Pilger S., ich will ihn beim Namen nennen, da das Brimborium um Suchmaschinendeoptimierung hier fehl am Platz ist – er hätte sicher nichts dagegen in einem Sudelbuch im Netz vorzukommen – Pilger Siggi ist 59 Jahre alt. Drahtiger Kerl, Herzinfarkt überlebt, vier Stents, medizinisch gut überwacht. Die 120 km mit dem Radel macht er mit Bravur. Er lebt in Ehe. Kinder hat er glaube ich auch. Seine Haare werden lang und er will sie, genau wie den Bart, nicht schneiden lassen. Ich war erstaunt, dass seine Haare noch so natürlich sind, nur ein paar graue Strähnen. 38 Jahre hat er bei einem französischen Gummiekonzern geschuftet. Nun ist er Frührentner und hat sich in den Kopf gesetzt, nach Santiago zu radeln. Vor anderthalb Wochen kontaktierte er Kollege T., dessen Telefonnummer unser gemeinsamer Fahrradhändler verpetzt hatte. Siggi will im Vorfeld alle Unwägbarkeiten, die das Pilgerleben bietet, klären. Wer möchte nicht wissen, wie die Zukunft aussieht.
Vor drei Wochen hat er im Netz einen anderen Pilger kennen gelernt, Ernst B., der nur ein paar Dörfer entfernt wohnt. Am 26. April starten sie, obwohl man Siggi gewarnt hatte: „Was denn? Mit Ernst B. willst du auf Pilgerschaft gehen? Der lässt dich doch am nächsten Straßengraben stehen, wenn du außer Puste bist und nicht mehr weiter kannst“. Trotzdem überlässt Siggi die komplette Planung der Reise Ernst B. Dieser hat sämtliche Etappen bis auf den Meter genau ausgerechnet, Hotels klar gemacht, Ziele definiert und Siggi eine Packliste in die Hand gedrückt, was er alles einpacken soll. Ernst B. hat alles Werkzeug, das Zelt, die Landkarten und den Plan im Sack. Siggi glaubt, das ist richtig und will Herrn B. folgen. Am ersten Tag machen sie 126 Kilometer bis nach Metz. Gewagt, finden T. und ich. Aber wir sind ja auch Lumpen, die die Imponderabilien des Lebens in Form von Spelunken, Waldschenken und sonstigen Verlockungen auf dem Opferstock jeder ehrlichen Tagesetappe dreingeben würden. Sowohl T., als auch ich, dachten nach dem Treffen in einer gemütlichen Fischerhütte, die Sache mit Siggi und Ernst kann nie gut gehen. Wären wir pervers, würden wir sogar Wetten abschließen, an welchem Tag die Liaison in die Brüche geht. Siggi hat lange gearbeitet an seiner Pilgerschaft. Für einen verheirateten Mann mit vier Stents ist es nicht leicht, so etwas durchzusetzen. Zur eigenen Angst kommt auch die Angst der Daheimbleibenden, der Ehefrau insbesondere, die die Macht hat, solch ein Vorhaben von Vornerein zu verbieten. Siggi schleppt noch ein Diabetes-Problem mit, was bedeutet, er muss Insulin – bei dieser Hitze auf dem Fahrrad – quer durch Europa schleppen, ständig den Blutzucker kontrollieren, eine einzige, 2500 km lange Jonglage zwischen Über- und Unterzucker. Das wird nicht leicht.
Da habe ich es mit meinem lächerlichen Bandscheibenproblem doch so einfach. Stelle mich so zickig an, fantasiere von einer Alleinsamkeit, vor der ich mich fürchte. Pah. Probleme, die im Kopf entstehen, sind Probleme, die sich wie ein Virus über den ganzen Körper ausbreiten, ihn nach und nach vereinnahmen und entgegen jeder Vernunft das gesamte Lebenskonzept eines Menschen lahmlegen können.
So weit dürfen wir es nicht kommen lassen.
Vorhin betrachtete ich in der Glotze einen Bericht über einen Mann, der vor anderthalb Jahren einen Schlaganfall hatte, teilweise gelähmt war, Sprechprobleme hatte, und der vor einem Monat von einer Weltreise zurück gekehrt ist, kerngesund, gelassen, entspannt, für immer von seinen Sorgen geheilt. Und geheiratet hat er unterwegs auch noch. 15.000 km per Rad.
Daran muss man sich mal eine Scheibe abschneiden und es als Maß sehen, wie gemein die Ängste in einem wirken und nur, weil man mal ein paar verstopfte Adern hatte oder ein Organ versagt hat oder die Nerven eingequetscht waren, ist das noch lange keine Botschaft, dass es reicht, um sich aufs Altenteil zurück zu ziehen und auf den Tod zu warten.
Nun fühlen T. und ich uns ein bisschen verantwortlich für Siggi. Wir glauben, er braucht Hilfe. Wir haben überlegt, ihn noch einmal zu treffen, bevor sie starten; ihm knallhart auf den Kopf zuzusagen, was wir von seiner Liaison mit Ernst B. denken, haben wir uns nicht getraut. Man müsste Pilger Siggi so weit bringen, dass er, selbst wenn sie sich am zweiten Tag schon trennen, alleine weiter radelt. Dafür würde es eigentlich genügen, ihm eigenes Werkzeug, Zelt und Landkarten ans Herz zu legen (oder die Idee, dies zu kaufen; der Weg ist schließlich dynamisch und er entsteht täglich neu, mit oder ohne Partner, alleinsam, zweisam, verzweifelt oder glücklich). Vielleicht machen wir das ja mal noch, lieber Hosentaschenpilgerkollege T.?