Irgendwie schleppen wir uns nach Königsfelden, Frau SoSo und ich. Nur bis zur Wutz, sage ich. Das ist eine flache Strecke. Wir müssen hinterher nicht mehr groß den Berg hoch. Weißte, Menschen, die auf dem Berg wohnen, sterben im Tal, also hüte dich, den Berg zu verlassen, wenn du nicht ganz auf dem Damm bist.
Ich bin ja so klug. Klug und fiebrig. Aber eben, nach drei Tagen im Bett wird man auch unruhig und dann kann man auch einen Spaziergang ins Auge fassen. Die Wutz lebt in einem kleinen Zoo neben der uralten Kirche des Klosters, das im dreizehnten Jahrhundert durch Agnes von Ungarn gegründet wurde. Ein strenger spitzer Bau mit Zacken und nadeligem Turm, an dem sich unvorsichtige übergroße Gottheiten den Finger ritzen würden, vielleicht. Zu Füßen der Kirche der kleine Stall und die haarige unheimlich dicke Wutz wälzt sich im Schlamm. Wir haben immer Freude, das Tier zu beobachten. Ich weiß nicht, ob es Frau SoSo so geht wie mir, das Tier um sein Tier Sein zu beneiden. Ein Fleisch gewordenes Glückswesen, das nie in die Drangsale von Zeit, Geld, Gesellschaft, Aushandeln von Konventionen und Etikette geraten könnte, aber was weiß denn ich. Wahrscheinlich vergöttere ich das Wesen nur fälschlicher Weise und eigentlich ist das Tier ganz arm dran in seinem hundert Quadratmeter verwühlten Schlammgelände, ständig beobachtet von Typen wie mir.
Wir spazieren weiter zum Kräutergarten. Das Königsfeldener Areal, das auch ein Sanatorium beherbergt, ist multifunktional. Es fußt auf den Hinterlassenschaften der alten Römer, die in der Gegend des Schweizer Wasserschlosses einst ein bedeutendes Kastell errichtet hatten. Hin und wieder sieht man Menschen in Königsfelden, die in Römerkleidung herum laufen und Kindern Exkursionen in die Vergangenheit vermitteln. Mit Kochen, Gladiatoren, Kurzschwert und Schilden, fast wie Asterix. Es gibt einen Rundweg durch die Gemeinde. Interaktiv und georeferenziert kann man auf den Spuren der Römer per Handyapp die archäologisch aufgearbeiteten Orte erkunden. Höhepunkt dürfte das Südtor sein, das man aus Eisenplatten nachgebaut hat. Zwei Meter tief geht die Ausgrabung. Außerdem gibt es auf dem Römerpfad ein Museum und eben den Kräutergarten, der aber erst im Mittelalter angelegt wurde. Schönes weites, flaches Spazierareal. Viele Sitzbänke. Wir hoffen, Salbei zu finden.
Tag vier oder fünf der Infektion. Ein Wunder eigentlich, dass wir so weit von zu Hause weg sind. Einen knappen Kilometer haben wir in den Beinen. Da, eine Sitzbank! Nix wie hin. Sollen wir vielleicht noch das Labyrinth? Man hat neben dem Kräutergarten auch ein kleines, etwa fünfzig Meter durchmessendes Chartre-Labyrinth aus Hackschnitzeln angelegt. Da sind wir früher öfter bis zum Zentrum gelaufen und wieder zurück. Diesmal nicht. Das Labyrinth ist nur eine Wiese, auf der man einen Labyrinthgang mit Hackschnitzeln aufgeschüttet hat. Wenn man es eilig hat, kann man in wenigen Schritten geradeaus ins Zentrum wandern, aber das ist ja nicht Sinn der Sache. Wir lassen uns auf der Bank nieder. Eine von vier Bänken, die sich um einen Brunnen gruppieren. Gegenüber sitzt ein Mann, der in sein Handy starrt. Rechts von uns eine Frau mit Kind, das neugierig die Gegend erkundet. Mittig der Brunnen, sprudelnd.
Das ist wie im Western, sag ich zu Frau SoSo. The good, the bad and the ugly. Drei stinkende Kerle, die sich um eine Kriegskasse streiten. Da fließt Blut. Wir hier rings um den Brunnen sind der Gute, der Böse und der Widerliche, sag ich, stells dir vor, Sergio Leone Musik, Mundharmonika, Waffen, ein Friedhof, Staub, Duell, Langsamkeit, Augen, die zu Schlitzen geformt sind, Gewaltbereitschaft, Spannung. Frau SoSo sagt, hä? Na, der Typ da drüben, schau ihn dir doch an, der führt doch was im Schilde. Du fieberst, sagt Frau Soso, fühlt meine Stirn. Eine weitere Person kommt zum Brunnen, setzt sich auf die leere vierte Bank. Showdown. Ich höre die Mundharmonika. Das Kind zur Rechten durchwandert das Labyrinth. Die neu angekommene Person ruht einfach nur. Ich fiebere und phantasiere den Guten, den Bösen und den Widerlichen, der am Ende auf einem wackeligen Kreuz neben der Kriegskasse stehen wird, eine Schlinge um den Hals und immer dieser Schweiß. Der elende Schweiß auf unseren elenden Stirnen.
Sollen wir weiter, fragt Frau Soso, nochmal Wutz? Liegt ja auf dem Rückweg. Wutz und Salbei und irgendwie den Kilometer heim schaffen, das ist unsere Mission. Vorbei an Gottes böser Nadelkirche geht es zurück und wir nutzen jedes Bänkchen zum Ausruhen. Meine Fresse, das Virus ist echt der Hammer. Dagegen waren die anderen medizinischen Einschläge vor zig Jahren ein Zuckerschlecken. Okay, ich habe natürlich auch das Männergrippensyndrom, vermutlich. Dramatisiere. Ich dramatisiere doch? Mach bitte, Schicksal, dass ich dramatisiere!
Letzte Sitzbank vor der Wohnung, ha, ich lache, das klingt wie die Schilder in den Achtzigerjahre-Familienferien, kurz vor der österreichischen Grenze: Letzte Tankstelle vor der Grenze. Letzte Sitzbank vor der Wohnung. Ein Seniorenheim nebenan. Zwei Gartenarbeiter kümmern sich um Rasen und allmögliches Grün. Einer von ihnen ist versucht, einen Laubbläser anzuwerfen, scheitert, zum Glück. Während der andere an einer rankenden Pflanze am Balkon des Seniorenheims Früchte pflückt, sie in den Mund stopft, genießt. Es ist bald Feierabend. Anders lässt sich nicht erklären, dass sein Kollege das Ringen mit dem kaputten Laubbläser aufgibt.
Derweil beobachten wir links von uns vor einem Wohnhaus einen Pappkarton, an dem ein Zettel hängt. Gratis zum Mitnehmen steht darauf. Das findet man in den kleinen Gemeinden in der Schweiz oft. Gratis zum Mitnehmen Kartons, in denen Bücher liegen, Geschirr, Taschen, Videos, CDs. Ich liebe das. Das ist ein Glanzlicht bei Spaziergängen durch das Dorf. Es ist wie Gratiskino. Sehen, was andere Menschen loswerden wollen und es anderen Menschen anbieten, ohne es direkt in den Müll zu werfen.
Der Karton ist leer. Wir sind die ersten einer Serie von Passantinnen und Passanten, die sich dem Karton nähern, hinein gucken, nichts sehen, weiter gehen. So ruhen wir auf dem letzten Bänklein vor daheim und beobachten, wie Menschen sich dem leeren Karton nähern, in dem Dinge zum Verschenken zu vermuten sind, hinein schauen, weiter gehen. Wir sind wie in die Zange genommen von den Karton-Leuten und dem Erntenden Gärtner, bis irgendwann eine Katze auftaucht, in den Karton starrt, daran schnuppert, hinein klettert, sich drei mal im Kreis dreht und es sich bequem macht.
Ganz großes Kino. Links die Katze, in der Mitte wir und rechts geht der Gärtner schmatzend zurück zu seinem Gärtnerauto, wo schon der Kollege wartet.
Der rankende Busch ist frei. Eine Frau öffnet die Tür des Hauses, vor dem der Karton steht, redet ein auf das Büsi (so heißen Katzen in der Schweiz), na, Büsi, was machst du denn hier … und so weiter, mich drängt es zum Strauch mit den geheimnisvollen Früchten. Naseweis schaue ich ins Grün. Da, tatsächlich, da hängen kleine bräunliche Dinger dran … der Gärtner schaut rüber, achje und da wird es nun echt herzig, sagt er doch, oh, das täte ihm aber Leid, wenn er gewusst hätte, hätte er doch was übrig gelassen und schon greift er sich einen Rechen von der Pritsche des Gärtnerautos und kämmt das Gestrüpp nach den höher hängenden Früchten. Die Urform der Kiwis aus China, sagt er und einen lateinischen Namen. Ich bin derweil beschäftigt, Abstand zu halten und mich günstig zum Wind zu drehen, kann ihm ja nicht sagen, dass ich viral bin vielleicht, wie auch immer, der Wind umhuscht uns günstig, ich kann ihn vermutlich schützen und wir schwätzen wie normale Smalltalker. Er zerrt ein paar Kiwis vom Gestrüpp, kaum daumengroß. Die Pflanzen gibt es in jedem Gartencenter, sagt er, und da er bemerkt, dass ich offenbar aus Deutschland komme, fügt er hinzu, in Deutschland sind sie viel billiger. Hier, nehmen sie die und die da ist für ihre Frau.
Tja.
Ein paar Tage später. Wir wagen einen weiteren Spaziergang. Rüber zur Allee. Da ist absolut flach und wir müssen nicht im Tal sterben. Außerdem gibt es alle paar Meter Parkbänke. das Wetter ist schön und vielleicht finden wir ja wieder eine Pappkiste voller Dinge zum Beobachten.
Nicht fit. Schon eine gute Woche krank. Es wird dauern. Ich sinniere, dass ich mich vorsichtshalber bis Weihnachten bedeckt halte, habe im Nichtstun eine gute Übung und bin zuversichtlich, dass ich durchhalte mit Nichtstun. Dem Finanzamt schicke ich einen Antrag auf Fristverlängerung. Das vernebelte Gehirn ist nicht in der Laune, Excel-Tabellen auszufüllen und Gewinne und Verluste zu berechnen.
Die Tage vergehen.
Wieviele Wochen sind vergangen? Knapp zwei. Wir fahren mit dem Auto in die Pfalz zur Künstlerhomebase. Frau SoSo hat einen Termin in der Gegend und ich sehne mich auch ein bisschen, wieder heim zu kommen und zu wohnen. Die dreihundert Kilometer Ochsentour teilen wir uns fahrtechnisch, was auch ganz gut ist. Ich will nichts verhässlichen, aber auch nichts beschönigen. Richtig gesund geht anders.
Weiterhin halte ich mich zurück, was Tätigkeiten betrifft, obschon es mich auch aufs Radel drängt und obschon der Wald ruft und noch nicht genug Holz für den Winter am Hof ist und eine Baustelle bei Freunden ruft, die ich vor der Erkrankung begonnen hatte, allein, irgendwas in mir sagt, ey, Herr Irgendlink, mach es wie Nordkap, verlangsame, komme zum Stillstand, lass dir alle Zeit der Welt. Ich wäre der beste Papst, die beste Mamst der Welt, ich kann Absolution erteilen. Mir selbst. „Das Bett, dein Freund und Helfer“ twittere ich und ich mache regen Gebrauch vom Bett, schlafe, was das Zeug hält. Der Hausarzt ist leider in Ferien bis November. Nie hätte ich großes Blutbild nötiger als jetzt, denke ich eines Morgens. Mir ist kotz elend und es fühlt sich an wie Nierenversagen, das Kreatinin müsste gemessen werden, gemach, gemach, Herr Irgendlink, sammele erst einmal Brennnesseln, koche Tee, ist Wochenende, da holt dich im deutschen Gesundheitssystem weder der Hausarzt, noch die Notaufnahme raus. Geduld. Durchstehen. Du lägst erst mal drei Tage auf Station, ohne auch nur irgend eine Untersuchung – die Unruhe wegen des Kotzspeihelends geht Hand in Hand mit der Gewissheit, dass die Notaufnahme nur genau nichts bringen würde, also in diesem speziellen Fall, in dem es ja nur Kotzspeihelend ist und kein Herzstillstand.
Das Wochnende nimmt seinen Lauf. Das Elend lässt nach. Der Tag wird heller. Brennnesseltee, so kostbar. Brennnesseltee, Geduld und ein wenig Glück.
Ich denke über Hypochondrie nach. Hypochondrie, gesunden Menschenverstand, Erfahrung mit früheren Nahkrankerlebnissen, kenne den Körper mittlerweile wie kein Zweiter – Niere, sag ich mir, Niere, Herr Irgendlink, geht anders. Da ist nix. Trotzdem, behalt es im Auge. Klar.
Ach was erzähle ich denn gerade dieses ganze Krankzeugs? Nuja, es beschäftigt mich. Der Covid-Einschlag ist definitiv das Härteste, was ich bisher in meinem ‚Patientendasein‘ erleben musste. Deshalb. Es ist auch gleich vorbei mit diesem Blogartikel. Es war mir nur … ein Bedürfnis, darüber zu reden. Die Parkbänke möchte ich noch zusammen führen, dann ist alles gesagt.
Letzten Sonntag. Zwei Wochen nach Tag null. Südwestpfalz. Wir sind mutig aber vorsichtig. Wir sind negativ. Das ist positiv. Wir ‚dürfen‘ wieder alles. Aber wir können noch nicht alles. Ein Spaziergang jenseits der Landstraße ist möglich. Die Landstraße oberhalb des einsamen Gehöfts ist mir ein Marker geworden fürs wieder fit werden. Seit Tagen übe ich mich in Körperlichkeit, setze mich aufs Radel und kurbele die etwa dreihundert Meter hinauf bis zur Landstraße. Da sind gut zehn Höhenmeter zu überwinden. Ich mache es wie einst nach einer Bandscheibenerkrankung. Langsam, mit viel Gefühl und viel Geduld und nicht zu viel. Das Bett, wie gesagt, mein Freund und Helfer. Alle Termine abgesagt – ach nee – der Steuerbeamte rief an, er müsse den Antrag auf Fristverlängerung ablehnen. Ich verspreche ihm, in zwei drei Wochen zu handeln. Er sagt, er werde mich erinnern. Deal. Also. Landstraße, radeln, ich und alles gaaanz ganz langsam. Gutso.
Doch zurück zum letzten Sonntag, als Frau SoSo noch da war. Wir machen einen Spaziergang jenseits der Landstraße. Da ist schön flach. Waldrand und garstig braunes Feld. Vielleicht irgendwo auch ein umgestürzter Baum zum Draufsitzen. Nur ein zwei Kilometer wird unsere Tour dauern. Und bloß nicht runter ins Tal!
Super Sonne. Dieser Oktober ist wirklich unglaublich. Frau SoSo kann Luft riechen. Ich beäuge einen umgestürzten Kirschbaum und überlege, wie ich ihm mit der Kettensäge zu Leibe rücken würde. Holzfällerfantasien. Ein komplizierter Fall von unter Spannung stehendem Liegendholz über Brusthöhe. Zwei Mountainbiker kommen uns entgegen und da, kurz hinterm umgestürzten Kirschbaum um die Ecke, versteckt am Waldrand eine Bank. Jackpot. Wir sitzen. Wir starren auf den braunen Acker. Hinter uns Buchen und anderes Laubgehölz. Das war eine bemerkenswerte Sitzgelegenheit. Die wollte ich den geneigten Leserinnen und Lesern dieses Artikels nicht vorenthalten. Passt irgendwie zu den Bänkchen vor ein zwei Wochen in der Schweiz. The Sitzbankseries. Wie aus dem Maul eines Walfischs schauen wir aufs nackte Feld. Zackiges Geäst über unseren Köpfen, lauer Wind, Sonne, eine Traktorspur im Feld, Wärme, Oktober, Hoffnung.
Nun wäre noch die Geschichte in der Geschichte zu erwähnen, aber das ist eine andere Geschichte.