Schon eine Weile im Sattel. Neunuhrfrühe Welt. Neunuhrfrühe Welt südlich von Ludwigshafen. Das Zelt stand heute Nacht fast direkt gegenüber einem Campingplatz, stelle ich fest. Hinterm Deich kriegt man das Treiben in der Welt nicht mit. Alleine mit Tieren, die mich nachts aus dem Schlaf schreckten, Laub raschelnd, in Gedanken sicher viel größer als in Wirklichkeit. Vielleicht Igel? Irgendwas schmatzte und ich schlief wieder ein und gegen Dämmerung begann ein Dieselmotor auf dem Altrheinarm zu brummen.
Es deutschlandfähnelt auf den Campingplätzen. Mannigfaltige Schwarzrotgelbs, mal zerfetzt, mal stramm gestellt wie so eine Mondflagge, meist aber schlapp im Wind hängend. Der gestrige Sturm hat sich gelegt. Viele leere Fahnenmaste auf einem geradezuen Spalier aus Campingplätzen in der Gegend um Altrip lassen Übles befürchten für die Hochsaison. Dann weht hier ein Fahnenmeer ohne Gleichen. Auch fremde Flaggen sind dabei. Eine spanische. Und Europaflaggen. Dennoch finde ich, dass dieses Rumgeflagge auf engstem Terrain sehr seltsam ist. Beklemmende Enge, wie überhaupt viele Deutsche Campingplätze eher so wirken wie eine Adaption des Schweinemast- und Schweinehaltungsprinzips an die Bedürfnisse des Tourismus und der Wochenenderholung. Jeder hat seine feine kleine Zelle und wenig Freiraum, den er sich im Innern seiner Parzelle selbst vorgaukeln muss. Man könnte sagen, wir haben es nicht anders verdient. Es ist sozusagen ein Wesenszug, alles durchzuoptimieren in unserer streng getakteten Welt. Fleischproduktion wie auch die Produktion von Erholung.
Der gestrige Tag war kompliziert. Ich hätte beinahe aufgegeben, oder besser gesagt, wenn ich nicht der Ich von gestern, also aus dieser Zeit, gewesen wäre, sondern ein jüngeres, unerfahreneres Ich vor zehn, zwanzig, dreißig Jahren, dann hätte ich die Tour aufgegeben. Verflixte Psyche. Der Körper kurbelte tadellos schon früh die ersten zehn Kilometer rein nach Weißenburg in Frankreich, was sehr beklemmend war so früh morgens. Wie ausgestorben. Die Pandemie? Normal? Etwas anderes passiert, wovon ich nichts weiß? Der aufkommende Sturm tut sein übriges. Starker Westwind bläst mich raus aus der Stadt, zurück nach Deutschland, wo ein Forstweg kilometerweit geradeaus in den Bienwald führt und er mündet schließlich in einer schmalen Teerstraße und mehr Sturm und die Fetzen fliegen und von den Bäumen rasseln Fichtenzapfen und andere Früchte wie Geschosse, so dass ich den Helm aufziehe, den Schirm ganz weit ins Gesicht ziehe. Augen zu und durch.
Der Bienwald war der Sehnsuchtswald meines Vaters, muss ich daran denken, und wenn ich den Wald so betrachte, der Vater hatte recht. Auf den ersten Blick eher langweiliges, flaches Ding, wirkt unterschwellig eine ganz besondere Atmosphäre, die ich mir nicht erklären kann. Die Gedanken an meinen Vater, der vor drei Jahren starb, und mit dem ich zusammen oft diese Gegend durchradelte, machen mich ganz trüb, saugen mir alle Kraft aus den Knochen und wenn der Rückensturm nicht wäre, würde ich vieleicht liegenbleiben, mitten im friedlichen Bienwald.
Ich merke, dass es nicht gut ist, durch schon oft bereiste Gegenden zu radeln. Es handelt sich nicht nur um irgendwelche Landschaften. Meine beradelte Linie ist eine gottverdammte Erinnerungsstrecke und so leben so manche Begebenheiten der letzten zig Jahre wieder auf an diesem windumzausten Tag und ich sehne mich danach, möglichst schnell das alles hinter mir zu lassen. Schon kommt der Rhein. Nur noch 160 Kilometer bis zum Binger Loch und ich habe es geschafft, erreiche weniger von Erinnerungen belastete Strecken.
Durch Wörth entlang einer Hauptstraße und Deichweg, Deichweg, Deichweg und durch Speyer im Abendlicht vorbei am Verkehrsmuseum mit der unheimlichen Boeing auf Stelzen, die fast so hoch wie der Dom über der Stadt thront. Und der Dom, ich singe leise, mir losse de Dom in Speyer, denn do jehört er hin, muss lachen über meinen kleinen Witz. Will Wasser fassen. Unweit des Doms ist ein öffentlicher Trinkwasserhahn eingezeichnet in der Open-Cycle Map. Fehlanzeige. das Ding ist Plastikfolie ummantelt, gesperrt, abgestellt. Was los, Speyerer Tourimusleute, wieso dreht ihr an Deutschlands meist befahrener Radroute den Leuten das Wasser ab? Würdet Ihr auch auf der A7 alle Tankstellen dichtmachen?
Ein gnädiges spätes Putzteam lässt mich kurz bevor sie ihre frisch geputzte öffentliche Toilette für die Nacht abschließen, doch noch Wasser zapfen.
Raus aus Speyer vorbei an einem renaturierten, mit Solarzellen bedeckten Müll-Berg, also einer ehemaligen Deponie und Deichweg, Deichweg, Deichweg … der Wind lässt nach und auch die Wucht der Erinnerungsstrecke lässt ein wenig nach. Zum Glück
Begegnungen
Ein italienischer Rentner, der früher ein Restaurant betrieben hat, radelt eine Weile neben mir her und feiert das Radler- und Rentnerleben. Pawlowesk kriege ich Lust auf Pizza, etwas mit Peperoniewurst oder Vierjahreszeiten.
Ein behäbiger Deichinspekteur, der seinen Hund Gassie führt und die Vorzüge des Öffentlichen Dienstes lobpreist gegen die Arbeit, irgendwo in der Industrie, die er zuvor gemacht hatte, die Schrauben werden immer härter angezogen.
Ein Hut? War das ein Hut neben dem Mann mit dem Fahrradanhänger, der irgendwo außerhalb von Germersheim am Radweg sitzt und ruht? Ich radele zurück, tatsächlich, ein Hut, in dem ein paar Münzen liegen und eine Schale Wasser für das Hundchen und der Mann erzählt, er will nach Bourg-en-Bresse. Bukarest, frage ich. Neee, Bourg-en-Bresse, in Frankreich. Ich verstehe. Er fährt nur zwanzig Kilometer am Tag, der Weg ist weit und er muss über die Enz und die Seine dahin und entlang der Rhône und eine Bekannte hätte ihn ja abgeholt, aber irgendwas war, wie auch immer, eine teure Reparatur am Radel, der Reifen des Anhängers und nun kein Geld mehr. Geschichte hin, Geschichte her, wahr oder erfunden, Tatsache ist, dass vor mir ein Mann sitzt, der viel zu wenig Geld hat und schon gar kein regelmäßiges Einkommen, also werfe ich ein paar Münzen in den Hut und erinnerte mich an die Fünfeuroscheine, die doch noch im Geldbeutel waren, einen könnte ich abgeben, durchsuche das Scheinefach, doch da ist nichts und krame weitere Münzen heraus, ist doch egal, der Mann kanns gebrauchen und ich habs hier, das Geld. Außerdem fummele ich einen Müsliriegel aus der Tasche. Im Nachhinein etwas grübelnd, denn der Mensch hatte keine Zähne. Mac heißt der Hund, nicht Julius, wie es auf dem Halsband steht, das sei nur die Marke, und das Hundchen blickt treu und traurig. Im Anhänger befänden sich vierzig Kilo Hundefutter.
Wasser, ich brauche dringend Wasser jenseits von Germersheim. Der Wasserhahn beim Wohnmobilstellplatz in der Festungsstadt funktionierte nur mit Geld. Durstend raus in die Dörfer, Deichweg, Deichweg, Deichweg, Dorf, endlich, Mann mit Müllsäcken vorm Haus und, ja, aber natürlich kriegst Du Wasser. und er geht rein, füllt ab, kommt raus und gestikuliert mit Daumen und Zeigefinger, unten hab ich soviel Jack Daniels reingefüllt, und lacht verschmitzt und erklärt mir den Weg.
Vielleicht wiederhole ich mich, ich schreibe es trotzdem! Ich mag deine Ehrlichkeit, ganz besonders auch heute. Was nutzen alle Wege, wenn man den Mensch dahinter nicht lesen kann!
Heute wünsche ich dir einen leichteren Tag.
Herzliche Grüße
Ulli
Schön, dass Du mitreist auf dem Gepäckträger :-)
Stark! Wieder Berichte so faszinierend, wie gewohnt… Danke! Sven, immobil.
Danke mein Lieber. Hab rings um Rheinhessen an Dich gedacht!