Von Soundso-Fischchen, Nachlässen und kompletten Menschenleben

„Mit jedem Tod werde ich ein Mensch mehr“, kam mir heute Morgen in den Sinn. Nein, niemand ist gestorben im Verwandten oder Bekanntenkreis.

Ich ersticke in Zutuns. Das Atelier befindet sich im Umbau und Renovation. Ich komme endlich dazu, den zwar wenigen, aber insgeheim gehaltvollen Nachlass von Journalist F. zu sichten, den ich vor seinem Tod aus der zu räumenden Journalistenbude gerettet hatte. Damals, als noch Hoffnung bestand, er vorübergehend ins Pflegeheim kam, stets hoffte, wieder auf die Beine zu kommen, körperlich wie materiell und er eines Tages in eine Betreutes-Wohnen- Einrichtung umziehen könnte, wo er sich mit der geretteten Habe hätte gemütlich einrichten können. Es kam anders und nun ist es schon über zwei Jahre her, dass wir seine Asche bei einem Baumwunder namens Braut und Bräutigam unweit einer Kapelle im Saarland verstreuten. Eigentlich war das mit der Asche ein bisschen anders geplant, aber das ist eine andere Geschichte.

Mit jedem Tod landen Dinge in den Leben der Nächsten. Ganze Nachlässe, sentimentale Erinnerungen, hier ein Foto, da eine Schatulle, manchmal Reichtum, oft Pflichten – nein, ich habe die Dinge nicht vom Journalisten geerbt, ich bin nur derjenige, der sie verwahrt. Seine Erbin wollte kaum etwas. Selbst die Familienfotos, fein gerahmt, liegen noch in einer Kiste im Atelier.

Und die Kunstsammlung; die hat es in sich. Nicht dass die Kunstwerke extrem hohe Werte erzielen würden, aber doch, unter den Bilder finden sich einige bekannte Namen und viele Kolleginnen und Kollegen, die ich kenne, die Journalist F. im Laufe seines Journalistendaseins interviewte, deren Ausstellungen er besprach, die ihm hie und da etwas schenkten, denen er hie und da etwas abkaufte, das ihm gefiel. Es befinden sich sogar Irgendlinksche Werke in der Sammlung, die auch ihren Preis erzielen können. Vor allem aber ist die Kunstsammlung sehr schön, geschmackvoll, macht sich gut an Wänden in feinen weißen Wohnungen, wenn man denn eine hat. Die Künstlerbude selbst hängt leider A selbst schon voller Kunst und B sind die Wände nicht weiß genug, nicht groß genug, zu viele Spinnen allüberall, die ihre Notdurft auf den Rahmen hinterlassen.

„Hüte Dich vor dem Soundso-Fischchen“, sagte jüngst Galerist B. Das Soundso-Fischchen ist etwas größer als das Silberfischchen; er zeigte mit den Fingern und ich stellte mir vor, dass es etwa einen halben Zentimeter lang ist, schlank und dass es, wie der Galerist warnte, Papier frisst. Eine Unsumme Euro habe es einst in der Galerie verschlungen; er nannte Namen der KünstlerInnen, die vom Soundso-Fischchen gefressen wurden, „achja und der Spinnenschiss? Den kriegste einfach weggewischt“, sagte er. Das Soundso-Fischchen heißt eigentlich anders, aber ich habe den Namen vergessen. Und es spielt hier, auf dem von Spinnen und Bilchen umschwärmten einsamen Gehöft im Scheunenatelier zum Glück auch keine Rolle. Fotos frisst es nicht und auch keine komischen Objekte und keine Fahrradketten und ich habe auch noch nie ein Soundso-Fischchen gesehen. Ich stelle es mir schlank und silbrig vor und wenn man die Brille aufsetzt, um besser zu sehen, zappeln an dem kümmelkornförmigen Körper unzählige Beine und es besteht aus viel Maul, das es aufreißt, um Papier zu fressen.

Die Kunstwerke von Journalist F., viele aus Papier, sind tadellos erhalten. Ich entstaubte sie und vielleicht machen wir endlich einmal eine Ausstellung in der Galerie. Die Sammlung F.! Und es gibt eine Lesung aus seinem Buch und seinen Blogtexten, so wie es zu seinen Lebzeiten schon überlegt war.

Achje, die Zeit, wie sie uns immer ein Schnippchen schlägt, uns auf falschen Füßen erwischt, unsere Lebenszeitplanung durchkreuzt; auch ich bin betroffen.

Gestern bei einer Radeltour mit einem wortkargen aserbaidschanischen Künstler der Galerie (ich bin durch Zufall sein Buddy geworden, der ihm hilft für seine Residency in der Galerie Fuß zu fassen; andere Geschichte) kamen mir all die Toten der letzten zehn Jahre in den Sinn. Ich mache das manchmal, surfe gedanklich auf den Gräbern, die, einst frisch ausgehoben, nun überwachsen, die vergangenen Leben der Vorangegangenen  behüten. Ja, vielleicht könnten wir mal zum Journalsitenbaum radeln, dachte ich und dann: Wann hat das eigentlich angefangen mit dem andauernden Sterben im Verwandten- und Freundeskreis? Zehn Jahre her, ja, ich erinnere mich; plötzlich ging jedes Jahr einer der männlichen Verwandten, zack, zack, zack und dazwischen gleichaltrige oder gar jüngere Freundinnen und Freunde, Twitterbekanntschaften, die einem lieb geworden waren, Social Media-Buddys, Künstlerkollegen und -kolleginnen und Freunde und Freundinnen von Freunden und Freundinnen und und und und insbesondere mit den nahestehenden Gestorbenen oder noch Sterbenden werde ich jedesmal ein Mensch mehr, so dachte mein Hirn, kurbelnd im Bliestal … ja ja, ist es nicht so, mit jedem toten Nahen übernimmst du ein Teil seiner Lebensbürde, seines Wandelns in der Welt, Dinge und Pflichten gehen in deinen Besitz über. Eine kaputte Kettensäge vom Onkel, viele kaputte Geräte des Vaters, auch viele noch ganze Geräte natürlich; aber mehr noch, vielleicht geht das ja nur mir so, die Lebensträume der Vergangenen leben oft auch zu einem gewissen Teil in mir weiter und damit komme ich zum großen Problem: Es wird irgendwann einen finalen Overload geben, in dem ich, also wenn nicht ich es bin, der stirbt, von allen alles verinnerlicht haben werde und mich mühsam durchs Leben schleppe, versuchend, die Dinge zu richten.

Vielleicht kommt daher der rigorose Gedanke, falls mir mal etwas zustößt: Mietet einen Abfallcontainer, schmeißt alles rein, löscht die Festplatten, verscharrt mich so billig wie möglich und genießt euer Leben.

3 Antworten auf „Von Soundso-Fischchen, Nachlässen und kompletten Menschenleben“

  1. @kibmib Außerdem: In hundert Jahren wird sich niemand mehr an uns erinnern. Dennoch macht irgendwie die Abschiedlich- und Endlichkeit des Lebens seinen Wert aus.

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