Arbeitsrecht und Technik. Hauptsache Wort führen. Er kommt aus Mannheim und verdient vier Euro weniger pro Stunde, als der Ältere. Die Gruppe arbeitet offenbar für die Revision. Vier Mann von den vielen, die die 500.000 Arbeitsstunden, so stehts im Netz, der Revision erledigen. Mir steht freitagsfrüh um acht ein etwa zweistündiger V. I. P. Loungeaufbau bevor. An diesem Abend ahne ich noch nicht, wie gemein das Schicksal zuschlagen kann.

Arena der Alphalastafahra

So begibt es sich dieser(heißerUrlaubs)tage, dass Herr Irgendlink der einzige ist im Loungemöbelimperium, der einen Laster mit V. I. P. Lounge nach Bayern steuern kann. Alle anderen sind in den Ferien und Kollege Sch. heiratet an diesem Wochenende. Mein Einwand, man könne ihm die Tour nach Freising doch als Hochzeitsreise schenken, fiel nicht auf fruchtbaren Boden.
Donnerstag. Mit 90 Sachen auf der A8. Mäßiger Verkehr. Alle Staus, vor denen das Navi blinkend warnt, lösen sich wie durch ein Wunder auf; einzig einer Nähe Legoland Günzburg hält sich hartnäckig, weshalb ich die vorgeschriebene Ruhepause eine viertel Stunde vorverlege.
Nur um danach ein grandioses Unterhaltungsprogramm in der Arena der Lasterfahrer zu genießen. Mit 90 und automatischem Geschwindigkeitsbremser fahre ich eigentlich auf den Kilometer so schnell wie alle anderen LKW. Die Tachos der LKW sind verdammt genau. Wo 90 steht ist 90 drin. Deshalb könnten eigentlich alle Lastafari glücklich sein, Peace, Mann. Abgesehen von einem Wormser Wohnmobilopi, der es sich in schulmeisterlicher
Manier erlaubt exakt 89 zu fahren, nervt mich niemand. Hinter dem Aichlberg kann ich ihn endlich überholen.
Das Land östlich der fast 800 m hohen Europäischen Wasserscheide, die die Wässer von Rhein und Donau trennt, ist hügelig. Schwere Laster verlangsamen sich dort mitunter auf unter 80 km/h. Im Gegenzug werden sie auf den Gefällstrecken gut 100 km und schneller, wenn sie sich trauen. Irgendwo schießt ein 40-tonner Pole an mir vorbei, Maschinenteile für Italien vermutlich. Am nächsten Anstieg überhole ich ihn mit meinen fluffig leichten schneeweißen Loungemöbeln mühelos. So geht das eine Weile und wir haben einen guten Takt, fast wie Tanz. Die Autobahn ist dreispurig. Auf den Fallstrecken hat der Pole keine Hemmung, auszukuppeln und mit 120 Sachen an mir vorbei zu fahren, der ich eigentlich konstant 90 halte. So geht das etwa 10 km, bis die wahren Gladiatoren die Bühne Betreten: ein Laster der Lila Logistik, so steht es hintendrauf und ein 7,5 Tonnen schwarzes Leichtgewicht einer Gärtnerei. Das Tragische an der Sache ist, dass wir uns nun zu viert mit nahezu gleichbleibender Geschwindigkeit die Autobahn teilen. Die nächsten hundert Kilometer müssen wir auf einem dreispurigen Stück Land von etwa 100 m Länge miteinander auskommen. Da wir es nicht schaffen, alle immer gleichschnell zu fahren, müssen wir uns im kleingeistigen Überholkrieg gegenseitig niedermetzeln. Wie damals in Rom. Ich mit Netz und Dreizack, der Pole mit Kurzschwert und Schild. Die Lila Logistik an den Kugeln, der scharze Gärtner nackt ringend. Der Pole verschätzt sich beim Überholen, wird in einer Mulde zu langsam, drängt die Lila Logistik auf den Seitenstreifen. Die Kacke dampft jetzt. Ich stelle meinen Tempomat auf 87 und kann den Wormser Oberschullehrer im Rückspiegel sehen. Wollen hoffen, dass der wenigstens vernünftig ist. Die Lila Logistik gibt dem Polen im nächsten Anstieg die Retourkutsche, schibt ihn gnadenlos auf den Seitenstreifen und der scharze Gärtner hat in diesem Wettkampf auch noch mitzureden. Vernünftiger Weise lasse ich mich 200 m zurück fallen, um nicht in Schwierigkeiten zu kommen, falls die drei Mist bauen. Insgeheim bin ich froh für diese Unterhaltung. Die Kilometer bis München vergehen im Nu und an der Abzweigung zur Deggendorfer Autobahn sag ich zum Abschied leise Tschau.
Hoffe, dass nicht über einen schlimmen LKW Unfall berichtet wurde dieser Tage.

Reinkarnation der Loungemöbel

Eine Art Alptraum letzte Woche. Vermutlich verursacht dadurch, dass ich mir am Tag zuvor vorgestellt habe, wie unsere Körper sich auflösen nach dem Tod, wie sie verbrannt werden und ihre Moleküle in die Luft geraten oder wie sie von Maden gefressen werden, die die Atome in ihren Körper einbauen. Der weitere Weg der Moleküle ist einfach: Huhn frisst Made, legt Ei, Mensch frisst Ei. Molekül ist im anderen Menschen. Materie wird durchgenudelt. Was wohl aus Goethe geworden ist, aus Jesus und aus Stalin? Gut möglich, dass der eine oder andere von uns zu einem gewissen Teil aus Molekülen besteht, die einst Kafkas Hirn oder Dickdarm waren. In meinem Alptraum zersetzte sich nicht nur Materie, sondern auch mein Denken und mein Fühlen in Einzelteile und lagerte sich in den Gedenken und Gefühlen anderer Menschen wieder ab. Ich glaube nicht an Reinkarnation. In meiner Welt existiert nichts vor der Geburt und es wird nichts mehr sein nach dem Tod. Nur noch Einzelteile, die zu Unverständlichem verkommen. Quasi glaube ich an die rein pragmatische Reinkarnation ohne jeglichen Schnörkel und Romantik: alles bleibt zwar erhalten, aber nicht so, wie es einmal war, es wird durchgerührt, gewalkt, zerschnitten, neu arrangiert. Vergiss lieber, dass Du mal Kleopatra warst, oder ein stolzer Minnesänger ohne Pferd. Wahrscheinlich warst Du es tatsächlich, also das eine Atom da in der Warze am linken Fuß. Vergisss die Eselsmilch und die Maid mit den langen Haaren, die Dir bewundernd aus einem Turm zugelächelt hat.

Am Tag nach dem Traum zerlegte ich einige reparaturbedürftige Loungemöbel. Sie hatten einst eine Identität, die mittels eindeutiger Nummer und Barcode auf der Unterseite festgeklebt war. Im Firmenserver führten sie ein streng dokumentiertes Dasein. Wann sie gebaut (geboren) wurden, wo sie schon überall hin gereist waren und was ihnen an den verschiedenen Orten an Blessuren beigebracht wurde. Jeder Loungemöbellebenslauf ist im Firmencomputer verzeichnet. Manche haben sogar Bekanntschaft mit dem Hintern der Bundeskanzlerin gemacht. Auf anderen wurden Verträge ausbaldowert und einige von ihnen könnten als Zeugen vor Gericht auftreten, wenn sie nur reden könnten.

Ein Loungemöbel besteht aus mehrerlei Holzteilen, Kunststoffteilen, Kunstleder, Schrauben und weiteren, geheimen Bestandteilen. Fein säuberlich zerlegte ich die Möbel und lagerte die Bestandteile. Der Vorgang wird im Computer akribisch dokumentiert. Vom Lager geht das Möbel zum Kunden; verschmutzt und manchmal auch beschädigt kehrt es in die Reinigungsabteilung zurück. Wenn es kaputt ist, kommt es in die Werkstatt. Wenn das Möbel zerlegt ist, existiert es für die Zeit, bis es wieder repariert ist im System weiter, aber physisch ist es nicht mehr zu erkennen. Wenn die Ersatzteile da sind, baue ich die Möbel wieder zusammen, aber nicht aus den genau gleichen Einzelteilen wie zuvor, sondern vermischt, durchwalkt, nie wieder wie zuvor. Das Molekül Goethe der Veranstaltungsbranche sozusagen.

Ein Schritt zu weit

Vielleicht war Facebook ein Schritt zu weit. Ich werde nicht warm mit der Plattform. Konzentriere mich, die wirklich fernen Leute zu finden, die Caminaten und Caminatinnen vom letzten Winter. Mein Profil ist Korea-lastig. Es ist eine Art Wachrüttelung: Irgendlink, Du solltest mehr kommunizieren, mailfaule Sau. Machwas :-)

Ich habe vermutlich mehr Mailschulden, als die Griechen Staatsschulden.