Rein rechnerisch müsste man den Aufstieg zum Titisee und Schluchsee ab Freiburg oder dem nahen Kirchzarten bequem per Radel bewältigen können. Wenn der Radweg Grüne Straße auf einer alten Bahnlinie verläuft und etwa vier fünf Prozent Steigung hat und der Titi- und der Schluchsee etwa acht neunhundert Meter hoch liegen und noch so einige Idealbedingungen. In der Tat sieht der Radweg am stürzenden Flüsschen aus wie eine Bahntrasse mit seinen typischen Bahnkilometersteinen. Das steinige Flussbett (vermutlich die Dreisam), das ich vorgestern Abend passierte, war gespickt mit badenden Menschen, kleinen Amüsiergrüppchen, Sonnenhungrigen, Abhängern und vielen einzelnen dösend Lesenden. Graffitys an den Brücken, Steinmännchen in den Stromschnellen. Da ein einzelner, verwaister Stuhl vom Sperrmüll mitten im Flussbett. Dort eine Schaukel an einer Brücke befestigt.
Ab Himmelreich, wo ich zwischen Bahnlinie und Bundesstraße bei einem Bauernhof zeltete – und erstaunlich gut schlief – ist jedoch schluss mit Lullifulli-Bahntrassensimulat. Noch einige Kilometer folgt der Radweg der Bundesstraße. Die gestern schon sehr früh wieder an Fahrt aufnimmt, lärmt, stinkt, lärmt und nervt, so dass die AnwohnerInnen riesige Schilder am Straßenrand aufgestellt haben mit der Aufschrift Tunnel jetzt und Schluss mit Lärm und Gestank.
Jenseits von Höllental frühstücke ich auf einer Wiese, lade das iPhone an der Solarzelle. Spartanisch mit trockenen, tagealten Brötchen, gesotten in Butter. Viel habe ich nicht mehr und zu kaufen gab es nichts seit dem Nachtlager. Frühestens Hinterzarten. Doch das ist fünfzehn Kilometer entfernt und der Radweg Grüne Straße wendet sich ab Höllental – gottlob – ab von der Bundesstraße, deren Lärm mich ganz aggressiv macht. Im Tausch gegen Ruhe wird die Strecke aber steil, vielleicht acht Prozent, vielleicht mehr. Im ersten Gang schwitzend, kaum Schrittgeschwindigkeit. Irgendwann treffe ich einen Fernwanderer aus Heilbronn, steige ab, schiebe neben ihm her und wir verstricken uns in ein mäandrierendes Gespräch um das Woher und Wohin und das Reisen, den Schwarzwald und den ganzen Rest. Der Mann ist unterwegs nach Meran und hat schon knapp zwanzig Kilometer in den Beinen seit dem Morgen – wie macht er das – immer wieder bleiben wir stehen, verschnaufen, reden und es pendelt sich ein guter Rhythmus ein. Früher war er Haumeister, also professioneller Holzfäller. Im Prinzip erhalte ich einen Crashkurs über Sicherheit beim Baumfällen, nicht zuletzt, weil mein Mitwanderer auch einige Geschichten zum Besten gibt, die sehr böse hätten enden können. Einmal, bei den schlimmen Stürmen Ende der 1990er hatte es ihn sechs Meter durch die Luft gewirbelt und er blieb kopfüber zwischen Ästen hängen, so dass ihn eine Kranmannschaft mit einem Seil, das sie ihm um die Füße banden herausziehen musste. Die noch jaulende Kettensäge war bei der Nummer an seinem Helm vorbeigeschrappt und es war ein Wunder, dass er unbeschadet davon kam. Schlimmer hatte es einen Mitarbeiter getroffen, dem ein unter Spannung stehender Baum die Kettensäge aus den Händen riss und das laufende Ding seine beiden Hände bis auf ein paar Sehnen abtrennte. Nur weil die Mannschaft beherzt reagierte, die Fetzen mit Ästen schienten, die Unterarme abbanden und ihn ohne auf einen Rettungswagen zu warten, quasi wider das Gesetz, per Forstjeep ins Krankenhaus brachten, konnte er gerettet werden. Drei Monate später arbeitete er wieder im Forst.
Der Exkurs in die Holzfällerei war erhellend und ich beschloss, meine eigenen Holzfällerambitionen – trotz guter Sachkenntnis, die ich habe – neu zu bewerten. Bäume unter Spannung sind unkalkulierbare Wesen.
Mein Mitwanderer gab mir obendrein noch einen Kräuter-Crashkurs: Spitzwegerich in die Socken gegen Blasen, Breitwegerich für die Gelenke, Katzenminze für entzündete Augen, alles am Wegesrand zum Anfassen und ausprobieren. Brennesseln zerrieben für die Durchblutung der Hände – ungemein wichtig für Radler. Die Spitzen der männlichen Fichte, die etwas dunkler ist, als die weibliche, gegen Halsweh und dieses verflixte Kreuzkraut, dessen Blüten denen des Johanniskrauts ähneln bloß nicht mit nackten Händen anfassen, ist verdammt giftig, eine Plage, die sich besonders an Straßen durch den steten Strom des Verkehrswindes ausbreitet.
So wanderten wir etwa sechs Kilometer bergauf, sehr gemütlich und nach knapp drei Stunden trennten sich unsere Wege just auf der Kuppe, ab der der Radweg Grüne Straße wieder abwärts führt nach Hinterzarten und zum Titisee. Noch im idyllischen Wald kurz vor dem Schwarzwaldsee war meine Stimmung bestens und ich scherzte in einem Tweet, „Herr Hallervoorden, ich werde einen See nach Ihnen umbenennen (spreche Titisee mit breitem fränkischen Akzent), darauf eine Flasche Pommes Frites“.
Ab Titisee ist der verkehrsarme Spaß jedoch vorbei. Der Radweg führt direkt neben der Straße hinauf zum Schluchsee und so sehr man auch die Ruhe bewahrt, die Aggressivität der Autofahrenden überträgt sich. In Bärental-Feldberg, wo eine Bundesstraße kreuzt, nimmt ein beispielloses Gemetzel seinen Lauf, als ein Tourist einen Fahrfehler begeht, jemand bremsen muss, jemand anderes auch, die Kreuzung plötzlich blockiert ist und sich ein Konzert aus Hasshupen über ihn ergießt. Vielleicht trifft mich, der ich über hundert Meter entfernt bin, der Hass und der Lärm gar mehr, als das arme, tapsige Fahrfehleropfer. Jedenfalls ist die Radlerlaune im Keller. Im Prinzip habe ich eine Art Krieg erlebt, bloß, dass sie nicht aufeinander geschossen haben. Oder ein Gemetzel in einem Hühnerstall, bei dem sämtliche Hennen auf der schwächsten herumhacken und man kann sich dem Schauspiel nicht entziehen.
Schnapsmuseum in Bärental. Ich hasse Schnaps. Ich hasse Museen, ich hasse Autofahrer in diesem Moment, Hupen und LKW-Fahrer hasse ich, hasse den Lidlmarkt vor meiner Nase, den Fastfood, die Verkehrskreuzung, die Hitze, die Sonne, das Universum, mich, mein Rad. Es muss etwas geschehen. Bloß ist es nicht einfach, aus dieser Überladung von Aggression wieder rauszukommen. Vielleicht wenn ich eine Hupe hätte oder einen Schnabel und Krallen oder eine Planierraupe. Zu allem Überfluss verirre ich mich noch am Bahnhof Altglashütten. Weg von der Straße. Stille. Schattige Bank. Rumliegen. Zack, Ruhe. Dann weiter zum Schluchsee. Der sich als Stausee entpuppt. Ich wusste das. Habe mich nur nicht erinnert. Zufällig liegt die Route, die ich nehme direkt bei der Staumauer. Also nicht wie befürchtet noch ein paar Kilometer aufwärts, sondern – nach einem allesreinigenden Seebad – direkt runter ins Schwarzatal, das bis fast nach Waldshut-Tiengen auf einem Betonweg erschlossen ist. Den Betonweg verdankt es wahrscheinlich dem Kraftwerk Häusern und dem Stausee unten im Tal. Jedenfalls rolle ich die etwa 20 Kilometer stets bergab. Kein Auto, keine Radler, nichts. Selbstreinigender Schwarzwald, der die gepeinigte Seele in Frieden entlässt ins Rheintal, wo einen die Hitze mit Wucht trifft. Die Luft ist schwer und feucht, ganz im Gegensatz zu den lauen Schluchsee-Lull-Lüftchen.
Mit Frau SoSo verabrede ich mich vorm Bahnhof Koblenz – nicht die Stadt in Rheinland-Pfalz, auch die Schweiz hat ein Koblenz. Nur wenige Kilometer wären es noch bis zu ihr. Aber die Route an der Aare hinauf nach Brugg kenne ich zur Genüge und es ist so verlockend, das Fahrrad ins Auto zu verfrachten und einfach heimzufahren.
Bei der Hitze.
Die kurze Auszeit – unter dem Hashtag #PalSui auf Twitter zu finden – tat mir gut. Es klappt noch mit dem Radeln und Schreiben und ich liebäugele mit einem größeren Radreise-Schreib-Kunstprojekt noch in diesem Jahr. Entweder die schon seit zwei Jahren geplante Tour auf dem Atlantik-Radweg in Frankreich, oder ein weiteres UmsLand Projekt etwa 2000 Kilometer rund um Bayern.
Ich bedanke mich fürs virtuelle Mitradeln.
Eijei, lieber Radler, hättest mal was gesagt, du warst ja umme Ecke und wir hätten dich samt Rad ins Auto gepackt und wären mit dir zum erfrischen Klosterweiher gefahren.
Die Hitze scheint tatsächlich die Autofahrer unvorsichtig, rüpelig und aggressiv zu machen, ich erlebte da heute auch so einiges, schlappe 34° im Tal, wo ich einen GROSSEINKAUF machen musste, klar im Markt ist es kühl, so kühl, dass ich mein Jäckchen überzog, dafür war es dann wieder draußen umso schlimmer.
Heute dachte ich, der Schwarzwald stirbt, es ist der wievielte Sommer in Folge mit viiiel zu wenig Wasser, die Eschen sterben ja wirklich, aber am Pilz, aber die Fichten und Tannen sehen auch nicht propper aus, die Birken haben mancherorts schon aufgegeben- hier krachen dicke, vollbeladene Obstbaumäste ab, unreife Äpfel und Zwetschgen fallen in Massen von den Bäumen, die Bienen der Nachbarin belagern unseren Brunnen, ich habe eine Kartoffelkäferplage, ach es ist zum heulen … dabei ist doch Sommer…
Ohje liebe Ulli, Kartoffelkäfer sind besonders schlimm. Die durstigen Fichten erholen sich schon wieder. Wenn kein Käfer sich festfrisst. Oben am Schluchsee waren sehr angenehme Temperaturen.
Hmm hmm – ich glaub der Radweg hat dich nach auf dem besten Weg durch meine Heimat geführt. Höllentalumfahrung ist steil und problematisch – ganz klar. Nehme an, du warst nördlich vom Höllental unterwegs?
Aber Titisee – Bärental ist eigentlich eine schöne Strecke quasi fast auf ganzer Strecke seperater Weg. Auch nach Schluchsee gibt es eigentlich einen tollen Wald(fahrrad?)weg ohne jeglichen Verkehr.
Ich hoffe, dass du trotzdem ein paar nette Tage in Südbaden hattest.
Ideal wars sicher nicht, ab Titisee dem Landstraßenradweg zu folgen. In der Open Cycle Map ist tatsächlich auch ein Radweg jenseits des Sees verzeichnet. Den probiere ich das nächste Mal. Es war aber auch so okay. Nur eben die Verkehrslärm-Strapaze war schlecht. Außerdem gibts auch eine Höllental-Umfahrung etwas weiter südlich, die kurz vor Bärental auf ‚meine‘ Route mündet. Das Bad im Schluchsee: einfach unglaublich gut!
ei, eben ist meine Tochter aus der Tür und will sich den Kuhstall über dem Didisee mal anluhren…
manchmal sammeln sich geodätische Kräfte.
Verrückt. Beinahe hätten wir uns begegnen können. Gestern sind wir bei einem Spaziergang nahe Bern zufällig einer Bekannten begegnet. Nur weil wir das Auto am Wanderparkplatz rangierten und somit eine Minute später losliefen und sie just an der Kreuzung trafen, an der sie von ihrer in unsere Route lief und unsere Route in die Gegenrichtung abzweigte. Echt Sekundenarbeit. Andocken an einer Raumstation könnte nicht präziser sein.