Wenn die Schweiz ein Dickdarm wäre und ich eine Darmspiegelung vornehmen würde, so würde ich vermutlich sagen, alles bestens, nur ein paar Zysten: etwa Schaffhausen und Porrentruy. Für das Dörfchen Büsingen am Hochrhein haben wir eine Gewebeprobe entnommen, aber machen sie sich keine Sorge, das ist vermutlich harmlos.
Büsingen ist eine deutsche Exklave in der Schweiz unweit von Schaffhausen. Meine erste Zeltnacht verbrachte ich vor 14 Tagen just gegenüber Büsingen an einem Froschteich. Schaffhausen ragt rechtsrheinisch weit bis nach Deutschland hinein und die Gegend um Porrentruy ragt ebenswo weit bis in den Sundgau nach Frankreich. Durchaus vergleichbar also, diese geographischen Phänomene mit den Zysten, die sich in manch einem Menschendarm bilden. Kleine Wasserblasen, harmlos, gar natürlich? Aber was weiß denn ich. Ich bin weder Proktologe, noch Geograph.
Den gestrigen Tag war ich mehr oder weniger damit beschäftigt, die Gegend um Porrentruy zu durchradeln. Die Juraroute, Schweizer nationale Veloroute Nummer 7, führt tatsächlich so weit wie möglich über kaum befahrene Bergsträßchen und ist auf ihren insgesamt 280 Kilometern nur auf 14 Kilometern nicht geteert. Womöglich dienen die Sträßchen im Winter als Langlaufpisten, aber was sage denn ich, ich bin kein Wintersportexperte.
Schon früh räumte ich mein Lager nahe La Sagne, weil mich die Kühe der Nachbarweide mit ihrem Gebimmel weckten. Offentbar trieb man sie mittels eines Quads oder Motorrads zum Melken nach Hause. Manche von ihnen hatten unglaublich gefüllte Euter, vielleicht dreißig Liter Milch insgesamt. Ich habe gehört, dass „Hochleistungskühe“ durchaus so viel Milch geben können, was aber nicht natürlich ist. Dennoch halte ich es für das kleinste Übel, das den Tieren zustoßen kann. Sie leben in dieser Gegend frei auf Weiden oder manche gar in den hügeligen Wäldern oder leicht bebaumten Wiesen, auf denen vereinzelte Tannen Schutz und Schatten bieten.
Ein frühmorgendlich kurz vor der Öffnung befindlicher Denner. Es ist wohlgemerkt Sonntag. Die Läden haben in der Berggegend oft sonntags offen. Ob es wegen der Touristen ist, oder wegen der Landwirtschaft, ich weiß es nicht. Ich bin kein Einzelhandelsfachmann. Eine Kleine Schlange hat sich vorm Eingang gebildet. Es ist fünf vor acht. Das Dorf heißt Saignelégier, ist recht belebt, so früh. Von allen Richtungen Autos, die auf dem kleinen Dennerparkplatz parkieren, Männer aussteigen, einander kennen, miteinander plaudern. Das Brötchenholen auf juraisch sozusagen. In Saignelégier sehe ich erstmals ein Hinweisschild nach Basel. Auf der Route 7 sind es 92 Kilometer. Könnte ich schaffen.
Will ich aber nicht. Ich fahre im strengen, alt eingesessenen Takt des Europenners. Fast werde ich ein bisschen sentimental, ist die Runde um die Schweiz doch nun schon fast beendet. Ich muss ans Nordkap 2015 denken. Da setzte dieses Gefühl von Sentimentalität „kurz“ vor Erreichen des Ziels etwa 700 Kilometer vor dem Nordkap ein. Ich war noch „unten“ an der Ostsee und ich tat, was ich tun musste. Verlangsamen, statt beschleunigen. Es ist ein mächtiger Menschenimpuls, im Anblick eines Ziels, sei es eine Wasserstelle, eine Supermarktkasse, die Pommesbude im Schwimmbad, eine Bergkuppe oder das Nordkap oder das Ende der Schweiz, zu drängeln, zu beschleunigen, grob zu werden. Und das bringt Unruhe ins Gemüt. Ins eigene wie auch in das Gemüt derer, die unruhig mit dir in der Warteschlange stehen. Dem entgegen zu wirken ist nicht einfach. In Supermärkten gelingt es mir nie. Im Fall Nordkap 2015 spürte ich, dass die Reiselust unter diesem unbewussten Drängen aufs Ende hin leidet und machte einen Abstecher nach „Süden“ bis an die Ostsee. Im kleinen Yachthafen von Batskärsnes, womöglich der nördlichste Hafen in der Ostsee, legte ich eine selbst verordnete Pause ein, radelte am nächsten Tag gar noch fünf Kilometer weiter auf die Landzunge hinaus, wo sich ein wunderbarer Campingplatz befand.
Und hier, in der Schweiz? Schon rausche ich runter nach Saint Ursanne am Doubs. Das ist der große Fluss des Jura. Der Fluss, der nicht weiß, was er will. Der Fluss, dem die Geologie übel mitspielt. Der Fluss, der seine Richtung mehrmals um 180 Grad wendet. oder ist es der Fluss, der der Geologie übel mitspielt und sich sein Bett kreuz und quer durchs Gebirge gelegt hat? Egal. Nach Saint Ursanne gehts wieder aufwärts. Das bremst mich. Das erdet mich. Nach ein zwei Stunden stehe ich am Col de la Croix, wieder knapp 800 Meter hoch und rausche sofort ab ins Porrentruyer Land. In die nördliche Sundgauszyste der Schweiz. Doch immer noch keine Ruhe, schon gehts wieder aufwärts. Unerwartet steil und lange folge ich einem Bach, befinde mich plötzlich in Frankreich, biege auf der Anhöhe ab und komme nach Lucelle am gleichnamigen Bach, der auch Grenzbach ist. Ihm folgt die Landstraße, wechselt mehrfach die Seite und somit befinde ich mich fast im Minutentakt mal in Frankreich, mal in der Schweiz.
Ziemlich weit unten, nur noch vier fünfhundert Meter hoch, begrüßt man mich plötzlich wieder auf Schweizerdeutsch. Ganz ungewohnt. Dabei liebe ich das Voran-Bonjouren. Nun sage ich beides, Grüezi und Bonjour, man weiß ja nie. Bis Laufen, auf französisch Laufon, ist die Sprache unscharf, mal so, mal so und oft beides.
In einem künstlich angelegten Teich nahe Neumühle, respektive Neufmoulin nehme ich ein Bad. Es ist unendlich heiß in der Sonne. Neben dem Teich steht ein Liegestuhl. Unklar, ob das ein Privatort ist oder jemand nur für Annehmlichkeit für alle sorgen wollte. Ich lege mich in den Liegestuhl, ein altes Ding aus Kunststoffnetz auf Rohrrahmen, döse, beobachte, wie die in der Sonnen funkelnden Tropfen auf den Beinen trocknen und schließlich nur noch Bräune bleibt. Bräune bis kurz übers Knie. Darüber ist die Haut blass wie unter einer ewigen Radlerhose bedeckt.
In Kleinlützel zweigt die Juraroute ab in die Berge. Ich bin sowas von am Sack. Keine Kraft mehr und auch kaum noch Lebensmittel, es mag gegen 19 Uhr sein. Ich kann mir nicht vorstellen, an diesem Abend noch den kleinen, zwar nur etwa 400 Höhenmeter hohen Anstieg zu beginnen und wer weiß, ob es im Anstieg Zeltmöglichkeiten gibt. Ich überlege, dem Bach Lucelle, der auf deutsch Lützel heißt, zu folgen bis zum Bach Birs, der nach Basel fließt. Die Landstraße fährt sich an diesem Abend ganz okay. In anderthalb Stunden könnte ich in Basel sein und darüber hinaus durch die Petite Camargue nach Norden radeln. Die Strecke kenne ich von meinen vielen Touren mit dem Rad zur Liebsten ja in und auswendig. Ich wüsste sogar einen guten Wildzeltplatz nahe Kembs. Wäre machbar. Kraft braucht man ja kaum, wenn man in der Ebende oder bachabwärts radelt.
Schlaf drüber, Herr Irgendlink, schlaf drüber. Bloß wo? Auf der Open Street Map mache ich jenseits von Kleinlützel einen Weg aus, der von der Landstraße zum Fluss und zu einer kleinen Brücke führt. Die Höhenlinien sagen mir, dass der unbewaldete Streifen am Fluss nicht von der Landstraße einsehbar ist und somit auch nicht beschallt wird. Jackpot. Welch lieblicher Platz. Direkt neben der Brücke, die sich als eiserner Fußgängersteg entpuppt, der in einen schmalen, steilen Pfad mündet, kann ich das Zelt aufstellen. Zwar mitten auf dem Weg, aber ich lasse es darauf ankommen. Es gibt sogar Hochwasserbrecher oder Schlammlawinenabhälter aus Beton, vielleicht sind es auch Panzersperren, schwer zu sagen, sieht man öfter in den Tälern. Wie riesige, graue Zähne ragen sie aus den Wiesen. Der Clou, darin sind Haken eingelassen und was macht man mit Haken? man spannt die Hängematte. Mitten über den Weg. Wenn schon das Zelt da steht, warum nicht gleich das faltbare Sofa dazu.
Zwei Radler, Vater und Sohn passieren amüsiert gegen Dämmerung: Nein nein, kein Problem und eigentlich kommt hier auch nie jemand vorbei. Ich hebe die Matte, damit sie drunter durch kommen. Der Vater macht mich darauf aufmerksam, dass der Verkehr Richtung Basel mit jedem Kilometer zunehmen werde und dass mein Plan, die Radwege am Fluss zu nehmen, zwar gut ist, aber die Radwege führen auch hin und wieder auf der Landstraße. Nachdem die Beiden sich am Zelt vorbei gemogelt haben und Richtung Kleinlützel verschwanden (der Pfad heißt Seniorenpfad), lasse ich mir das mit dem Flussabwärts versus Bergetappe via Mariastein noch einmal durch den Kopf gehen. Es wäre schade, die Runde um die Schweiz im Hadern gegen den Lärm zu beenden, schlaf drüber, Herr Irgendlink, morgen kennst du den Weg, den du einschlagen wirst.
Kinder wachsen im Schlaf,
Radreisende (wie Du) regenerieren im Schlaf … auch ihre Intuition 😊
Gutes Ankommen, Uwe