Im Reich der wilden Dienstnummern #AnsKap

‚Siebenundzwanzig Stunden‘ klingt es von irgendwo im Fahrradabteil. Alles kommt nur gedämpft durch. Es ist spät. Es ist dunkel. Die Nacht ist richtig schwarz. So schwarz, wie ich sie seit Wochen nicht gesehen habe. Neonlichter des Bahnwagens flimmern. Man hört den Dieselmotor und ein paar seltsame ‚als-sei-etwas-kaputte‘ rhythmische Geräusche. Alles sehr gedämpft wohlgemerkt.Ich bin nicht mehr aufnahmefähig nach ein paartausend Kilometern Flug, einer Ewigkeit langen Wartepause im Transit des Osloer Flughafens Gardermoen und der nun schon zweistündigen Zugfahrt seit Frankfurt. 

Blick aus dem Fenster des Wartebereichs im Flughafen Oslo Gardermoen. eine Passagierflugzeug  hält am Terminal 40
Blick aus dem Fenster des Wartebereichs im Flughafen Oslo Gardermoen. eine Passagierflugzeug hält am Terminal 40
 
Die Stimme mit den ’siebenundzwanzig Stunden‘ gehört einer Frau mitte dreißig. Wie einsgeworden mit dem Abteil kauert sie auf einem Klappsitz und ihr achtjähriger Sohn spielt Affe an den Haltegriffen. Vorhin hat er erschöpft auf drei runtergeklappten Sitzen gelegen bis der Bahnwagen bei Neubrücke an der Nahe hart abgebremst wurde und er herunterpurzelte und sich schlagartig in dieses wie von Duracell getriebene Äffchen verwandelte.

Der Zug ist voll von erschöpften Reisenden, die aus den Weiten der Welt, teils um den halben Globus geflogen sind, die in Frankfurt landeten und die nun mit diesem vorletzten Zug ins Saarland unterwegs sind. Vorne im Abteil sitzt eine indische Familie, drei Kinder, Vater, Mutter. Er hockt zwischen fünf riesigen Koffern und passt auf, dass sie nicht durchs Abteil kullern. Immer wieder sackt sein Kopf runter. Sekundenschlaf, hochschrecken, so gucken, als sei er immer wach gewesen.

In der Mitte des Zugs haben sich fünf Jungs in T-Shirts und Bermudas breit gemacht, das Kainsmal des Ballermanns noch auf der Stirn, durchzecht aber stumm und gewiss um Jahre gealtert auf ihrem Kurztrip.

Eine Schaffenerin versucht Ordnung ins Chaos zu bringen. Die vielen Koffer versperren Türen und Fluchtwege und sie legt sich mit einem kräftigen Brummbär an, dem irgendwas nicht passt. Ein düsterer Typ mit Halbglatze und einem Vollbart und er will unbedingt ihre Dienstnummer haben, bitteschön, drückt sie ihm eine Visitenkarte in die Hand. Anscheinend ist man auf solche Typen bestens vorbereitet. Die Frau ist wirklich freundlich. Sie deeskaliert, wo es nur geht, aber der Typ lässt und lässt nicht locker – ich will nicht ihren Namen, ihre Dienstnummer brauche ich! – Was muss sie den armen Kerl in seiner Ehre gekränkt haben, dass er so rumnörgelt. Also hält sie ihm die Visitenkarte vor die Nase und zeigt auf eine Nummer über dem Namen, hier, das ist die Dienstnummer und um es zu bestätigen, deutet sie noch auf das Namensschild auf ihrer Sicherheitsweste, hier steht sie auch und endlich gibt der Kerl Ruhe. In Bad Kreuznach ist er ausgestiegen, jede Wette, dass er gleich nach Hause geht, den Computer ankurbelt und eine Email an den Chef – ja von was eigentlich? – von dem Allem schreibt, aber sowas von Beschwerde. Und Facebook!

Während ich zwischen Klo und Fahrrad und indischen Koffern eingekeilt sitze, bis auch ich den Weg freimachen muss, das Radel nach Hinten bringen muss ins echte Fahrradabteil.

Jetzt wäre es eigentlich an mir, mich in meiner Ehre oder wie auch immer gekränkt zu fühlen. Aber ich spüre nichts. Hätte ich vor der Reise … hmm? Ich wäre wahrscheinlich angespannter gewesen. Nun bin ich in einem geradezu buddhistochristlichmilden Zustand, der die Dinge und Begebenheiten wie eine im Scherenschnitt erstellte Schattenarmee vorbeimarschieren lässt: Du bist im falschen Abteil, na und, was kann geschehen, sie schmeißen dich raus mehr oder weniger galant, dann gehst du raus um der Ordnung willen und falls gar nichts mehr geht in diesem chaotischen überfrachteten Zug, dann gehst du ganz raus, rüber in die Nacht und baust dein Zelt auf irgendwo auf einer herbsttrockenen Wiese. So wo ist das Problem?

Wenn ich bloß wüsste, was dem vollbärtigen Brummbär passiert ist, dass er sich so benehmen musste.

Ach, Deutschland, wieso knallen immer gleich die Welten aufeinander, wo ist deine Gelassenheit, ich weiß, dass du mal ein ziemlich gelassenes Land warst, meine ich mich jedenfalls zu erinnern. Was für ein seltsamer Kleinkrieg brodelt hier, dass man sich wegen allem und jedem in die Wolle kriegt, fast, als wolle man sich in die Wolle kriegen und man nimmt deshalb jede Kleinigkeit zum Anlass.

Sechs Grad zeigte das Thermometer heute Morgen auf dem Flughafen Alta. Es kam mir gar nicht so kalt vor. Das Zelt musste ich nass einpacken. Sag zum Abschied leise Nieselregen. Fahrrad und Gepäck aufgeben, nassgeschwitzt vor Hektik. Dann einchecken und in zwei Hüpfern ging es über Tromsø nach Oslo, wobei die Landung in Oslo im zehnminütigen Sinkflug bei dichtem Nebel recht ungemütlich war.

Ein Tag zum nicht den Flughafen verlassen. Dauerregen. Sicher hätte ich in den sechs Stunden Wartezeit einen Trip durch Oslo machen können, aber bei dem Sauwetter?

Der Transitbereich des Flughafens Gardermoen ist eine einzige Einkaufspassage mit angeschlossenem Dutyfree-Shop. Da ich kein Geld mehr hatte, blieb mir dieser Zeitvertreib erspart und ich lümmelte auf den Ledersesseln in diversen Wartebereichen, die in regelmäßigen Abständen in der länglichen Halle stehen.

Schrieb Blog. Unter den Sesseln gibt es sogar Steckdosen. Heile Welt des Transits. Durch die Glasfront kann man das Flughafentreiben beobachten. Das Ein- und Ausladen der Flugzeuge auf kleine Gepäckwagen, die von Elektrofahrzeugen gezogen werden. Die Ladeleute sind ruppig, werfen die Koffer in hohem Bogen auf die Wagen, so dass die auf der anderen Seite auf den Boden knallen. Im Regen scheinen sie ohnehin nicht gut gelaunt. Bauarbeiten allüberall. Auf einem fünfzig Meter langen und zehn Meter hohen Tunneldach schuftet ein Bautrupp. Angeleint in leuchtend gelben Schutzkleidern. Bagger, Betonmischer und Baumaschinen fahren zwischen den Andockstellen für die Flugzeuge. Auch im Innenbereich wird gearbeitet. Dazwischen strömt der Menschenumschlag aus aller Welt.

Der Anschlussflug ist verspätet. In einem winzigen Flieger werden wir zu hundertachtzigt oder noch mehr regelrecht eingedost.

Ich sitze neben einem badischen Paar, Bernhard und Heidi (hallo Ihr Beiden, falls Ihr das lest), die auf den Hurtigruten waren und wir verquatschen den gesamten Flug, sehr sympathisch und sie stopften mich voll mit Keksen und Bonbons wie im Paradies. So dass unsere umtriebigen Hirne ganz vergaßen, dass wir in ‚höchster Lebensgefahr‘ in einem Flieger sitzen. Selbst die Luftlöcher ab und zu konnten uns aus diesem Vergessen nicht hervorlocken.

Perfekt.

In Frankfurt Spießrutenlauf zwischen Gepäckband und Sperrgutausgabe bis ich endlich alles habe, obendrein noch eine Schadensmeldung, denn die ruppigen norwegischen Packer werfen offenbar nicht nur Koffer durch die Luft, sondern auch Fahrräder. Zwei neue Schutzbleche bringt mir der Flug ein. Darüber bin ich nicht unglücklich.

‚Siebenundzwanzig Stunden‘. Wie aus dem Nebel gesprochen kommen die Worte, ach ja, da war doch noch jemand im Abteil und ich stehe schon an der Tür, wir rollen nach Neunkirchen ein und ich hätte beinahe vergessen, Tschüss zu sagen, so müde bin ich. Die Frau kann kaum die Augen aufhalten. Ihr Sohn hangelt an den Haltestangen und noch ehe mein Hirn eine passende Antwort hat oder die vernünftige Gegenfrage – wo kommen Sie denn her – sagt der Mund schon Tschüss und die linke Hand drückt den Öffnungsknopf und irgendeine geheimnisvolle Kraft macht den Körper das Radel hinausschieben auf den Bahnsteig, herrjeh, zu gerne wüsste ich, woher diese Frau und das Kind kamen und wohin sie wollten, aber da hat mich längst der merkwürdigste Bahnhof des Saarlands verschluckt.

13 Antworten auf „Im Reich der wilden Dienstnummern #AnsKap“

  1. Das war es nun, das Happyend … :-) Und die Eltern, die dich abgeholt haben, waren froh, dass du da warst.
    Toll, dass du neue Schutzbleche bekommst. Ist doch auch was.

    Danke fürs Mitnehmen auf den Rückflug!

  2. Ach ja, das Heimkommen ist immer irgendwie seltsam… Willkommen zuhause! Diesmal hatte ich nicht die Gelegenheit/Zeit, jeden Tag deine Reiseberichte zu lesen, habe nur ab und zu mal reingeschaut und mich daran erfreut. Vielleicht komme ich ja noch dazu, was nachzuholen. Übrigens, die 27 Stunden haben in mir Erinnerungen ausgelöst: an eine Bahnfahrt von Osnabrück nach Perugia. Genau so lange hat sie gedauert. Das waren noch Zeiten, ohne Flieger und so… Ich wünsche dir erstmal gute Erholung!

    1. Das ist echt faszinierend wie kurz die Distanzüberwindung geworden ist.
      Noch vor 150 Jahren gabs gerade Mal erste Eisenbahnstrecken und man hätte nach Perggia mit der Kutsche fahren müssen.
      Hab mich oft gefragt, wie die Struve-Meridianvermessung durchgeführt wurde. Die mussten ja mit dem Pferd und zu Fuß zu all den Messpunkten kommen.
      Fast vierzig Jahre hatte es gedauert, um den Meridian von Hammerfest bis zur Krim zu messen.

  3. Das war es also nun – schade, dass wohl nun die täglichen Blogs von ja auch „meiner“ Strecke entfallen werden.

    17 Stunden waren es bei mir, im finnischen Nachtbus bis Rovaniemi, dann nochmal 13 Stunden im finnischen Nachtzug, 29 Stunden auf der Fähre nach Lübeck und dann nochmal etwa 18 Stunden auf dem Rad durch die herrlich schwarze warme Nacht bis Berlin. Und irgendwie habe ich doch jede Minute dieser langen slow travel Rückreise vom Nordkapp genossen.

    1. Darum habe ich Dich ein bisschen beneidet. Die relativ langsame Rückreise. Insbesondere auf der Fähre. Und auf dem Radel ankommen wo man losfuhr ist einfach klasse. Fast wie ein zweites Mal Ziel erreichen.

  4. Willkommen zurück, obwohl ich Dich leider nicht wieder sehen werde, denn ich wohne weit fort von Zweibrücke, an der Bergstraße. Demnächst ziehe ich schon wieder um: Bad Homburg vor der Höhe, das ist der Main-Taunus Kreis, da stammte meine Mutter her … Jetzt lebt meine Tochter dort und arbeitet in Frankfurt a. M.
    Deine Berichte werden mir fehlen! Wenn frau schon nicht mehr selbst radeln kann!
    Grüße auch Deine lieben Eltern und, falls Du jemand vom Kunstverein treffen solltest, den oder die auch. Schade, dass ich noch keinen K-Verein in Bad Homburg kenne…
    Herzlichen Gruß
    Gerel

  5. Hey, bis auf den, der vor lauter Müdigkeit brummelig war und nicht mehr lesen konnte, war’s doch noch ganz erträglich. Ja, klar, aus der Einsamkeit Nordeuropas in die vollen/überfüllten Züge hierzulande istes schon ein schrecklich weiter Schritt … Aber Du bist jetzt wieder da, wo Du sein kannst, wenn Du nicht unterwegs bist.

    Ich wär ja gerne mal beim Kunstzwerg aufgeschlagen, aber ich habe die letzten Bahnpreiserhöhungen nicht so exorbitant phantasiert, wie sie denn jetzt doch sind. Dann werde ich mal lngsam beginnen, mich mit Dir und Soso abzusprechen bzgl. des FFadRH ;-)

    Habs gut und mach schön duhsemang, bis alle Reiseutensilien wieder da sind, wo sie hingehören:

    am reparierten Radel unter Deinem Hintern bei der nächsten Tour ;-)

  6. Ja, und jetzt ist diese Reise vorbei. DIESE Reise. Schade, nicht mehr täglich davon lesen zu können. Aber Vorfreude auf die nächste Reise, und auf das Nachlesen, und das Nachfeiern erst.
    Die Verkehrsmittelrückfahrt ist oft geeignet, einem viel zu stehlen von dem, was man gerade erst gewonnen hat. Ich hoffe, bei Dir war es letztlich nicht so.
    Und Deutschland – gelassen??? Nee, das habe ich noch nie so empfunden. Ich finde es schon immer sehr schrecklich, dass jeder auf sein Recht pocht. Wobei „jeder“ natürlich nicht jeder ist. Aber manchmal mag es so scheinen …
    Komm weiter gut an, Liebgruß, Uta

    1. Stimmt eigentlich. Gelassen war das Land nie (habe ich sowieso falsch ausgedrückt). Aber in dieser Jugend, damals, empfand man es so.
      Vielleicht ist die Tatsache schuld, dass sich der Markt bis ins eigene Hirn ausgebreitet hat und mit ihm die Marktschreier und der wütende Mob und die Gerüchteschmutzdchlachten.

  7. Lieber Jürgen, ein toll geschriebenes Finale!

    Lieber Reisekünstler, liebe Homebase-Künsterlin,
    gutes Ankommen Euch beiden in der – wie temporär auch immer – Sesshaftigkeit. Jetzt geht es ja erstmal unalltäglich weiter mit dem Kunstzwerg, da bin ich mit dem Herzen dabei.
    Und auch beim Ans-Kap-Follower-Fest, welch schöne Idee, leider nur mit dem Herzen.

    Melde mich nach dem Kunszwerg bei Euch und wünsche Euch gute Begenungen mit alten und neuen Freund*innen und Bekannten und einfach ein wunderbares Wochenende!

    Achja, und Riesenfreude über den völlig unerwarteten idogma-Felsen, Jürgen, 1000 Dankeschöner.

    Liebe Grüße, auch v. Haupt.st.mediator!

    1. Ich hoffe, wir sehen uns doch irgendwann und irgendwo bald mal wieder. Jetzt ists fast schon wieder ein Jahr seit wir miteinander auf dem Kreuzberg in Kreuzberg saßen.
      Ich hoffe, dass es dir so weit gut geht. Ich schwänze Kunstzwerg, sehe dafür den Nordkapman in drei Tagen für ne Weile hier.
      Sesshaftigkeit – ja, was ist sie wirklich?

  8. Noch nicht so richtig realisiert, dass die weite Reise rum ist! Schweife noch ein bisschen zum Traktormuseum oder auf Einsamstraßen herum, die du beschrieben hast…
    Gruß ins Heimatgefilde

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

%d Bloggern gefällt das: