30. Mai 2418.Gespenstisch! Absolut gespenstisch! In der Abenddämmerung rauschen wir auf der westlichen Küstenstraße südwärts, umschiffen nur mit viel Glück die ein oder andere Radarkontrolle, die, wenn sie auslöst, unweigerlich Bremsvorrichtungen auslöst, die Reifen zerstört, den Kraftwagen lahmlegt und die Türen mittels schnell härtendem Schaum versiegelt. Es gibt dann kein Entrinnen mehr bis die Polizei eintrifft und einen befreit. Und dann wirds nicht nur teuer, sondern auch unangenehm, vielleicht sogar lebensgefährlich. Man sagt, der Neutralisator, mit denen der Hartschaum aufgelöst wird, in das das Fahrzeug samt Passagieren und Gepäck eingschlossen sind, wirkt ätzend.
Noch vor vierhundert Jahren sei die Gegend eine beliebte Feriengegend für Menschen gewesen. Mit Fahrzeugen, die mit Elektro- oder gar Verbrennungsmotoren angetrieben wurden, tourten sie auf der Küstenstraße, ließen sich hie und da nieder in eigens für sie gebauten, zur Miete stehenden Hütten. Manche hatten ihr Haus dabei auf dem Fahrzeug, andere schleppten eine Art Kiste mit Fenster hinter dem Fahzeug, wieder andere kamen zu Fuß und hatten ein Zelt aus Kunststoff. Genau wie wir.
Wir steuern eine der geschützten Rastanlagen an, in denen die Luft gereinigt wird und somit für uns Humanoide noch genießbar ist. Die Welt gehört seit der Katastrophe eigentlich den Robotern. Sie müssen nicht atmen. Ihre Haut ist gegen das saure Klima geschützt. Sie können sogar ohne jegliche Kleidung und Schutzvorrichtung in das nahe Meer steigen, ohne gleich bei lebendigem Leib (haha) gekocht zu werden. Das Wasser hat diesen Sommer eine Rekordtemperatur von 78 Grad erreicht. Manchmal stellen wir uns vor, wie es sich wohl angefühlt haben mag, als die See, die hier in der Agglomeration Lokken-Blokhus auf breiter Front an den mit Feinplastik durchsetzen Sandstrand braust, wie es wohl gewesen sein muss, als hier Menschen ins Wasser stiegen, um bei wohligen sechzehn Grad ein bisschen zu schwimmen und später in der salzigen, aber gesunden Luft auf dem weichen Sand zu liegen.
Der Sand ist immer noch weich. Aber er ist auch heiß. Ohne Schutzanzug können wir ihn nicht betreten. Nur die Retroparks mit ihren Kraftfeldern erlauben es uns Menschen, so zu leben wie vor 400 Jahren.Dennoch herrlich, das fast kochende Wasser. Durch den hohen atmosphärischen Druck siedet es erst bei 140 Grad, statt wie damals um die Jahrtausendwende schon bei 100. Dort wo die Wellen ausrollen, hat sich eine Salzkruste gebildet. Der Himmel ist, seit man vor einigen Jahren die künstliche Sonne in die Umlaufbahn gebracht hat, wieder etwas strahlender. Die Blau-Simulation, (dass es so aussieht, wie vor vierhundert Jahren vielleicht), erreichen wir durch die unermüdliche Kraft unserer Chemtrail-Bots. Ich möchte nicht wissen, wie giftig die Substanz ist, die sie dem Stickstoffsäuregemisch beifügen, damit die Atmosphäre diesen feinen blauen Retrolook erhält.
Ein später Checkin. Es ist schon fast achtzig Uhr. Die Rezeption des Resorts ist schon geschlossen. Das Kraftfeld kann man nur mit Karte oder einem Code deaktivieren, um hineinzufahren und das Zelt aufzubauen. Bisher liefen unsere bei Retro-Adventures gebuchten Ferien bestens. Im ehemaligen Schweden, das einst von einem Meer namens Kategatt vom dänischen Subkontinent getrennt war, hat es uns am besten gefallen, war die Luft am blausten. Bis zur Hohen Küste haben wir es geschafft. Ein wunderbares Gebirge, dessen höchste Gipfel weit über tausend Meter hoch hinaufragen. Bis in die Ozonschicht. Einmal Ozonschicht und zurück hatten wir uns vor den Ferien geschworen. So weit wollten wir kommen. Einmal nur ohne technische Hilfsmittel wie die Menschen damals vor 400 Jahren atmen, die alberne Silikonmaske von den Backen reißen, tief Luft holen, Jauchzen. Ozon ist zwar nicht gerade die beste Form von Sauerstoff. Es brennt in der Lunge höllisch wie hochprozentiger norwegischer Schnaps. (Okay, ich gebe zu, unser Abstecher ins Alkoholparadies Norwegia, dem einzigen Land, in dem man Alkohol legal und frei käuflich erhält – zudem spottbillig – hätte nicht sein müssen. Aua. Wassen Kater. Die Ausnüchterung dauerte Wochen. Erst als der Test an der Grenze unter den Grenzwert gesunken war, durften wir das Land verlassen. Wie sagt man so schön: Norwegia, the most beautyful drug prison on earth. Haha).
Ich schweife ab. Nach Schwedens Hoher Küste und ‚Alkwegen‘ nun also ausrollen zurück in den Alltag, zurück auf den dänischen Subkontinent. Die Tour neigt sich langsam dem Ende. Unsere Credits sind fast aufgebraucht. Durch die Personenschleuse gelangen wir -es ist üblich, dass man vorm Einchecken durch eine Personenschleuse eintreten darf, um die Luft zu testen – auf den Platz und schauen uns um. Vorsaisonale Leere. Ein typischer Spaßplatz mit Grillarreal, Kinderspielplatz, Spielhölle, Angelautomaten, an denen allbuntes Zeug lockt, mit mechanischem Steampunk-Roboterarm kann man gegen ein paar Credits angeln. Sogar eine alte, von Ionenakkus getriebene elektrische Bimmelbahn hat man – wie aus dem Museum gestohlen – wieder flott gemacht. Man kann sich vorstellen, wie das Riesengelände im Sommer pulsiert, wenn Musikbands auf den Bühnen für Unterhaltung sorgen und die Kinder auf Hoverborads durch die Gegend flitzen.
Der gigantische Schwerkraftneutralisator! Phantastisch. Nie habe ich einen größeren Schwerkarftneutralisator erlebt. Hier bleiben wir, sage ich zu Frau SoSo. Den will ich ausprobieren. Doch sie warnt: denk dran, letztes Mal auf sonem Ding hast du dir tierisch den Knöchel verstaucht und als deine Altersmanipulation aufgeflogen ist, was haben dich die Sicherheitsrobots in die Mangel genommen. Ist doch nur für Kinder bis 35 Jahren.
Oha. Ich erinnere mich. Aber dennoch, einmal noch auf dem Schwerkraftneutralisator hüpfen, als wäre man wieder dreißig. Hach, dass ist mir das Risiko wert. Und es sind ohnehin kaum Leute hier.
Wir suchen uns einen Platz. Nummer C3C3C3. Haltet mich für sentimental trist, aber ich liebe nunmal Grautöne, weshalb ich bei Hexadezimalnummerierung stets schwach werde und nur anhand der Platznummer auswähle, egal, wo sich der Platz befindet.
Zurück zur Luftschleuse. Zurück zum Late-Check-In-Automaten. Wir tippen uns durchs holografische Display, machen alle Angaben: 2 Humanoide, einer unter 35 (das fällt überhaupt nicht auf, solange nicht beide IDs verlangt werden und ich sehe mit meinen 460 Jahren tatsächlich noch viel jünger aus). Ein Vehikel, ein Zelt. Das 3D-Modell des Platzes wird eingeblendet. Frau SoSo zoomt, um hineinzugehen und sich auf den gewünschten Platz zu stellen, so verlangt es die Roboterstimme. Bitte wählen sie ihren Platz, indem sie sich an Ort und Stelle begeben und mit beiden Füßen fünf Dekunden (scheiß dekadische Zeit, aber so ist nunmal die Norm) stehen bleiben. Das Ding will nicht. Immer wieder hüpft Frau SoSo auf und ab, bis die mechanische Stimme befiehlt Stopp, Fehler. Die Stimme klingt wie einer jener Daleks aus der Kultserie Doktor Who, deren 4000ste Folge ich kürzlich gesehen habe: Eliminieren, eliminieren! Und in meiner Phantasie richtet sich ein Dalek-Laser auf Frau SoSo, der sie in kürze vaporisiert.
Nichts geschieht. Das Scheißding ist einfach in einer Programmschleife hängen geblieben. Was nun. Schon wollen wir ins Vehikel steigen und weiterfahren. Die Retro-Kette hat sich den ganzen paarhundert Kilometer langen Küstenstreifen unter den Nagel gerissen und es gibt alle paar Kilometer ein Resort.
Da kommt behäbig ein Checkinbot um die Ecke. Faszinierend echt, sein Dreitagebart, und fragt in bestem Deutsch, ob er uns helfen könne.
Nach der Registrierung senkt sich das Kraftfeld und wir dürfen auf den Platz fahren. Herrlich, wie sie die Luft hingekriegt haben. So muss es wohl vor vierhundert Jahren gerochen und geschmeckt haben. Unweit des Schwerkraftneutralisators bauen wir unser Domizil auf. Die Zeltheringe flutschen ohne Widerstand in den Polymersandboden. Und nun, da ich dies schreibe, lockt das Brummen des Destabilisators, doch endlich hinüber zu gehen und mich ein paar Runden im Schwerkraftneutralisator zu verlustieren.
Darf ich diese letzte Grenze überschreiten?
Großartig! Wirklich!
Chapeau, Monsieur!!!