Oh seltene Perle des Mitdenkens und der Empathie

Galoppierende Zeit. Noch vor fünf Uhr hatte ich mich in ein knappes Dutzend Webseiten eingeloggt, um Wartungsarbeiten zu tätigen. Installation eines Plugins, das ein Loch stopft, das ein Plugin riss, welches ein Loch stopft, das wiederum von einem Plugin gerissen … doch halt, halt, halt, so ist es nicht und dies ist auch nur ein Bild dafür, wie man sich, insbesondere im Software-Bereich immer mehr in Abhängigkeiten verstrickt. Was nicht unbedingt übel wäre, es aber ist, denn die Mitmenschen haben nun einmal die Tendenz, vor allem auf ihr eigenes, kleines, privates Wohl bedacht zu sein, denn das Wohl der Masse, in der sie existieren im Auge zu halten und sich dafür stark zu machen. (Wo immer ein Mensch einem anderen Menschen etwas Gutes tun will auf dieser Welt, ist sein eigentliches Anliegen, sich selbst etwas Gutes zu tun und den anderen möglichst klein zu halten, ihn möglichst am Wachsen und der Entfaltung zu hindern. Wenn du irgendwie dich selbst voranbringen willst, programmierst du ein lückenhaftes Gratis-Plugin, dessen Schwachstelle mit einem Kauf-Plugin gepatcht wird und so weiter).

Ich setze das mal in Klammern, denn es ist überspitzt, zu pauschal, depressivpopulistisches Dystopiegeschwätz.

Letztens mit dem Radel auf der Autobahn. Das kommt nur alle zehn Jahre vor, sage ich lachend, denn ich erinnere mich, 2012 per Zufall auf ein brandneues Stück Autobahn in Südnorwegen geraten zu sein. Just am Tag der feierlichen Eröffnung eines Abschnitts nahe Larvik ging es durch Tunnel und über Brücken bis fast hinein in die Stadt. Auf einem Rastplatz gab es Bespaßung, Information, Softeis und Würstchen gratis.

Die jetzige Autobahnfahrt war eher politischer Natur. Etwa zehntausend Leute auf allen möglichen zweirädrigen Gefährten drifteten über die A66 von Frankfurt in Hessens Landeshauptstadt Wiesbaden, wo bei einer Abschlusskundgebung ein Gesetzesentwurf und die dafür nötigen Unterschriften Zehntausender dem Verkehrsminister überreicht wurden. Bis zuletzt hatte die Autobahngesellschaft versucht, per gerichtlicher Eingaben die Demo zu verhindern und es war erst Abends zuvor sicher, dass das Ereignis stattfinden würde. Hier ein Bericht.

Wir standen übrigens genauso im Stau wie Autofahrende. Das Gleiche Problem der Unbedachtheit Vieler vor einem Engpass. Ein deutliches Muster zieht sich durch jedwede Bereiche. Immer, wenn es eng wird, die Ressourcen knapp werden, eine überkritische Masse an Menschen in Unruhe gerät, das selbe Bild. Das Individuum geht in den Nichtzuständigkeitsmodus, verschließt die Sinne, schottet sich ab, kehrt die Ellenbogen nach außen, wetzt die Krallen, bleckt die Zähne.

Hoffnung machte ein Junge im Mehrzweckabteil der Bahn vorgestern, der freundlich fragte, ob es mir nützen würde, wenn er aufstünde, damit ich mein Fahrrad an die Wand lehnen kann. Ja, denke ich still in mich hinein, wenn der abgeschottete Kerl direkt neben dir auch aufstünde. Nein, sage ich stattdessen, ich komme schon klar. Deutsche Bahn Mehrzweckabteil-Limbo. Während der Fahrt stapele ich rein gedanklich alle Koffer übereinander und platziere sämliche Menschen im Mehrzweckabteil auf den freien Plätzen weiter hinten im Zug. Gewinne ein halbes Dutzend Fahrradplätze, ach du feine heile „alle denken mit und sind füreinander da Welt“. Ich Träumer, ich. Ach und der Junge, der mir den Platz anbot ist so alleine, so zurückgelassen zwischen denen, die wegschauen … oh seltene Perle des Mitdenkens, der Empathie.

Ich fing an, alte Freunde anzurufen, Schulfreund I. an seinem Geburtstag am 24. machte den Anfang. Ich musste mich zwingen zum Anruf. Eine Mischung aus Aufregung und Angst. Angst vor allem, schlechte Nachrichten zu erhalten. Dass er womöglich gar nicht mehr lebt und wenn ich nicht angerufen hätte, dann würde er in meiner Erinnerung am Leben sein, so lange, bis mich die schlimme Nachricht doch noch erreicht. Wir hatten zuletzt vor etwa zehn Jahren Kontakt. I. lebt.

Gutso, Herr Irgendlink, kontaktiere sie alle nach und nach, Freundinnen und Freunde, denn im Herzen sind sie ja ohnehin. Wenn man in ein gewisses Alter kommt, ist es nicht mehr so wichtig, ständig zu plaudern und sich zu treffen. Es kristallisiert sich dann ein Fern- und Langzeitfreundeskreis, der es gut verkraftet, Jahre keinen Kontakt zu haben. Es ist als ob die Jahre des sich Nichttreffens nie gewesen wären man sich am Tag zuvor zuletzt getroffen habe. Nicht bei allen, nicht gleich stark, I. ist eher ein Ferner, aber ein Lieber. Also rief ich Leb an, den ich zuletzt 2015 traf. Bei dem ist das Band ganz dick. Liebe pur. So erfahre ich, dass er 2017 beinahe gestorben wäre, 2018 Vater wurde, es ihm gut geht.

Ich sollte eine Freundestour machen durch die Welt, denke ich und schon fabuliere ich eine Zickzackstrecke, per Radel natürlich, aber ach, bloß wann, der Sommer ist vorbei und ich habe viel zu viel am Bein, Garten, bauen, helfen, Carearbeit, das Selbst pflegen … und wie ich vorgestern so durch Rheinhessen radele, und ab und zu Zug fahre, wird mir klar, dass die Freundestour sowieso nie enden würde, dass sie von Anbeginn an läuft, nie unterbrochen, nur eben sind die Abstände der Kontakte so groß, soviel luftleerer Raum dazwischen, dass ich sie nicht als Freundestour erkenne.

Immer unterwegs. Bei Freund QQlka hatte ich logiert zwei Nächte am Wochenende. Der Aufbruch macht mich nervös, sage ich. Ich weiß, sagt QQlka, es ist das Wesen des Aufbruchs. Man sollte nicht stehen bleiben. Und Reisende nicht aufhalten.

Wir lachen.

Abends zuvor standen wir auf Stühlen am überhohen, schrägen Dachfenster, das sich wie ein Maul gen Mainzer Dom aufsperrte, herrlicher Blick über die Stadt. Wie zwei alte Knaben à la Waldorf und Stattler, kommentierten die Welt, rauchten und machten Quatsch; vor zwanzig Jahren noch waren wir durch eine kleine Dachluke hinauf gestiegen, in der luftigen Höhe eines Mainzer Mietshauses balancierend, jaja, und dann kann man mal sehen, wie die Jahre mit einem umspringen, die sich zwischen uns Menschen schieben, wie sie Zipperlein um Zipperlein, Falte um Falte, unkluge Entscheidung um unkluge Entscheidung, Stück für Stück sich unsere Leben nehmen, nein, sie voran bringen …?

Ich muss aufbrechen nun. Mit dem Rad zur Liebsten. Ich weiß noch nicht, ob ich das volle Programm fahre und die 340 Kilometer von der Pfalz in den Aargau komplett radele. Ich könnte auch wen besuchen unterwegs. Freunde und Freundinnen gibt es überall. Die Wenigsten lernen wir je kennen.

 

 

 

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