Der ‚Zipfel‘ wäre also abgehakt. 2019 hatte ich entgegen meines Plans, möglichst grenznah rund um Bayern zu radeln, in Bad Feilnbach eine ‚Abkürzung‘ genommen, folgte ab Raubling dem Inn-Radweg und endete schließlich nach einem Abstecher nach Tschechien durch die Sumava in Zwiesel. Das ist ziemlich genau drei Jahre her. In Feilnbach herrschte Regen, Regen, Regen, und es schien mir unvorstellbar, am Chiemsee vorbei in den ‚Trichter‘ hinein zu radeln. Eine Falle, so dachte ich mir. Tiefhängende Wolken und Dauerregen, garniert mit Bergen, die sich zur Schlucht verjüngen. Ich erinnere mich nicht mehr so genau. Das Wetter staute sich jedenfalls vor den Alpen. Die Prognose: tagelang Wutzewetter. Und ich keine Lust, dauernass zu radeln und zwischen heftigen Schauern zu spießrutenlaufen.
Regen, Regen, Regen gab es auf der gestrigen Etappe auf eine ganz andere Weise. In Marktl stieg ich in den Zug mit Destination Zwiesel im Bayerischen Wald. Vier Züge, drei Umstiege, ein Horror, so vermutete ich, doch es lief alles glatt. Die Umstiege in Mühldorf, Landshut und Plattling liefen bestens. Nur das Hochwuchten des schweren Radels in die alten Wagen war etwas umständlich. Auf die Minute erreichte ich meine Waldbahn, die ab Plattling hinauf fährt in den Bayerischen Wald und mit einigen Verzweigungen das wunderbare Naturreservat erschließt. 12:58 Zwiesel. Gar nicht mal so kleine Stadt. Es gibt sogar einen Sportladen, in dem ich eine neue Radlerhose kaufte, die mir Freund @perVelo (Kai) spendiert hatte, nachdem er mein Jammern vom Vortag ob der Hochpreisigkeit aller Radelklamotten gehört hatte.
Frisch ‚gepampert‘ (so sagt man in Radelkreisen zu den gepolsterten Höschen) schwinge ich mich auf die Radroute, den Regenradweg, der zunächst entlang der Bundesstraße bis Ludwigs-irgendwas, vielleicht -lust aber wohl eher nicht, führt und dann mehr oder weniger im Wald verschwindet. Rast bei einer Brücke, die den Namen Unglücksbrücke trägt. It is hot, it is very very hot. Solarzelle pumpt das Handy voll, während ich auf einer Parkbank döse. Insekten und Geplätscher und fern die Bundesstraße, Wassermurmeln. Welcher Regen ist das, frage ich mich. Ich erinnere mich an einen Bach namens Schwarzer Regen, ich las davon in einem Prospekt über die Gegend, die sich Bayrisch Kanada nennt und ich weiß, dass es noch weitere Regen gibt. Einen weißen vielleicht? Egal. Der Waldweg fährt sich prima mehr oder weniger entlang des Soundso Regens bis nach Eisenstein, Bayrisch Eisenstein, um es zu präzisieren. Grenzdorf zu Tschechien und: absolut nix los dort. Zig Hotels und Pensionen, von denen die meisten irgendwas mit Arber heißen. Arberblick, Arberlust, Arberterrasse, Arberliebe, Arberverdammnis (nein, ich scherze). Riesige Kästen oft mit vielen Zimmern und Balkonen. Bloß, wo ist dieser ominöse große Arber? Ist es der Berg mit den zwei Kugeln obendrauf, die aussehen wie Sternwarten. Ich durchkämme den Ort vergeblich nach Menschen, die ich fragen könnte, ej, wo ist denn der Arber, isses der da. Niemand auf der Straße. Bei der Kramerin im winzigen Dorfladen zuvor, hatte ich versäumt zu fragen und nun radele ich durch die geisterhafte Stadt bis zum Bahnhof. Endstation. Grenze. Tolle Allee. Ein Bus brummt. Eine typische Rollende-Büsche-Szene analog zu unheimlich langsamem Italowestern, in dem irgendwas geschieht, schon bald, vielleicht ein Schuss? Hier nicht. Fern jault eine Kettensäge. Da, endlich ein Mensch. Im Fußballtrikot. Ich frage, wo ist der Arber. Der Mann erklärt mir zuvorkommend, Hotel Arber ist dort und zeigt in eine Richtung. Nein, ich meine den Berg, isses der dort. Er zeigt wieder in eine andere Richtung, Pension Arberblick ist dort und so geht das weiter und weiter, aber ich erfahre erst viel später, im hohen Preis des eigenen Schweißes, wo der Große Arber ist. Und auch, dass Eisenstein wohl eigentlich nur im Winter bevölkert ist. Das erklärt die zuen Läden, die zue Quellefiliale, die zue oder gar nicht vorhandene Post, die vernagelten Fensterläden vor vereinzelten vermeintlichen Bauruinen. Außer der Kramerin, einem herzigen Dorfladen mit Alles – vom Bergkristall über Konserven und Milchprodukten bis hin zu Postkarten – hat nur noch die Tankstelle offen, die sich letzte Tankstelle vor der Grenze nennt. Welch bizarre Literpreise. Ich bin froh, zu radeln. Noch.
Nachdem ich bei der Kramerin ein paar Lebensmittel gekauft hatte und mit fünf Brevetradlern und zwei Oberpfälzer Motorradlern einen Kaffee in der stechenden Sonne genommen hatte, schwinge ich mich auf den Radweg Grünes Dach. Er wird mich die nächsten 350 Kilometer weit nordwärts begleiten entlang der Tschechischen Grenze bis zur Sächsischen.
Was soll ich sagen. Manchmal ist Ahnungslosigkeit ein durchaus großer Vorteil. Ich weiß bei der lieblichen, etwa sechs prozentigen Steigung, die entlang eines Bächleins (vielleicht einer jener vielen Regen?), gut kurbelbar über einen glatten Waldweg, noch nicht, dass das in zehn plus X und teilweise in bis zu zwanzig Prozent-Steigungen mündet. Dass ich ein zwei Stunden schieben werde. Dass plötzlich, als ich zwischen den vielen kleinen Schiebungen mich einmal umdrehe, hinter mir der Berg mit den Sternwartenkugeln plötzlich zum Greifen nah ist, dass ich auf über tausend Meter hoch muss.
Die Ahnungslosigkeit hilft mir komischerweise. Man versinkt dann in seinen eigenen Gedanken und denkt, irgendwann hört es schon auf, statt ständig auf den Höhenmesser zu schauen und zu sehen, ohnein, noch soundsoviel Meter … dennoch, ich takte auch. Ab und zu lege ich das Handy aufs Rahmenrohr und messe die Steigung mit der Wasserwaagen-App. Ist mein Hobby. Auf den Schiebstücken zähle ich die Doppelschritte, wobei ich immer schaue, dass ich eine Primzahl viele Doppelschritte mache. Meist 19, je nach Steigung, mal 29, mal auch über 40. Nonstop da hoch schieben oder gar kurbeln, das kann ich nicht. Die Sonne ist mittlerweile recht nah beim Horizont. Gutso. Ist nämlich affenheiß. Die Steigung will und will nicht enden und ich will und will nicht verzagen. Meine Primzahlenwanderung gerät gegen Ende dennoch ein bisschen delirieus. Hab ich jetzt 23 Atemzüge gezählt oder waren es 23 Doppelschritte? Hatte ich nun mit dem linken Fuß begonnen zu zählen oder mit dem rechten? Ist 23 überhaupt eine Primzahl? Was, wenn ich mich verzähle?
Zwei Mountainbiker aus Regensburg holen mich aus dem Delirium auf etwa 900 Metern Höhe. Wir halten ein Schwätzchen. Sie erzählen von ihrer Gegend, die auch sehr schön zu radeln sei. So schön, dass man ab und zu Markus Söder sehen könne, der dort auch oft radelt. Einmal haben sie sogar mit ihm ein Eis gegessen. Und die Segen des Ebikes natürlich. Gerade hier. Oh ja.
In Brennes bin ich endlich oben. Ein paar Hotels, ein Gasthaus, Parkplatz, paar Autos, viel Sonne. Selfies mit Rad vor geschlossenem, mit Holzschindeln verkleidetem Winterhotel.
Als ich mich umdrehe, erwische ich die Sonne gerade noch so beim hinter dicker Wolkenwand Verschwinden. Rumpeln fern. Nix wie weg, dieses Mal aber stetig abrollend durch kleine Weiler vorbei an verschiedenen Hotels. Klar könnte ich mich einquartieren, aber etwas sagt mir, rolle weiter nach unten. Einmal lädt man mich sogar ein bei einer Waldhütte, man werde die Wirtin überzeugen, dass sie mich aufnimmt. Das war jedoch ein Männerclub, die sich in der Hütte eingemietet hatten für ein Fest und da fällt mir immer das Crask Inn ein in Schottland. Ein kleines Gästehaus, in dem eine Nacht lang kein Schlaf zu finden war, sondern mitfeiern angesagt war, eingepfercht auf engem Raum neben Zapfhähnen und selbst gemachter Musik, jaja, das ist zwar schön und war es damals auch, aber die Morgen nach dem Fest sind dann doch verheerend.
In Lam sei ein Campingplatz erzählt man mir unterwegs. Das Gewitter ist schon sehr nah. Ich schaffe das. Ein Wunder oder gar Vorsehung? Ich frage mich, wieso man oder es oder etwas mir immer wieder den Hintern rettet, den Weg frei räumt, das Richtige zum rechten Zeitpunkt ist. Ein Rätsel.
Ultrafreundliche Campingplatzbesitzerin empfängt mich und dirigiert mich auf die wunderbare Zeltwiese, besinnt sich und schaut gen Himmel, kommens mit, I hab da was für Sie, und schwupp stehe ich nebst Zelt und Radel in einem Pavillon und die ersten dicken Tropfen gehen nieder.