Im Zweistromland des kleinen Mannes

Wenn man nur lange genug im Wind steht, wird man selbst zu Sturm. Die Windmoleküle zernagen den Körper, die Kleidung, deine Seele und tragen sie in chaotischen Wirbeln hinaus in die Welt, wo sie irgendwann in Jahrmillionen – vielleicht – einander wiederfinden und reinkarnieren zu etwas, jemandem, oder auch nicht.

Fast dunkel. Nieselregen aufs Dach der Künstlerbude. Wie durch ein Wunder tropft es nicht, wie sonst üblich, in der Mitte des Atelierzimmers auf den Laminatboden, der das erstaunlich gut durchhält schon seit Jahren. Manchmal stelle ich einen Eimer unter, dort wo das Dach undicht ist. Manchmal warte ich, bis der Regen aufhört und wische die Pfütze mit einem schmutzigen Handtuch auf. Manchmal, meist wenn ich länger unterwegs bin, trocknet die Pfütze von selbst und wenn ich wieder nach Hause komme, sehe ich nur noch an den Ringen aus Schmutz, dass es wohl in der Heimat geregnet hat. Manchmal ist das Dach dicht. Dann setze ich mich gemütlich in den Sessel vorm Ofen, fixiere eine undefinierte Stelle an der Wand und sinniere darüber, warum das Dach dicht und undicht zugleich ist. Schon seit Jahren. All die Male, als ich mit der Leiter hinauf kletterte bis zum First und das marode Eternit begutachtete, konnte ich keine sichtbare Verletzung erkennen. Meist trug ich ein Eimerchen Teer und eine Spachtel mit mir, mit denen ich unverrichteter Dinge wieder hinab stieg, weil das Dach ja eigentlich dicht sein müsste. Wo kein Loch, da kein Durchlass für  Regen.

In der südwestlichen Ecke des Gartens hat sich ein kleiner See gebildet und in den Traktorspuren, die über Sommer entstanden, fließen zwei Bäche hinein. Der Euphrat und der Tigris des kleinen Mannes. Obschon das einsame Gehöft fast zur Höhe des Berges liegt, scheint die etwa zwei Hektar große Fläche oberhalb des Gehöfts groß genug zu sein, um in solch wildwässerlichen Zeiten genug Wasser zu sammeln, dass der See entsteht.

My own private Aralsee. Fehlt eigentlich nur noch ein rostiger Kahn, wie man dies aus Bildern vom echten Aralsee kennt. Mein Teich ist etwa zehn Meter lang und vielleicht acht Meter breit. Er staut sich hinter einem Wall aus Schutt und Lehm, den die mannigfaltigen Bewohner des einsamen Gehöfts in den letzten sechzig Jahren aufgeschüttet haben. Man könnte Kajak fahren auf dem kleinen Teich. Er dürfte etwa knietief sein.

Einmal, Pfingsten vor vielen Jahren, regnete es einen Jahrhundertregen, der nicht nur alles Moos vom Dach gespült hatte, sondern auch den alten Wehrmachtsweg unten im Wäldchen bis aufs fest gestickte Schotterbett wieder frei gelegt hatte. Außerdem sammelte sich auf den zwei Kilometern bis runter in die Stadt durchs kleine Tälchen, das Jammertal heißt, so viel Wasser, dass das Rinnsal, das im Sommer manchmal vertrocknet, zu einem derart reißenden Strom wurde, der die Kraft hatte, die ersten Autos am Stadtrand mit sich zu reißen, Bäume, Geäst und Lehm. Eine wahre Katastrophe, bei der die vier Zäune auf dem einsamen Gehöft mit Gras und Unrat so lange Talsperren bildeten, bis sie die Wassermassen nicht mehr aufhalten konnten und mitsamt dem erodierten Spülgut in die Schlucht gerissen wurden.

Mein eigentliches Ansinnen war zunächst nicht, über den Teich zu schreiben. Vielmehr hatte mich vorhin die Holznot nach draußen gezwungen, wo ich mit der Kreissäge ein paar Stämme zerkleinerte, zerhackte, auf einen Schubkarren schichtete, sie vors Haus brachte. Dabei fiel mir dieser, mein eigener, privater Aralsee, Wadi der Pfalz, ins Auge und ich sagte mir, sieh‘ an, sieh‘ an, darüber solltest du mal schreiben. Man könnte sagen, ich sah, Holz und schrieb.

 

Eine Antwort auf „Im Zweistromland des kleinen Mannes“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert