Heute würde ich wahrscheinlich am Rhein-Marne-Kanal aufwachen, das Lager zusammenpacken und weiter Richtung Dijon radeln. In Niderviller würde ich in die Bäckerei einfallen und ein Stück Pizza kaufen, ein Éclair und ein frisches Baguette.
Aber ich lade die geneigten Leserinnen und Leser erst einmal ein auf einen Ausflug ins schwedische Falun des Jahres 2015. Dort wurde mir das ‚Phänomen‘, von dem ich berichten möchte, erstmals bewusst. Die kleine Stadt nordwestlich von Stockholm war einmal Schwedens größte oder zweitgrößte Stadt. So steht es auf einer Infotafel in der Nähe von Faluns wichtigster Attraktion, einer ehemaligen Kupfermine. Das kleine Industriestädtchen mitten im Land hat ein ganz besonderes, ein bisschen verschlafenes Flair. Wie um einen Kontrapunkt gegen die tiefe Wunde der Erzgrube zu setzen hat man oberhalb der Stadt eine Skisprungschanze gebaut. Ein spitzer Zinken, der für Touristen offen steht. Auf dem Weg zum Nordkap (#AnsKap) treffe ich mich mitten in der Fahrradtour mit Frau SoSo für eine zweiwöchige Auszeit. Sozusagen Ferien vom Job des livereisenden Europaradlers. Frau SoSo hat ein Ferienhäuschen gemietet. Die Vermieter leihen uns ein weiteres Fahrrad. Wir sind mobil. Wir erkunden die Gegend zu Fuß und per Radel. Es gibt viel zu sehen und unweit vom Haus gibt es einen Bootsanleger, ein Ruderboot und ein Stückchen Ufer, an dem man sich in den eiskalten Runnsee tasten kann. Nicht weit entfernt vom Ferienhäuschen gibt es einen kleinen Supermarkt der Kette ‚Hemköp‘. Ein typischer Laden wie man ihn hierzulande zuhauf findet, ein aldiähnliches Gebäude mit großem Parkplatz direkt an der Hauptstraße, das wie ein Magnet die Menschen tagein tagaus anzieht. Wer weiß, wenn man Linien ziehen würde von den Häusern bis zum kleinen Hemköp für jeden Menschen der Umgebung, der den Laden regelmäßig besucht, erhielte man womöglich ein Bild ähnlich der Kraftlinien eines Magnetfeldes. In den zwei Wochen besuchten wir den Markt regelmäßig, wahrscheinlich fast täglich, um dies und das zu kaufen. In diesem Laden manifestierte sich das ‚Phänomen‘ erstmals. Nicht, dass es nicht schon immer spürbar gewesen wäre, das Phänomen. Ich hatte es nur bisher nicht wahrgenommen. Nicht erkannt.
Vor der Eingangstür saß von morgens bis abends immer ein und die selbe Bettlerin, eine runzlige Frau mit vielen Kleidern und bis auf den Boden fallendem Rock. Eine Plastikschale vor sich, in die man Geld werfen konnte. Im Schweden des Jahres 2015 gehörten die Bettlerinnen und Bettler vor den Supermärkten einfach zum Straßenbild. Kaum ein Supermarkt, selbst in der tiefsten Provinz, vor dem niemand saß. Aber unsere Bettlerin, der wir immer ein paar Münzen in die Schale taten oder den Pfandbon, ist nicht das Phänomen. Sie ist nur Teil des Gesamtbildes.
(Hier Ende erster Korrekturlauf – ich muss jetzt weg).
Den gestrigen Tag verbrachte ich mit Schreiben, Künstlerbürokram und ein bisschen Gartenarbeit, bis sich nachmittags eine unheimliche Nervosität einstellte und es mir ratsam schien, das Haus zu verlassen, aller pandemischen Sorgen zum Trotz. So sattelte ich das Ebike und rauschte runter in die Stadt. Nur mal schauen, bei Menschenbegegnung nicht atmen, nicht husten, nicht husten lassen, Abstand halten, wahrscheinlich wäre sowieso niemand unterwegs oder alle im Auto. Pustekuchen! Die Stadt fühlte sich an wie immer. Gehwege und Fußgängerzonen voller Menschen in Gruppen, stehend, sich unterhaltend, hustend und schnäuzend auch, ein wunderbarer Frühlingstag mit ein bisschen Sonne, die sich durch die jungkeimenden Zweige der mächtigen Platanenallee presste. Dort begegnete ich Frau R., einer Kunstconnaisseurin, rege, rüstige Frau und wir hielten ein kleines Schwätzchen. Hinter uns plätscherte der Schwarzbach. Ein bisschen reden wie üblich. Zwei andere Spaziergänger kamen auf dem schmalen Weg auf uns zu, zögerten, reihten sich hintereinander, machten, wie man so schön sagt, einen großen Bogen um uns. So groß wie möglich. Das ist anders, wurde es mir schlagartig bewusst. Ich bot Frau R. meine Hilfe an, sie könne mich anrufen, ich müsse ja sowieso jeden Mittwoch da raus in den Stollen, um Einkäufe zu machen für die Mama, die Tante und Freund Journalist F. Sie sei gut versorgt, sagt sie, der innenstädtische Supermarkt liefere vor die Haustür. Welch ein Segen! Von links Kontrabassist M. auf dem Ebike, grüßt knapp und fährt einfach so vorbei. Tse. Wir kennen uns relativ gut. Besser, als dass man einfach so vorbei fährt. Das ist anders!? Ist es wirklich so weit mit dem Virus, ich meine, ich kenne den Mann gut?, frage ich Frau R. ‚Le Virus, c’est moi‘, antwortet sie … ich meine, ich kenne den noch besser als ich sie kenne. Warum ist er so kurzangebunden? Wie groß kann Angst sein? Wie gesagt, der Virus bin ich, widerholt Frau R. Ich kenne ihn doch auch. Leider. Der Mann war mal mein Vermieter, bis er mich wegen Eigenbedarfs gekündigt hatte und das Haus verkaufte.
Über die Zwiespältigkeit allen Gesamtbilds nachdenkend radelte ich weiter, bachabwärts, flankierte alle Supermärkte im Vorort und beäugte die Parkplätze, ob sie voller wirken als zu normalen Zeiten. Nie und nimmer würde ich einen der Läden betreten, nur um eine Kleinigkeit zu kaufen. Dabei bräuchte ich dringend Brot, Milch, Schokolade … das Phänomen! Heureka. Da ist es. Schölagartig musste ich an Falun denken und an den kleinen, magnetischen Kaufmannsladen mit seinem Süßigkeitenregal und all den feinen fremden, schwedischen Köstlichkeiten, seinen Chromblitzenden Kassenanlagen, den Kreditkartenmelkstationen, all das und an den magischen Drang, in den Markt zu gehen, egal, ob ich etwas brauche oder nicht und schlagartig wurden mir alle Nah-Supermarkterlebnisse bewusst, die ich in den letzten Jahren, insbesondere auf Radtouren, hatte. Wenn du einen Supermarkt am Weg siehts, geh rein und kauf etwas. Egal was. Es ist, als entstünden unsere Begierden im Anblick von Einkaufsläden und je näher wir diesen Tempeln kommen, desto größer werden sie und desto mehr fällt einem ein, was man denn unbedingt braucht. Wie oft bin ich unterwegs mit schwer bepacktem Fahrrad aus irgendeinem Mark gekommen mit übervollen Armen von Zeugs, das ich sodann auf dem Gepäckträger verstauen musste. Das Phänomen Mensch sieht Supermarkt und entwickelt Kaufgelüste. Pavlovesk, grotesk. Es bricht uns nun das Genick.
Ich schaffe es, milch- und brotlos vorbei an allen Supermärkten der Stadt. Nur dem Gartencenter beim alten Vorortbahnhof kann ich nicht widerstehen. Saatkartoffeln könnten in diesen Zeiten nicht schaden. Wen treffe ich? Die Frau Mama, mit der ich schon ein paar zaghafte Gespräche hatte, ob es ratsam ist, insbesondere in ihrem Alter, das Haus noch zu verlassen. Eine kleine Schachtel Pflänzchen zahlt sie gerade. Saatkartoffeln gibt es nicht. Ich trage ihr die Platte mit den Pflanzen zum Auto und als sie den Kofferraum öffnet liegt da noch ein Pennyeinkauf, ach ja, da war ich auch noch kurz. Zuvor hatte sie mir versprochen, dass sie nur ihren Arzttermin wahrnehmen würde.
Vieles ist also beim Alten. Noch. Durch ein Tal namens Liebestal radele ich zurück zum einsamen Gehöft. Die Lunge pumpt wie eine schnurrende Katze. Regelmäßig. Frei. Glücklich. Vorbei an einer Gruppe kahlgeschorener Soldaten. Die Kaserne ist nicht weit. Die Knaben sehen aus wie Söldner. Wo ist meine schöne alte Achtzigerjahre-Zeit hin, in der wir Milchbuben, wenn wir denn nicht verweigerten, in den grünen Klamotten eher aussahen wie Alfred E. Neumann (Magazin Mad), nicht wie Fremdenlegionäre. Aufwärts durchs Liebestal, das leider nur vom Namen her und wenn man nach Osten blickt ein Idyll ist. Sumpfige Wiesen mit tiefbauchhängenden Ponys rechts, im Osten und links, an den Hängen des Westens zuerst das Militärische Sperrgebiet, in dem am gestrigen Tag die Soldaten perlen wie Schweiß auf der Stirn eines Europennerrreiseradlers beim Erklimmen des Mont Lozère. Ein wenig später, auch zur linken, gibt ein Einschnitt im Liebestal einen gräßlichen Blick auf die städtische Mülldeponie frei. Ein grauer Hügel wie Vulkanasche unter hellblauem Himmel hinter Stacheldraht zwischen todeshechelnden Lippen aus verstaubtem Wald. Garniert mit, der Ferne sei Dank dreckigen gelblichen Baggern. Zack, vorbei, schau nach Osten, Herr Irgendlink. Tu so, als wäre es nicht da. Als wäre dieser ‚Mont Mullbèrge‘ direkt vor Deiner Haustür in den zwanzig Jahren, die du nun schon hier bist, nie gewachsen. Es ist tatsächlich so, dass dort, wo früher ein Loch war, sich nun ein Berg auftürmt, genau umgekehrt wie im schwedischen Falun, dessen Kupfermine, die einst ein wie Käse durchlöcherter Untertagebau voller geheimnisvoller Stollen war. Ein Grubenunglück im Jahr 1687 ließ die Gänge in sich zusammenstürzen und nun klafft ein riesiges Loch am Rande der Stadt.
Falun, das Antizweibrücken.
Tja. Das Phänomen war am gestrigen, ersten Reisetag nach Andorra also Thema für diesen Blogeintrag. Man muss sich das so vorstellen, in meinem Hirn: es denkt in mir und ich mache mir am Wegesrand geheime Notizen, die ich reifen lasse und im nächsten Gang, heute Morgen am PC, einsammele und verknüpfe. Mehr ist es nicht.
Bei unserem abendlichen Telefonat taten Frau SoSo und ich so, als sei ich tatsächlich unterwegs. Als hätte ich es geschafft bis zur kleinen Schutzhütte am Rhein-Marne-Kanal unterhalb des Dörfchens Arzviller. Als hätte ich meine Isomatte auf einem steineren Tisch in dem ehemaligen Zweckgebäude ausgebreitet, den Trangiakocher aufgestellt, eine halbe Zucchini und ein bisschen Couscous und eine kleine Zwiebel gebrutzelt, als fröstele ich mich bei fünf Grad Celsius in den Winterschlafsack und sänge mich leise summend in den Schlaf. Wie es dort jetzt aussieht, wollt Ihr vielleicht wissen? Ich kenne den Kanalradweg ja von vielen Touren. Noch bin ich im heimischen, bekannten Gebiet. Die Schutzhütte hatte ich letztes Jahr bei einer Kurztour entdeckt. Zwei Radreisende hatten sie okkupiert. Ich zeltete ohnehin ein paarhundert Meter entfernt bei einer Picknickstelle. Wie es in dem unendlich schmalen, wie in Fels gehauenen Tal aussieht? Schleuse an Schleuse, mindestens ein Kanalhafen, Felsen, Wald, schön geteerter Radweg. Die Sonne streicht von Osten durchs Tal und wärmt den Europenner, der jusque au Moment sein Radel sattelt, den GPS-Track startet und froh ist, dass es noch eine Weile aufwärts geht in Richtung Niderviller. Aufwärts ist so wichtig, frühmorgenfröstelnd, so wichtig, um den Radlerkörper auf Betriebstemperatur zu bringen.
Ich trage diesen Blogartikel auf meiner Reisekarte beim Hemköp in Falun ein.
Wenn Dir dieser Blogartikel gefallen hat, kaufe mir gerne etwas ab im Irgendlink-Shop. Ich versende nächsten Mittwoch.
All deine letzten Beiträge habe ich mit Freude und vielen Nachgedanken gelesen. Schön, dass du blogst, dass du so tust als ob und wir somit in den Genuss deiner Gedankenwellen kommen.
Herzliche Grüße
Ulli
Danke liebe Ulli. Nach einem halben Tag Assistenz bin ich nun voller neuer Geschichten, aber auch sehr müde. Ertmal Ingwertee und Schlaf.
Lieber Juergen,
das mit Bettlern auf der Strasse in Schweden haette ich nicht gedacht, und auch nicht, dass es immer noch so viele Menschen bei Euch auf der Strasse gibt. Hier bei uns hat der Touristenstrom deutlich nachgelassen.
Auf unseren Supermarkt hier gibt es immer noch einen Run. Mittlerweile sind da die Oeffnungszeiten eingeschraenkt, damit das Personal mit dem Auffuellen der Regale nachkommt. Ein Lieferdienst nach Hause wird nicht angeboten, wohl schon aber seit Langem „curbside delivery“: da bestellt man online, macht eine Abholzeit aus, und bekommt die Bestellung dann nach draussen ans Auto geliefert. Das werden wir wohl beim naechsten Einkauf auch nutzen.
Ich wuensche Dir alles Gute: bleib‘ gesund!
Liebe Gruesse,
Pt
Danke lieber Pit. Für Euch auch alles Gute. Den Kofferraumlieferdienst gibt es in Frankreich oft. Mit eigenen Parkplätzen und Codeeingabe. Man muss nur den Kofferraum aufmachen.