„Wie sollte es auch nur möglich sein, die Vorgänge, die sich in einer zehntel Sekunde im menschlichen Gehirn abspielen eins zu eins auszudrücken. Während Welten explodieren, Unzusammenhängendes in klare Kontexte gestellt wird, skippt man das Abstruse, die dunkle Masse, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat. Dennoch wohnt sie ihm inne.“ (Diktat aus dem Innern, 2008).
Morgens löste Cachekollege O-H. Cachealarm aus. „Ein brisantes Ding,“ wusste er zu berichten, „gleich um die Ecke. Wir treffen uns um Eins.“
(Geocaching, Schnitzeljagd mit GPS; wir waren zu viert unterwegs)
So kam es, dass ich bei bestem Frühlingswetter in die Unterwelt der hießigen Westwallbunker abtauchte, unter bizarrsten Verrenkungen mich in ein Loch zwängte und unterirdisch etwa einen Kilometer durch ein Tunnelsystem spazierte.
Liebling wie war dein Tag? Bizarr. Schnitt!
Eigentlich hätte ich gerne alte Blumenzwiebeln in die Erde gesteckt, mich der erwartungsvollen Freude des Wachstums hingegeben, auf einer hölzernen Bank gefläzt, in den blauen Himmel gestarrt, ein Feuerchen angezündet, Würstchen geschmort. Aber Cachealarm ist Cachealarm. Ich weiß, für Blumenzwiebeln ist es sowieso zu spät.
Das Wochenende plätscherte dahin. Es ist gar nicht so übel, in schmutzigen Westwallbunkern Lebenszeit zu verbringen. Die Akustik ist interessant. Jedes Geräusch wird von den feuchten Wänden hundertfach reflektiert, erschüttert das Ohr. Mitcacher T. fabulierte obendrein, dass der Tunnel ideal wäre, um mit einem Motorrad hindurchzujagen. Das, sagte er, sei insbesondere dann ein Kick, wenn an der Decke alle paar Meter eine Leuchte hängt und man ohne Licht und ohne Helm auf 200 Sachen beschleunigt. Dann entsteht eine Art Dreammachine-Effekt, stroboskopartige Lichtreflexe benebeln das Hirn; es wird träge, spielt verrückt und man beginnt zu haluzinieren. Ich weiß nicht, wieviele Menschen schon in Tunneln ohne Ausgang mit 200 Sachen an eine Wand gekracht sind. Unser Tunnel endete nach etwa 10 Minuten Fußweg in einem schmutzigen Lehmhaufen, in welchem auch das Logbuch für den Geocache versteckt war. Jemand hatte versucht, mit Hammer und Meißel die Wand zu öffnen, in der Hoffnung, der Tunnel führt noch weiter. Teilweise hatte er Erfolg. Hinter der Wand befand sich das, was sich überall in dieser Gegend unter der Erde befindet: feiner, gelber Lehm.
Schnitt.
Gestern Abend Kontrastprogramm in der Galerie B., welcher es gelungen ist, die wohl kitschigste Ausstellung in ihrer nunmehr 40-jährigen Geschichte zu kuratieren. In Rosa, gelb und zartblau dominierten Bilder im Unterzehntausend Euro Bereich. Ein Künstler steuerte Skulpturen bei, die aussahen wie überdimensionale Handschmeichler. Allesamt aus Stealit. Nun hört sich Stealit ja ziemlich hochtrabend an und man wundert sich, dass dieser „seltene“ Stein in solch vielschimmernder Farbenprächtigkeit zur Verfügung steht, sogar in gelb, rosa und zartblau. Speckstein jedoch dürfte jedem meiner Leser aus dem Handarbeitsunterricht bekannt sein.
Das Kunsterlebnis war so einschneidend, dass ich den lieben langen Morgen, bis Cachekollege O-H. Cachealarm auslöste, einen Artikel fabulierte, den ich gerne geschrieben hätte zum Thema Nach-dem-Mund-reden, in dem es nicht nur um Kunst gehen sollte und wie sich die Menschen darüber äußern, was sie von diesem oder jenem Kunstwerk halten. Nein, es sollte eine Abhandlung werden, die alle Bereiche des Lebens und der Meinungsfindung betreffen. Zu diesem Zweck hatte ich eine Pyramide auf Papier gekritzelt, in der ich einige Strichmännchen übereinander skizzierte und ihnen die Namen A, B, C, D und so weiter gab. Ganz oben in der Pyramide stand A, dessen Meinung die allerwichtigste ist, darunter waren B und C auf gleicher Ebene, dann folgten D, E und F und so weiter. Je geringer die Stufe in der Meinungspyramide, desto weniger wichtig die Meinung der skizzierten Menschen.
„Ein tolles Modell,“ rieb ich mich am Kinn. Bloß, was sagt es aus? Was passiert, wenn niemand in der Pyramide eine Meinung hat, etwa zum Thema, ob überdimensionale Handschmeichler aus Speckstein gut sind oder böse? Dann wird es so kommen, dass diejenigen ganz unten in der Meinungspyrmaide überlegen, was wohl diejenigen eine Stufe höher in der Meinungspyramide meinen würden – weil sie in irgendeiner Weise abhängig sind von denen, die über ihnen stehen – und sodann diese mutmaßliche Meinung als die Ihre akzeptieren. So beißt sich die Ratte in den Schwanz, wenn es keine Meinung gibt (umgedrehtes Meinungspyramidenprinzip – die Meinung kommt von Unten – dies wiederum würde einen Aufsatz über die Richtung der Meinungsbildung nachziehen, welchen zu schreiben ich aber nicht in der Lage bin. Trotzdem: guter Einwurf).
In der Regel gibt es aber eine Meinung und die, in der Meinungspyramide Gefangenen, stehen in dem Dilemma, die Meinung, der über ihnen stehenden zu bestätigen – aus verschiedenen Gründen (Chef; Liebe; Sexbegierden; Sex mit Chef; enttäuschte Liebe; oder schlicht, jemand aus Unterwürfigkeit nach dem Mund reden – es gibt unzählige Gründe, keine eigene Meinung zu haben, bzw. eine andere Meinung anzunehmen, inklusive des ehrlichsten Grundes: tatsächlich keine eigene Meinung zu haben: man ist schlicht indifferent).
Schnitt.
Ungefähr in dieser Phase des gedachten Textes über die Meinungspyramide kam der Anruf von Cachekollege O-H. Ich erinnere mich, dass ich, nachdem wir telefoniert hatten, vor dem Blatt mit der soeben skizzierten Meinungspyramide stand und eine Liste von Schlagworten betrachtete und ich mitten im Satz mit der Kritzelei aufgehört hatte.
Verflixt.
Man sollte Gedanken einfach zu Ende führen, denn schließlich ist es schwer genug, das was sich in einer zehntel Sekunde im menschlichen Gehirn abspielt, eins zu eins auszudrücken.
Schnitt.
Dunkle Stellen wabern in unserem Innern. Es sind die unwegsamen Hochmoore der Erkenntnis.