Wieder radeln. Diesmal war ich mit Schulfreund I. verabredet. Er würde mich am Bahnhof Kaiserslautern aufschnappen. Von dort per Auto, die Fahrräder huckepack in unsere alte Heimat, die Nordpfalz. Alle paar Jahre wandeln wir mountainbikend auf den Pfaden unserer Jugend, schauen, was sich verändert hat.
Am Bahnhof Homburg, welchen ich auch gerne als den verspucktesten Bahnhof zwischen Wladiwostok und Lissabon bezeichne, wartete ein Mann mit unglaublich verschobenem Gesicht. Im riesigen Kopf thronte das rechte Auge dezimeterweit über dem linken. Die Haut war ledern, die Nase krumm. Ich erschrak bei seinem Anblick. Er bemerkte, dass ich erschrak, schaute weg. Mit schlechtem Gewissen versteckte ich mich hinter einer Säule und dachte über das Besondere nach, sowie darüber, ob ich ihn vielleicht ansprechen sollte. 100 Fahrgäste warteten auf den Zug. Der Besondere stand isoliert. Keiner traute sich, hinzusehen. Wie schlimm musste er sich fühlen. Die Uhr tickte zäh. Genug Zeit, mir Folgendes klar zu machen: Normalerweise stehst du doch auch an Bahnhöfen und sprichst niemanden an. Wieso also nun den Besonderen? Stellte mir vor, er sei eine besonders schöne Frau, auch sie würde ich nicht ansprechen und das Gefühl hinter verstohlenem Blick wäre ungefähr das gleiche: unterdrückte Neugier. Ich sprach mein Gewissen frei. Der Zug rollte ein, die Hundertschar zwängte sich durch die Türen. Im Fahrradabteil hatte sich eine Gruppe 47-jähriger Frauen breit gemacht, so dass ich mit Fahrrad neben dem Besonderen zu stehen kam. Die Damen schlürften Sekt, schnatterten frivol, unterhielten sich über die Archaik analoger Fotografie und dass es zu dunkel ist, ein Gruppenfoto zu knipsen. Trotzdem versuchte eine Blonde mit ausladendem Hintern, dicht an mich gepresst in Höhe Bruchmühlbach Miesau einen Schnappschuss. Eine schwarzhaarige Dame stach besonders hervor. Ich dichtete ihr fetischistische Neigungen an. Manchmal trafen sich unsere Blicke. Sie begann mit ihren Kolleginnen ein Gespräch über Schuhe und warum sie rosa sind und warum die Absätze so hoch sind. Ihr Koffer war auch rosa. Aha, dachte ich süffisant. Nun gab es zwei Besondere, eine mit rosa Stöckelschuhen und den Mann mit dem schiefen Gesicht. Ich schaute aus dem Fenster. Der Mann mit dem schiefen Gesicht schaute durchs andere Fenster. Im Spiegel der Scheiben beäugten wir uns immer dann, wenn der Zug an dunklen Baumreihen vorbeisaußte. Seine Beine und Hände warn jung wie die eines Kindes. Er konnte höchstens 18 sein, vielleicht jünger. In einer langgestreckten Kurve rumpelte eine brünette 47erin an meine Schulter, Anlass genug, ein Gespräch zu beginnen. Ich fragte: „Wohin fahren sie?“ „Nach Heidelberg.“ „Bleiben sie länger? Wegen der Koffer?“ „Nur bis morgen. Wir Frauen brauchen nunmal viele Dinge.“ Aha, Fetisch, dachte ich und sagte, „jaja, man sollte auf nichts verzichten müssen.“ In meiner Phantasie waren die Koffer mit rosa Strapsgürteln vollgestopft, sie hatten einen Stripper engagiert, der sie abends im Hotel unter dem Schloss unterhalten würde und noch so Einiges mehr. Unser Gespräch mäandrierte jedoch in Richtung Kunst und Lebensart, machte einen Schlenker über die schweren Zeiten und das Glück zwischen den Fugen in der Bastion der Verunsicherung. Bis hin zum Wetter, welches ausgesprochen schön zu werden schien an diesem Tag.
In Kaiserslautern endete der Zug. 13 Damen, die Besondere und der Junge mit dem schiefen Gesicht, sowie ich allesamt raus aufs Gleis und jeder für sich weiter in die verschiedensten Himmelsrichtungen.
Ich überlegte, wie wohl das Gespräch verlaufen wäre, wenn ich mit dem Jungen zusammengerempelt wäre und nicht mit den Damen? Sein Gesicht ist ein dominantes Merkmal. Wie ein Schild steht es zwischen ihm und der Welt. Ein hartes Los. Es ist kein rosa Stöckelschuh, den man nach Belieben austauschen und über den man sich lustig machen kann. Kein Fetisch, welchen man je nach Laune versteckt oder offen zeigt. Es ist immer da.