Drei Nächte an einem Ort. Nachdem wir seit einer guten Woche fast täglich den Standort wechselten und immer weiter nördlich fuhren. Härnösand. Kleine Stadt, Hafen. Fabrik. Gewerbegebiete. Direkt an der E4, die für Schweden ungefähr das ist, was die A7 oder die A5 für Deutschland. Pulsierende Nord-Süd-Ader.Der Campingplatz auf Terrassen über der Meersbucht wirkt nordisch karg, ist fast immer von Wind umspült. Hinter uns im Wald befindet sich ein Militärgelände, das wir gestern mit mulmigm Gefühl durchwanderten. Die Schranken der Wege, auf denen man die Spuren von Kettenfahrzeugen erkennen konnte, waren offen. Es waren zwar Schilder mit durchgestrichenen Fußgänger- und Skilanglaäufer-Piktogrammen an den Schranken angebracht, daneben aber auch weitere Schilder, auf denen auf schwedisch – wahrscheinlich – erklärt wurde, dass man nur dann nicht eintreten darf, wenn die Schranken unten sind. Trotzdem fühlten wir uns beobachtet. An den Wegkreuzungen gab es Straßennamenschilder: Granatsvägen, Handgrantsplats usw. Schöner Humor. Frau SoSo und ich spannen Geschichten, in denen wir von unsichtbaren Camouflage-Typen ins Visier genommen werden, rote Laserpunkte auf der Stirn. Zack. Den Schuss würden wir gar nicht hören, oder aber, eine Patrouille greift uns auf und wir werden verhört und man fleddert Kameras und Smartphones nach belastendem Material. Warum fotografieren Sie Hochsitze, Herr Irgendlink? All die Schilder und all das untouristische Zeug! Gestehen Sie endlich, Sie sind ein russischer Spion.
Nichts passierte.
Nachmittags stand Gerard vor unserem Zeltlager. Frau SoSo saß bloggend am Tisch und ich twitterte im Zelt. Ob ich da sei, fragte er, ich würde ihn bestimmt wieder erkennen, wenn er sich ausziehe. Am Abend zuvor hatten wir uns in der Campingplatzdusche kennengelernt, splitternackt zwischen zwei Duschvorhängen. Der Witz sitzt. Und nun vertieften wir unseren Smalltalk, gaben einander Namen: Angenehm Irgend, angenehm Heras (jaja, so ähnlich wird Gerard auf Holländisch ausgesprochen). Gerard ist 77 und tourt seit – schießmichtot, ich glaube – seit 18 Jahren durch Europa. Alle Länder mindestens einmal bereist, Schwerpunkt Spanien und Skandinavien. Über 280.000 Kilometer hat er zurückgelegt und gut 35.000 Seemeilen auf Fähren zwischen Patras und Norditalien und Island und Dänemark und Schootland und Norwegen und Santander und Enbland.
In aller Kürze erfahren wir viel über sein Leben: dass er mit 49 die Reißleine gezogen hat und vom Ingenieur zum Heiler geworden ist. Nach dreijähriger Ausbildung arbeitete er seither als eine Art engergetischer Heiler, der seine eigene Energie einsetzt, um anderen Menschen zu helfen, wenn sie das wollen. Einer der wenigen in den Niederlanden, die das Diplom bestehen, denn man muss seine Fähigkeiten in einer theoretischen und einer praktischen Prüfung nachweisen vor einer dreiköpfigen Prüfungskommission, die aus Psycholgen, Medizinern und anderen Heilern besteht. In Findhorn in Schottland hat Gerard eine Weile gelebt und südlich von London nahe dem Flughafen Gatwick hat er auf einem College für Geschichtenerzähler in einem dreimonatigen Seminar ein Diplom für Story Telling erworben. Story Telling nicht wie vielleicht neumodisch gebräuchlich mit viel Technik und Suchmaschinenoptimierungsbrimborium im Internet, sondern in ‚ech’t, auf einem Teppich sitzend, wahlweise verkleidet vor vielen echten, neugierigen Menschen. So mischt er Geschichten aus 1001 Nacht und der Bibel und allem, was ihm im Laufe der Zeit unter die Finger kam und komponiert daraus eigene Geschichten. Die Geschichte vom Ungeheuer, dem Baum und dem Felsen zum Beispiel. In Island aufgeschnappt, erzählte er sie vor Kindern, woraufhin sie ihm Bilder malten als Dank. Der Vierjährige malte ein Krikelkrakel, das einen Baum darstellere, die Siebenjährige malte das Ungeheuer und der Achtjährige malte eine Art Storyboard, die alle Elemente der Geschichte enthielten, inklusive Gerard auf seinem magischen Teppich in seiner orientalischen Verkleidung.
Obwohl wir nur kurze Zeit erzählten, gaben wir einander ziemlich viel preis und mit.
Eine brisante Frage drängt sich mir nun auf: wie es sich wohl anfühlen mag, völlig entwurzelt kreuz und quer durch Europa zu trudeln, jahrelang. Gerards selbst entworfenes Wohnmobil ist zwar bestens ausgestattet, und wenn es etwas größer wäre, wäre es weit komfortabler als meine heimische Künstlerbude, aber dieses Leben ohne festen Ort? Ohne Wurzeln, hätte ich beinahe gesagt, aber das stimmt ja nicht, die Wurzeln trägt man ja im Innern, dennoch, ohne materiell fixen Punkt auf der Erde, wie sich das anfühlt? Zudem im Herannahen des Todes, denn 77 ist ja schon ein recht hohes Alter, in dem viele Menschen schon im Altersheim fristen … Guter Gerard. Nun, da ich dies schreibe, beginne ich zu verstehen. Es ist vielleicht das Bremer-Stadtmusikanten-Prinzip. Etwas anderes als den Tod können wir überall finden. Lebensgenießerei pur. Selbstbestimmt sein. Der scheinbaren Auswegslosigkeit, sich in eine Gesellschaft eingliedern zu müssen durch schlichtes Reisen zu entrinnen?
Während unseres mulmigen Spaziergangs durchs Militärarreal redeten Frau SoSo und ich – zwar scherzend – darüber, wie es wohl wäre, wenn man eingesperrt würde und da wurde uns klar, dass die Strafe nicht nur in Freiheitentzug bestünde, sondern auch darin, sich in eine Gesellschaft einzugliedern. Ihren Takt mitzuleben, ihren Gepflogenheiten zu folgen und sich anzupassen. Vom Wecken über den Hofgang zum Essenfassen und zurück zum abendlichen Einschluss. Geburt, nicht selbst bestimmtes Leben, Tod und das freiheitsstrafenjahrelang Tag für Tag. Einhellig war uns klar, dass das fast noch schlimmer wäre als Freiheitsenzug.
Einen kilometerweiten Spaziergang auf einem Waldweg, an dessen Rand sich in regelmäßigen Abständen die Überreste abgefackelter Leuchtfeuer befanden kamen mir einige Erlebnisse in den Sinn, in denen ich mich der Gesellschaft verweigert hatte. Schon der Versuch meiner Mutter vor zig Jahren, mich erstmals in einen Kindergarten zu bringen scheiterte.
Gerard zeigte mir bei einem Gegenbesuch in seinem Wohnmobil noch einige Gegenstände und Bilder, die ihn begleiten. Unter anderem ein Gemälde, das er einst gekauft hatte und es an den einzigen winzigen Hängeplatz über dem Tisch platziert hatte. Ein gut DIN A4 großes Acrylbild auf Leinwand. Es zeigt ein Schiff, mit gesetzten Spinackern, dahinsegelnd in die Freiheit, sagte ich auf die Frage, was es wohl darstelle. Das habe er auch so gesehen, aber der Künstler sagte, es sei ein Vogel.
1001 Nacht befände sich in dem Stauraum unter der Sitzbank. Im Raum unterm Bett lag einst ein Motorschlauchboot mit Außenborder, Ebookreader auf dem Tisch, die Bibel in einer feinen mit geprägtem Leder gebundenen uralten Fassung von seiner Großmutter. Den Koran auf Englisch habe er einem Dänen in Spanien geschenkt, der auf dem Weg nach Marokko war: kannst doch nicht ohne den Koran gelesen zu haben in ein muslimisches Land fahren. Bibel, christlich, dito.
Und in der Piano-Jazz-CD-Sammlung, in der großen Box mit mindestens dreißig Scheiben, sei die Nummer achtzehn herauszuholen und das Lied Nummer achtzehn bei seiner Beisetzung zu spielen: Stairway to the Stars in einer Aufnahme aus dem Jahr – ich glaube er sagte 1956. Da war er fünfzehn und ich minus zehn.
Cool auf jeden Fall, dass Euch im Militärwald keine Entschärfungsratten begegnet sind!
Und dieser Meister des Heilens und Erzählens hätte ich auch bewundert, bestaunt, gemocht!
…der Künstler sagte, es sei ein Vogel. Interpretationen…eigentlich alles „cool“ hier!
Schon mit dem Nichtbesuch des Kindergartens begann es. Wie muss erst die Schule für dich gewesen sein! Für mich war sie immer Gefängnis entweder oder ich nahm mir dort Möglichkeiten des literarischen oder sonstigen Fliegens! Geht ja.
Gute Weiterreise
Frag nicht nach der Schule. Ich hätte mir besser gewünscht mit sensibleren LehrerInnen. Menschen wie Du zum Beispiel, die lehren um des Lehrens wegen und nicht um des Berufs.
Freiheitsentzug: Die Verweigerung eines Rechts auf eigene Bedürfnisse – so sagten wir. Fällt mir jetzt wieder ein.
Sagte ich heute schon, dass ich dich und deine Texte liebe?
Das erfreut mich hoch!!!!!! Danke.
Ach!
Solche wunderbaren Begegnungen sind Nahrung für Herz und Seele (und ich hatte auch ein paar).