Die Grippe, oder vielleicht ist es auch eine Impfnebenwirkung des letzten Dienstag verabreichten Tetanols, lässt endlich nach; nach fast einer Woche Gliederschmerzen, Fieber, Rumliegen, nichts denken, nichts tun, nichts wollen. Von allem, „was man halt so tut“ ist eine weiße Wand anstarren noch das Angenehmste. Dazu dieser „äußere“ Sturm, Niklas, der über das ganze Land gezogen ist und etliches verwüstet hat … irgendwie kommt mir mein Leben manchmal vor wie ein Roman. Diese eigenartigen Parallelen zwischen dem persönlichen Erleben in einem drin und dem, was um einen so vorgeht. Besser könnte man sich das gar nicht ausdenken, so als Schreiber. Aber ich fühle mich echt. Ich bilde mir das nicht alles nur ein. Ich bin ich. Ganz sicher.
Natürlich habe ich in den Krankstunden der letzten Tage nicht nur nichts getan, nicht nur einfach so eine weiße Wand angestarrt. Sondern sogar etliches geschrieben, getippt, auf Twitter in die Welt hinaus gejagt. Der Kurznachrichtendienst mit den 140 Zeichen ist mir ein liebes Spielzeug geworden.
Man kann darüber sagen, was man will, wenn man sich damit beschäftigt und die Sache einen packt, kann man – zumindest als Künstler und Schreiber – viel Spaß daran haben und sogar auch noch etwas ganz Besonderes lernen: Kürze. Die Eingabemaske für einen Tweet zeigt dir genau, wieviele Zeichen du schon verwendet hast. Bei 140 ist Schluss, inklusive aller Links und Namen und den soganannten Hashtags, den Schlagworten, die mit einer Raute # eingeleitet werden.
Wenn man eine Aussage machen will, die länger als 140 Zeichen ist, muss man sie entweder in zwei Tweets aufteilen oder sich selbst eine Antwort unter dem Tweet schreiben. Dann wird der Rest des Textes in 140-Zeichen-Portionen angehängt, oder man muss mehr oder weniger elegant kürzen.
Natürlich ist elegant kürzen meine oberste Priorität. Elegant kürzen heißt nicht etwa, die Worte einfach abzukürzen oder sie zusammenzuschreiben oder sonstwie Verstümmelungsmaßnahmen vorzunehmen, sondern man muss den Tweet in seiner Konsistenz so verändern, dass er in echten Worten genauso rüberkommt, wie sein überlanges Original.
Kurz. Twitter kann, neben viel Spaß und menschlicher Kommunikation, dem Schreibenden auch eine Stil-Schule sein.
Wenn ich die Muse habe, werde ich diesen Blogartikel später noch mit Twitterkriterien umformulieren … ja, wenn ich es genau bedenke, sollte ich dieses, im Maschinengewehrtakt dahin getippte Textwerk tatsächlich noch einmal filtern, Füllworte und Redundanzen entfernen, unnötigen Schmuck über Bord werfen usw.
Aber im Grunde, das ist widerum die andere Seite der Schreibmedaille muss auch der direkt getippte Rohtext, zumindest bei uns live schreibenden Autoren, gelten dürfen. Mit all seinen Irrungen und Vertippern. Denn das Blog als direktes Veröffentlichungsmedium, ein Klick und weg, gehört genauso zur Pallette, wie der hochgezüchtete, komprimierte, perfekte Tweet.
Jaja, der Herr Irgendlink ist auch wieder am Schreiben üben, was im Prinzip ganz ähnlich funktioniert wie das Fitnesstraining auf dem Fahrrad. Ohne Training keine Fitness.
Auch habe ich mir den alten Kapschnitt-Text von 1995 vorgeknöpft. Das Tourtagebuch, in dem ich das Kunstprojekt von einst notiert habe. Auf vielleicht 80 DIN A 5 Seiten habe ich sämtliche Standorte der Fotos notiert, die Freund QQlka und ich auf der sechswöchigen Reise zum Nordkap gemacht haben, sowie ein knappes Reisetagebuch, das intensiven Einblick in die eigene Befindlichkeit gibt.
Ich will ehrlich sein: das Lesen der alten Texte – ich mache das zum ersten Mal im Leben, dass ich eigene Tagebucheinträge lese – fällt mir einerseits beklommen peinlich schwer, andererseits, so übel sind die Notizen auch nicht. Wenn ich nicht Ich wäre, sondern ein Fremder, hätte ich womöglich richtig Spaß, das zu lesen. Der Inhalt des Reiseberichts macht mir jedoch große Sorgen. Es klingt so, als hätten wir doch nicht nur Sonne und Sommer gehabt unterwegs und als wäre die Reise ganz und gar nicht so reibungslos verlaufen, wie ich sie mir in der Erinnerung schönrede.
Ein paar Fragen tauchen denn auch unweigerlich auf.
Kann ich das, was wir damals, jung und fit zu zweit nicht schafften, nun, zwanzig Jahre später, alleine schaffen?
Warum haben wir diese Reise damals eigentlich gemacht?
Warum sollte ich sie heute machen?
Welche Alternativen gibt es?
Bin ich körperlich und seelisch überhaupt in der Lage, zum Beispiel zwei bis drei Wochen Dauerregen des Schreckens durchzustehen?
Insbesondere ein Eintrag vom Ende der Reise, wohl der Tag, an dem wir den Abbruch beschlossen, gibt mir zu denken. Dauerregen und Kälte in der Finnmark. Weit und breit kein Haus, kein Vordach, nichts, um sich unterzustellen. 24 Stunden lang stellten wir uns bei einem Vogelbeobachtungsturm unter und warteten auf Wetterbesserung. Das war mehr ein symbolischer Unterstand, als ein Wind- und Regenschutz. Etwas von Menschen gemachtes mitten in der Wildnis, das seine anheimelnde Wirkung in Form von gehobelten, verschraubten, imprägnierten Holzbohlen entfaltete. QQlka donnerte einmal aus Wut sein Fahrrad gegen eine hölzerne Mülltonne auf einem Rastplatz und ich weiß nicht, was ich alles aus Wut getan habe. Ich weiß nur noch, dass die Mission in mir – alle 10 km ein Foto der bereisten Strecke zu machen – massiv bröckelte und plötzlich vieles, woran man sich festgebissen hatte, unwichtig wurde. Ich bezeichnete das als „plötzlichen Lustverlust“. Einen Zustand, in dem sich traumblasenhaft allmögliche Lebensalternativen aufbauen und man sich sofort eines der Traumblasenleben herbei wünscht, anstatt das, was man gerade lebt (im Regen durch die Einöde Richtung Nordkap zu radeln), weiterzuführen.
Hach, wie sagt doch ein Freund eines Freundes immer so schön: Schritt für Schritt. Alles runterbrechen auf machbare Stücke. So geht das.
Und wenn du es willst, kannst du es.
Aber ob du es wirklich willst, weißt nur du.
Deine Schreibe von damals … Ach, ich würde ja so gerne in dieses geheimnisvolle Büchlein schielen … :-)
Hallo Jürgen,
pass‘ bloß auf, das Du Dich nicht übernimmst. Ich habe gerade das Buch „Meilenweit zur Kuehlbox“ von Thomas Widerin [über seine 2 1/2 Amerika-Durchquerungen] gelesen. Der ist auf seiner letzten Tour [geplant war Point Barrow in Alaska nach New York] auf dem Alaska-Highway physisch und vor Allem psychisch so zusammengebrochen, dass er danach 13 Wochen in der psychiatrischen Abteilung eine Krankenhauses war.
Also: nicht nachmachen!
Liebe Grüße, und safe bicycling,
Pit
Der Weg ist das Ziel.
So wie es kommt annehmen, jede Etappe erleben und genießen mit all ihren Seiten, guten wie schlechten. Dann hat man was zum erzählen.
Wenn das gesetzte Endziel auf Grund von Zeitmangel nicht erreicht wird, hat man schon einen Ausgangspunkt für die nächste Unternehmung.