Im Regen radelnd, die innere Regenbogenflagge gehisst – Tag 20

Von Eggebek in den Auwald

Es ist und bleibt wohl wie am ersten Tag: Eine Irgendwohin-Tour. Wobei der gestrige Tag 20, ein Dienstag, zu den stabileren gehört. Nachdem ich Kurs auf Eggebek und Umkehr gesetzt hatte und Eggebek auch erreichte, war der nächste Schritt logisch: weiter südwärts. Doch je ferner die Zukunft, desto ungewisser. Soll ich einfach weiter radeln? Soll ich in den Zug steigen? Freund L. anrufen, der gerade in Hamburg ist und schauen, ob ich mit ihm im Van ein bisschen südwärts fahren kann? Das klingt verlockend. Er könnte mich nähe Würzburg absetzen und ich würde nach Osterburken radeln und ab dort in der ellenlangen S1, die einmal als die längste S-Bahnstrecke Deutschlands galt, vielleicht ist sie das noch, bis Homburg ausbaumeln.

Müsste mich dann herumtreiben, bis L. vielleicht kommenden Montag retourniert und könnte noch Samstag in Neumünster zur Lesung und Ausstellung von Freund R.. Der würde sich vielleicht freuen!

Der Abend bei M., dem Freund meines Vaters, war goldrichtig. Im Vorfeld hatte ich Bedenken, war aufgeregt, schließlich hatte ich M. und seine Familie, die Frau, die Tochter, den Sohn  vermutlich nur ein zwei drei Mal in Kindertagen gesehen. Ich erinnere mich kaum und eigentlich auch nur daran, dass wir 1978 im ersten Wohnwagenurlaub in Dänemark bei ihnen vorbei geschaut hatten. M. schwärmte an diesem Abend allen vor, die er am Telefon hatte oder die ein und aus gingen, dass da einer an seinem Abendbrottisch sitzt, den er fünfzig Jahre nicht gesehen hatte. So viele waren es nun zwar nicht, aber es kommt fast hin. Irgendwie Sympathie auf den ersten, ne zweiten Blick und ich sage, ich hätte ihn von meinem Vater als Freund geerbt. Er erzählt wie sie sich kennen lernten, nämlich 1976 in A. Er kam per Zug als Aushilfslehrer zur dortigen Landwirtschaftsschule und mein Vater holte ihn vom Bahnhof ab. Dann Freundschaft. Einmal versuchte mein Vater ihn zum Tauchen zu bewegen, aber es ging nicht an ihn ran. Zu kalt das Wasser, zu düster der See, zu eng die Tauchklamotten. Nunja und mein Vater war auch kein Schönwettertaucher. Viele alte und neue Geschichten und über allem gaukelte der Tod und die Vergänglichkeit. M., seine Frau, starb im selben Jahr wie mein Vater. Nach zwei Jahren Krebs und Metastasen.

Morgens zum Frühstück meine Kinderfreundin C. mit am Frühstückstisch. Sehr herzige, vertiefende Gespräche. C. zeigte ein Video von einem Buben, dessen Mutter und seine beiden Drillingsgeschwister sie psychologisch betreut. Kind in Badewanne, das bei ihr einziehen möchte in der Hoffnung auf ein besseres Leben, ich weiß nicht, so rührend, dass mir ganz warm ums Herz wird.

Gegen zwölf wieder auf dem Sattel. Radele südwärts. Tags zuvor hatte ich in Tarp, dem Nachbararot am Bahnhof geschaut, ob ich dort womöglich weiter komme, und ja, das geht, aber meine Bahnapp lässt nur ein Fahrradticket bis zum Ende des Verkerhsverbunds zu. Ich finde auf Teufel komm raus nicht heraus, wie ich ein Langstreckenticket der DB kaufen könnte. Auch am Automaten gibts vermutlich nur die Verbundstickets, die in Hamburg enden. Ich habe keine Lust mich durch drei Verbünde bis Kassel zu buchen und dann den dreifachen Preis für die Radmitnahme zu zahlen. Es ist ohnehin nervig mit Rad in der Bahn und im Grunde genommen, das weiß ich jetzt, bin ich nur deshalb hier und die Reise verlief nur deshalb so, weil mich das Bahnfahren mit Radel und die Ticketungewissheit abschreckte.

Rückenwind. Das Navi routet gut. Nur einmal muss ich für 100 Meter durch den Wald schieben über einen zerfahrenen Moorweg, der zwar als Radroute ausgewiesen ist, aber eigentlich unfahrbar. Beim Militärstandort Jagel, nicht schön, ein paar Kilometer entlang der Bundesstraße, setzt Regen ein. Einsamer Soldat in Tarnkleidung auf weitem Feld an dystopisch wirkender Außerortsbushaltestelle. Rucksack. Der Mann wirkt verdrossen oder angepisst wegen des Regens. Flieger donnern durch die Wolken. Man sieht sie nicht. Ich suche einen Unterstand, eine Bushaltestelle (nein, die Soldatenhaltestelle gegenüber des Standort-Eingangs hatte keine Hütte) und auch im Dorf gibt es keinen Unterstand, radele also über Sandwege weiter ins nächste Dorf. Die neuen schneeweißen Schuhe, die mir M. geschenkt hatte sind nun schon sehr gebraucht und abgenutzt, halten den Regen aber besser ab als meine alten Schlappen. Im nächsten Dorf endlich ein Häuschen. Radel und ich passen rein. Koche Kaffee, esse etwas, mache Lebensmittelinventur, räume das Radel auf, verkabele Geräte zwecks Laden der Batterien. Die Tristesse und die Dauernavigation zehren an den Akkus. Der Son kommt kaum nach mit Laden. Für Handy UND Gopro reicht es definitiv nicht, was ich mit dem Nabendynamo einfahre, aber eben, besser als nix und bei jedem Fetzen Sonne, kommt die Solarzelle raus. Am Tag 20 keine Sonne. Wirklich nicht?

Das Bübchen aus dem Film von C. geht mir nicht aus dem Kopf. Was für ein mieser Start ins Leben: Schlaganfall im Mutterleib, die Mama überfordert, psychisch angeschlagen, Alleinerziehende. Im Kindergarten gemobbt, epileptische Anfälle als Folge des Schlaganfalls, aber so ein munteres Kerlchen. Da kommen mir die Tränen, da wünsch ich mir, ich könnte helfen oder die Menschheit machen, dass sie von Natur aus aus freiem Herzen immer allen hilft und keinen ausgrenzt oder mobbt. Wir sind keine Guten, gewiss, aber es gibt Gute, zum Glück. Hoffe, das Gute gewinnt, tritt um Tritt in die Pedale, mantrisch kurbelnd, die innere Regenbogenflagge gehisst.

Nach dem Bushäuschen weiter im Nieselregen, zu früh, der Regen nimmt wieder zu, rette mich in ein Edekacafé im nächten Dorf, Erdbeerspaghettikuchen: wie Spagehttieis muss man sich das vorstellen, dazu Kaffee. Lasse ein paar Milchportionen mitgehen beim Bestecktisch. Zucker gibts und Milch und Löffel und Tücher. Sollte ich öfter tun. Dann brauche ich mit der Portionierung beim Eigenkaffee nicht immer zu jonglieren. Die Steckdose neben dem Tisch funktioniert nicht. Egal. Hatte bei M. alle Geräte und Akkus aufgeladen. Das Lademanagement ist nicht zu verachten. Mit drei Kabeln und Steckdosenmöglichkeiten musste ich dennoch nachts aufstehen, um schon Volles auszustöpseln und noch Leeres einzustöpseln.

Erst nach 17 Uhr ist das Wetter stabil, kann ich endlich richtig loskurbeln. Noch 70 Kilometer bis zu meinem angedachten Ziel, ein Erlebniswald östlich von Neumünster. Ich wäre um 21:30 etwa dort, sagt das Navi. Unterwegs immer wieder stoppen zum Fotografieren. Die Kimberquelle. Plötzlich ist es bergig und ich kurbele in kleinen Gängen. Sehr schöner Ort, würde ggf. dort wild zelten, aber es scheint ein Wasserschutzgebiet zu sein. Das Wasser schmeckt nach Eisen. Zuvor den Nordostseekanal in Rendsburg überquert. Besser gesagt unterquert. Die Schwebefähre war außer Betrieb. Dort führte eigentlich meine Route entlang. Also kurbele ich zur nächsten eingezeichneten Fähre, aber da ist keine. Ja ja, da ist tatsächlich keine Fähre, erklären mir Leute auf der Straße, das ist ein Tunnel. Jetzt erst erinnere ich mich, dass ich mit der Liebsten da mal durch bin. Drüben auf der Südseite Wasser bei einem WC im Park. Dann hoch zur Kimber und zu meinen Schleswig-Holsteinischen Alpen. An einer Stelle in einem Dorf hoch oben hat man einen kurzen weiten Blick über grünes, meist bewaldetes Tiefland. Ich habe umgeroutet zu einem näheren Zeltplatz westlich von Neumünster. Bereitgestellt von einem Kanuverleih. Stelle mir vor, das es belebt sein könnte, dass eine Kanugruppe dort übernachtet, Naturschutzgebiet Aukrug. Im Ort zuvor gibts mehrere Campingplätze und mit ihnen Campingplatz-Amüsementsvolk. Viele Leute auf der Straße. Im Kopf sehe ich mich ohne Ruhe unter Menschen, doch schon zwei Kilometer nach dem Dorf herrscht Stille, bin ich mitten in der Natur, kann das Navi den Zugang zum Platz erst im zweiten Anlauf berechnen, radele ich einen Waldweg bis zum Fluss, der sich zu einem Pfad verjüngt und dann bin ich da, ein winziges Wieschen, kaum 50 qm groß am Rand eines frisch keimenden Maisfelds. Nur ein Schild: Sei willkommen, Wander und Radel und eine Sitzbankgarnitur mit Tisch. Ich bin alleine und das ist gut so.  Im Wald tutet eine  Bahn. Der Wind zaust heute sehr laut in den Bäumen. Ich weiß nicht, woher er kommt.                                                                                                                                                                                                                                                                                                        

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert