Vorgestern? Letzter Tourtag. Insgesamt war ich nur drei Tage auf der Straße. Mieswetter. Kälte, ich hatte es im Artikel zuvor schon erwähnt. Die Gefühle dazu jedoch nicht. Die Jahreszeit fühlte sich an wie Herbst, nicht etwa wie die Frühlinge, wie ich sie von Früher erinnere. Da waren keine Gerüche (außer Dieselrußgestank, wenn mich ein LKW überholte – Dieselrußgestank ist ein mächtiger Gegner!). Keine Gerüche, keine Hoffnung, nur Desolation Peaks im eigenen Kopf. Dazu die Schmerzen des langen Radfahrens. Normalerweise liegen meine Tagesetappen ja bei etwa 70 bis 100 Kilometer, nicht bei 130 bis 150 . Aber der Herr wollte es ja wissen. Will da einer den Transcontinental-Fahrer spielen!?
Ich kam mir vor wie mit zwei Motoren ausgestattet. Eine Art Hybrid, der unter Wasserstoff und Benzin laufen kann, bloß, dass die beiden Motoren nicht synchron liefen, sondern gegeneinander funkten. Der gemächliche Kunstmotor, also das Triebwerk, das den Künstler in Bewegung antreibt und das eine Art fein abgestimmtes Geflecht aus Vorankommen, Denken, Aufschreiben und per Apps Kunst produzieren ist, dieses Triebwerk lag im steten Clinch mit dem brutalen Transcontinentaler, der auf Teufel komm raus radelt, radelt, radelt, egal wie hungrig, wie Schmerz, wie unangenehm, wie müde – ich erinnere mich, dass ich auf dem Hinweg mit dem Rad zur Liebsten am Rhein-Marne-Kanal beinahe auf dem Fahrrad eingeschlafen wäre. So fühlt sich das also an, wenn man Europa vom Schwarzen Meer bis in die Bretagne durchradelt. Mit Radeln ist dabei wörtlich zu nehmen. Trancontinentaler radel fast nur, gönnen sich ab und zu ein paar Stunden Ruhe und schaffen die 5000 Kilometer in etwa zehn bis vierzehn Tagen. Ständig im Sattel und alles andere ausblenden, Hauptsache, die Beine kurbeln und du kommst irgendwie voran, wach bleichen, Monsieur Irgendlink. Ich bin der Transcontinentaler des kleinen Mannes. Doch zurück zum ersten Reisetag, vorletzten Mittwoch, als ich erst gegen 15 Uhr los radelte und unweigerlich in die Nacht radelte und die war ziemlich kalt und ich ziemlich müde. Ich hatte immer, nein, nicht Angst, Respekt gepaart mit Unruhe, in die Nacht zu radeln. Nun tat ich es bewusst, um mich dem zu stellen. Kanalradweg. Keine Autos. Und auch sonst kaum jemand unterwegs. Die Chance, es zu üben. Auf der anderen Seite des Kanalradwegs meinte ich Lichter zu sehen. Angler vielleicht. Im klammen Licht meines Scheinwerfers musste ich höllisch aufpassen. Und eben die Müdigkeit. Schon nach zwölf Uhr nachts, Sichelmond wie mit dem Stechbeitel geschnitzt. Wenn ich einschliefe, würde ich entweder zur einen Seite eine steile Böschung runter rasen ins begleitende Schilf oder in den Kanal oder einen Angler überfahren. Der Radweg mag auf der Krone des Kanaldeichs nur etwa drei Meter breit sein. Viel Luft, um glimpflich auszurollen ist da nicht.
Der Herbstfrühling 2022. So will ich es nennen. Vielleicht handelt es sich auch nur um eine natürliche Veränderung, die jeder Mensch im Laufe des Lebens durchmacht? Vor einigen Jahren schon hatte ich eine solche Veränderung festgestellt (obschon ich es nicht so recht glauben kann, denn in mir werkelt noch immer der Junge, der ich einst war). Der Verlust dessen, was ich das GEFÜHL nenne. Man kann es sich als eine Art alles egal-Einstellung vorstellen, oder als ein Vertrauen ins ‚Alles wird gut‘. Ich kann es schwer erklären. Bildlich ist es verknüpft mit einer Situation abends unter dem heimischen Nussbaum, Harndrang, einfach in die Wiese pinkeln, Richtung Süden schauen durchs Blattwerk in den dampfend schimmernden Lichtsmoghimmel der Kleinstadt und plötzlich, im Lassen des Wassers ist alles so herrlich egal. Alle Alltagssorgen fallen ab. Niemand kann Dir was. Weiß allerdings nicht, was das mit dem Pinkeln zu tun hat, aber das ist die letzte Erinnerung an das GEFÜHL, die ich habe.
Das beschützte kleine Kind in dir kann sich frei jeden Panzers nach draußen wagen ins kalte Universum, das schon hinter der Haut beginnt.
Gefühlsverstümmelung? Ist es das, was ich durchmache. Mein Körper? In den letzten Jahren sind andere Merkwürdigkeiten hinzugekommen, bzw. schaue ich näher hin. Zum Beispiel, dass ich eine Verbindung vom Kopf in den Körper, den Rücken abwärts spüre und dass angenehme oder unangenehme Situationen eine andere Bahn den Rücken hinab nehmen, dass es im Kopf an verschiedenen Stellen ‚kitzelt‘, je nachdem, ob ich in Sorge bin, in Angst, in Freude oder in Lust. Die kürzliche Beschäftigung mit dem Vagusnerv, der eine Verbindung vom Hirn bis ins Gedärm ist und der sich in zahlreichen Verzweigungen durchs Rückenmark in verschiedenste Organe und in die Gliedmaßen zieht, gibt mir ein Bild vom Körper. Eine Art Landkarte. Keine Ahnung, ob sie stimmt. Bilder sind ja immer nur Teile der Wahrheit, Alternativen zueinander und ich bin gar nicht mal so sicher, ob man in diesem Bereich des sich die Welt Vorstellens überhaupt eine absolute, einzigartige Wahrheit finden kann oder ob nur verschiedene Vorstellungen dessen, was ist, miteinander konkurrieren. Durch Raum und Zeit ziehen sich dieser Versionen, hängen von den Bedingungen ab wie etwa, wie weit bist Du Deinen Lebensweg schon gegangen, was hast Du erlebt, was hat Dich geprägt, mal so, mal so und dann bist du, der Frühlingsjunge vor vierzig Jahren, den Mund rot umschmiert von Kirschen, die du im Baum erklettertest, plötzlich der Boomer und der ‚alte Sack‘ der Jetztzeit in einem seltsam vergehend sich anfühlenden Herbstfrühling. Nichts riechen, nichts fühlen, nichts empfinden. Drei weise Affen in der Zielgeraden Richtung Tod?
Doch nicht nur im Innern fühlt es sich an wie Herbst, auch die äußeren Symptome für Herbst erkenne ich heuer: Knappe Zeit. Ein Termin hetzt den anderen. Erntedank und Unabdingbarkeiten. In der Erntezeit, die nun einmal im Herbst ist, haben nicht nur die Bauern alle Hände voll zu tun. Wir Künstler auch. Ausstellungen, Offenes Atelier, Weihnachtsgeschäft. Kaum freie Zeit. So fühlt sich der Künstlerherbst an und nun schleicht sich die Termindichte in meinen Frühling. Ich ringe mit dem Garten, pflanze, hege, werkele. Gestern zwei Fuhren Holz aus dem Wald gezerrt, jeder der kommenden Tage ist schon verplant, nächsten Sonntag geht die Radelgalerie auf den heimischen Herzogplatz und ich muss unbedingt noch Kunst produzieren, die ich zeigen kann. Zack fünf Stunden Arbeit am Bein. Am 21. Mai Ausstellung in Saarbrücken, am 3. Juni Ausstellung in Fitou und eigentlich müsste ich ja zu den Vernissagen, aber es tat sich ein Loch im Terminkalender auf, in dem ich endlich mein Projekt UmsLand/Bayern vollenden könnte. 17. Mai bis 8. Juni … mal schauen. Dann gibt es wieder Liveblogberichte an dieser Stelle.
Zur Karte des 2018 begonnenen Kunst- und Reiseprojekts geht es hier lang ->
gerne lese ich hier, denke aber, ich kann diese radtouren nur voll interesse anschauen, aber nicht verstehen. ich denke, das ist eine „männersache“. in meinen blog heute: „weggefaehrtin.blogspot.com“ habe ich eine weibliche sicht etwas dargestellt. warum nur sollte ich nachts radeln, oder freiwillig im regen? ich werde älter und sollte mein haus(körper) nicht fordern wie in der jugend. dir macht das freude(?), aber beim beschreiben des pinkels auf die wiese unterm mond höre ich mehr „flow“. ich glaube ja für mich, diese gelassenheit hilft mir dabei, auch mit dem altern gelassener umzugehen(auch ohne stehend zu pinkeln! ;-)) . ich wünsche dir eine gute zeit mit erfolgreichen ausstellungen. an deinen freund, den journalisten, denke ich auch immer mal wieder. dann werde ich zornig und traurig.
lieben gruß, roswitha
Danke, liebe Roswitha. Ich werde mich künftig beim Radeln wieder mehr zurückhalten. Das ist wichtig, um noch Zeit zum Schreiben zu haben und zum einfach nur dasein. Das darf man nicht unterschätzen. Die Langsamkeit. Den Stillstand gar oder das rückwärts gehen …
Beim Freund Journalist F. gehst es mittlerweile auch wieder aufwärts. Zum Glück. Bei den positiven Dingen, die (ihm) passieren, verraucht bei mir (und wohl auch bei ihm) dann der Zorn, den ich gepaart mit Hilflosigkeit auch stets habe.
Willkommen im Club.
Wir (Babyboomer) stehen im Herbst unseres Frühlings,
wie es Kid37 einmal unnachahmlich treffend beschrieb.
Ach! Sich schicken will geübt sein!
Es ist unumkehrbar:
Einst kurvte ich im Luftraum
und verlor leicht meine Fassung
Heute drehe ich linkisch Däumchen
und pinkle in tote Winkel
Uwe
Wow, Kid37 ist ja eine Perle. Danke fürs Aufmerksam machen.