Ballast abwerfen, sich selbst einschlanken

Gegen Mittag das Telefon. Zweiter Tag nach Ende der Tour rund um die Schweiz. Ich bin noch immer hundskaputt. Dauermüde, sehr entspannt zwar, aber nicht wirklich zu etwas zu brauchen. Den Reise-lass-auf-dich-zukommen-Flow habe ich bewahrt. Somit ist es ein Leichtes, ans Telefon zu gehen, Künstlerfreund A. ist dran. Eine Vorlesung sei ihm ausgefallen, weil die Studierenden schlicht nicht aufgetaucht seien und ob wir eine Tasse Kaffee bei mir im Atelier … mal wieder plaudern. Aber natürlich! Im verhärteten Normalalltag hätte ich womöglich nein gesagt, weil die Kette der zu Tuns recht hart ist. Im Nachreisealltag ist immer noch alles möglich, kann ich mich treiben lassen. Ein bisschen fühle ich mich wie eine Mischung aus Rekonvaleszenz und außer Dienst gestellt, Selbstpensionierung bei laufendem Betrieb sozusagen.

A. trägt eine Uhr. Ein sehr kleines, gutes altes Rund mit echten Zeigern und ohne Schnickschnack. Damit er nicht immer das Handy rausholen muss, um die Uhrzeit zu schauen und überhaupt, „wusstest du, Irgend, dass man bei den neumodischen Uhren unbewusst ständig am Rechnen ist? Wenn da etwa steht 12:48, dann rechnet es in einem die Zahlen um in Zeit, die man auf der „normalen“, guten alten Uhr auf Anhieb am Stand der Zeiger erkennt.“ Noch besser wäre natürlich eine Sonnenuhr. Wir scherzen. Wir lachen. Die örtliche Fachhochschule wurde gehackt und wird nun erpresst, sagt A. Riesenchaos. Intern sei man zum guten alten schwarzen Brett zurückgekehrt, um die Studierenden zu informieren. Der Schaden muss immens sein. Die Kriminalpolizei ermittelt. A. ist einer von einer handvoll Professoren, die noch ein physisches Backup aller wichtigen Daten haben. Gottlob. A. berichtet von armen Teufeln unter der Kollegschaft, die buchstäblich vor dem Nichts stehen.

Mir wird plötzlich klar, dass ich die Schweiz im Uhrzeigersinn umradelt habe. Ein ebenso haptisches wie zeitkonfuses Konzeptkunstwerk, noch ist es nicht ganz fertig und wenn ichs mir recht überlege, fängt die Kunst gerade erst an. Selbst die unterwegs geschriebenen Liveblogberichte sind noch nicht alle online. An denen muss ich noch feilen.

Auf der Zwölf bin ich in die Runde um die Schweiz eingestiegen, folgte dem Rhein bis nach Landquart am gleichnamigen Fluss, was ungefähr auf der Drei liegt, radelte runter bis zur Sechs nahe Lugano, und kam bei Genf zur Neun. Dann noch knapp sechstausend Höhenmeter auf der Juraroute. Au Backe war das anstrengend!

Der Anstrengung zum Opfer fielen die letzten drei Blogartikel: „Basel da unten“, „Strasbourg en passant“ und „Pirmasens kein Entrinnen“.

Ich werde sie demnächst nachliefern und die privaten Einträge, die ich unterwegs schrieb noch einmal sichten und veröffentlichen.

Im Gegensatz zu früheren Konzept-Reisekunstprojekten habe ich die Arbeitsweise ein bisschen verändert. Ich bleibe nicht mehr alle zehn Kilometer stehen und mache ein Foto der bereisten Strecke. Das ist einerseits schade, denn das Konzept Kunststraße hatte was, finde ich, aber es fördert den Reiseflow, nicht ständig anhalten zu müssen. Unterbrechung des Kurbelns nur noch, wenn Körper und Geist sich einig sind. Hat etwas Natürliches. Ich radele auch mehr, schneller, kontinuierlicher, denke spärlicher aber präziser, erzwinge nichts, bzw. so wenig wie möglich. Ein Novum dieses Liveblogprojekts ist die Videofilmerei. Insgesamt etwa zehn Stunden Filmmaterial habe ich mitgebracht. Mal schauen, ob ich es in Youtubefilme konvertieren kann.

Plaudern aus dem Nähkästchen der feinen Künste. Ist auch wichtig. Längst ist mir klar geworden, dass ich nicht fertig werde mit meinem „Lebenswerk“, dass es nie Frucht tragen wird, mich nie vernünftig ernähren, so wie erhofft, ich dennoch irgendwie weiter machen will, aber nicht mehr so verbissen, nicht mehr so krampfhaft. Nach dem großen Egal verspürt man eine große Erleichterung. Ballast abwerfen, sich selbst einschlanken. Abspecken auf den letzten Lebensmetern bis nur noch das letzte Hemd bleibt und mit einem sanften Ruck reißt man dem schließlich die kleine, fein vernähte Brusttasche herunter. Eine Analogie zur Degradierung vielleicht. Ich schweife ab.

Ein zwei Stündchen plaudere ich mit A. auf der Südterrasse des einsamen Gehöfts. Schön warm, aber nicht zu heiß. Ringsum Reiseendchaos. Das Fahrrad entpackt. Schmutzige Klamotten. Das Zelt zum gänzlich Trocknen rausgelegt. Ist schon ein bisschen unordentlich bei mir, aber es stört mich nicht. Ich habe Zeit. Noch. Bin noch nicht zurück im alten Trott. Mehr noch, ich spekuliere, was wäre, wenn du nicht zurückkehrst zum alten Trott, Herr Irgendlink? Sicher gesünder. Schon erinnere ich mich an die stressreiche Zeit vor der Reise – es war ja auch eine Ausnahmesituation mit Betreuung für Freund Journalist F.: Hörsturz, Schlafstörung, Apnoe, Herzschmerzen. So dass ich vor dem Start dachte, was wenn es nicht psychisch ist, sondern tatsächlich körperlich? Ausprobieren. Ein Herzschaden wird sich bemerkbar machen, sobald die ersten Pässe kommen. Nichts passierte. Schon nach zwei Tagen unterwegs war all der Mist wie weggeblasen.

Dass wir unser Vermächtnis regeln müssen, nein sollten, darüber redeten wir und auch im Blick auf den Hochschulhack, wie fragil doch alles digitale ist. A. ist gut aufgestellt, hält er doch ein reichhaltiges Werk bereit aus Gemälden, Büchern und Zeichnungen. Bei mir sieht es etwas düsterer aus. Das Hauptwerk ist rein digital. Ephemer gar.

 

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