Wegen Patrice tut es mir ein bisschen Leid, treue Seele, so vermute ich. Im speckigen Fahrradtrikot steht er neben meinem Rad, als ich die Arme voller Getränke und Lebensmittel aus dem Lidl-Markt in Saint Dié verlasse. Scheint auf mich gewartet zu haben, fragt nach dem Woher und Wohin und will mich auf ein Bier einladen. Ich sage nein. Und das tut echt weh. Denn eigentlich hat er kein Nein verdient. Jemandem zu verweigern, ein halbes Stündchen plaudern und dabei ein Bier zu trinken ist jedoch vielleicht genau die angemessene und ebenso unschöne Gegenkraft zur Hektik des Tages. Ich bin nunmal nicht in Plauderlaune.
Etwas zieht mich auf den Sattel, jene unsichtbare treibende Kraft, die uns Radreisende unruhig werden lässt, sobald uns etwas oder jemand aufhalten will: Menschen, tolle Aussischtspunkte oder die Tastatur, mit der man einen Blogartikel schreiben könnte. Der Moment des Verharrens ist für einen dahin driftenden Radreisenden oft nur schwer zu ertragen (und so muss ich mir diese Zeilen gleichsam aus der Seele reißen, bin ich doch gezwungen, im Zelt zu verharren, mich auf den Moment und den Akt des Schreibens einzulassen, statt das Lager zusammen zu räumen und mich in den Sattel zu schwingen.
Das Zelt steht am Waldrand auf einer frisch gemähten Wiese. Überall liegen grün in Folie verpackte Heuballen. Bei einer Frau, die gerade ihre Pferde an einem verwaisten Hof fütterte, hatte ich gestern gefragt, ob ich hier zelten darf. Sie sagte: Vielleicht?! Das Land gehöre ihrem Nachbarn, und der habe bestimmt nichts dagegen, solange ich keinen Müll hinterlasse. Als ob je ein Langstreckenradler seine Fastfoodverpackung, die er regelmäßig in den Mac Donalds dieser Welt kauft, am Straßenrand hinterlassen hätte. Es sind immer die Ungewöhnlichen, die man in Verdacht hat, nie die Normalen, die Dazugehörenden, das eigene Fleisch und Blut, Jemand von uns.
Nun schon zwei Tage im Sattel. Ich hatte vor dem Tourstart zwar beschlossen, erst einmal in die Schweiz zur Liebsten zu radeln, aber es war noch nicht klar, auf welchem Weg. Nicht wie sonst entlang des Rheins durchs Elsass. Das war schon klar, aber ob ich durch die Vogesen radele oder westlich daran vorbei, das stand offen. Auch die Ausfallschneisse aus Zweibrücken war nicht sicher. Zunächst liebäugelte ich, über Altheim auf dem Mühlenradweg nach Franreich zu radeln, entschied mich aber, drunten in der Stadt nahe des Bahnhofs, anders und fand mich Richtung Bliesradweg unterwegs. Und wenn ich schon hin und her entscheide, sagte ich mir, kann ich gerade noch Freundin Silvia besuchen, die am Weg wohnt. Wir schwätzten und rauchten und tranken Wasser.
Mit der Ausfallroute über Blies und Saar kann man nichts falsch machen. Bis auf etwa fünf Kilometer durch Saargemünd führt die Strecke auf perfekten Fernradwegen zunächst auf alter Bahntrasse, dann am Kanal auf Treidelpfaden, die zum Radweg umgewidmet wurden. So ging der vorgestrige Tag in Rundumwohlfühlradeln. Ich startete sogar ein altes, schon seit bald zehn Jahren gehegtes Projekt, Angler am Kanal zu fotografieren. War bass erstaunt, wie freundlich die Männer – ja, es waren nur Männer – sind und wie sie mich nur gebrochen französisch Sprechenden einluden, sie zu portraitieren. Viele wollten sich sogar von vorne fotgrafieren lassen, setzten sich mit Angel in Pose und ich lehnte verschämt ab. Wieso eigentlich? Das wäre die Gelegenheit gewesen. Aber okay, ein zwei gute Fotos sind dabei von Männern, fischend am Kanal. Handyfotos und oft Gegenlicht. Aber der Anfang ist gemacht. Wieder ein lang gehegtes Ding in Angriff genommen.
Unterwegs videologgte ich fleißig und dachte bei jedem Eintrag, den ich auf die Gopro redete, Mann, Mann, Mann, was hast du dir früher angetan, alles händisch aufzuschreiben, satt einfach nur zu plaudern. Die Disziplinen lassen sich nicht vergleichen. Vielleicht ergänzen sie sich ja?
Nachdem ich mich an Tag eins an Kanälen warm geradelt hatte, stand ich gestern vor der Wahl, weiter dem Kanal zu folgen bis zur Mosel und dem Fluss zu folgen. Genau wie die Saar hat die Mosel zwei Quellflüsse, die in den Vogesen entspringen.
Entschied mich bei einem Dorf namens Moussey, quer durchs Hügelland zu radeln über Blamont nach Raon-l‘-Etappe an der Meurthe.
Was zunächst ganz okay war. Ruhige Landstraßen, oft als Radroute ausgeschildert. Verschlafende Dörfer, sehr viel Gegend und Kühe und frisch Gemähtes. Kaum Verkehr. Kurz vor Raon musste ich einen 350 Meter hohen Kamm überqueren, nach vielen kleinen Aufs und Abs das Sahnehäubchen hinter dem Dorf Neuf-Maisons. Oben angekommen und auf die andere Seite des bewaldeten Gebiets lugend konnte ich sie dann sehen, die Vogesen. Nicht sehr hoch wirkend. Mittelgebirgisch, schwarzwäldisch.
Runter zur Meurthe. In der Hoffnung, einem Radweg flussaufwärts folgen zu können. Doch da war keiner. Sattdessen kilometerweit auf der ehemaligen Hauptstraße neben der vierspurig ausgebauten Nationalstraße. Glück denen, deren Häuser seit der Verlegung der Trasse am nunmehr verwaisten Straßenstrang liegen. Recht erträglich, wenn auch nicht schön. Lärm und Gestank bis Saint-Dié, was mich ganz aggressiv machte, nach anderthalb Tagen in der Stille. Im Lidl in Saint Dié schließt sich der Kreis. Ich befinde mich in einem gehetzten, genervten Zustand, stehe ewig an der Kasse an, bewundere die Verkäuferin, wie sie es schafft immer freundlich zu sein, bin selbst auch freundlich – so viel reichts noch mit meinem Freundlichkeitskuchen, tja, und dann komme ich raus und könnte eitel vor mich in plaudern mit einem freakigen Radler, aber ich bin schlicht nicht in Stimmung. So schade.
Etwa zehn Kilometer jenseits von Saint Dié komme ich schließlich weg von der stark befahrenen Landstraße (nur noch 50 km bis Colmar, lese ich auf einem Schild). Befinde mich auf einem Bahntrassenradweg, der noch etwa fünf Kilometer weiter führt und sich meine Route dann nach vielleicht noch einmaal zwei Kilometern Hauptstraße in kleinen Bergsträßchen verlieren wird.