Ziemlich zerknautscht im Hafen von Havoysund, wo mich die Hurtigrutenfähre Vesterålen um – äh wann? – perversfrüh ausgespuckt hat. Ich glaube, ich war der einzige aussteigende Gast. Das Schiff lag noch im Schlaf, als es um 5:45 in Honningsvåg ablegte. Wegen Übermüdung und falsch gestellter Fahrraduhr hätte ich es beinahe verpasst. Um 5:43 schaue ich aufs Handy und realisiere, dass die Fähre in zwei Minuten ablegt, während ich hundert Meter entfernt um die Ecke im offenen WLAN vor der Touristinfo lustig vor mich hin twittere. Völlig außer Puste erreiche ich den letzten Lift aufs Autodeck, melde mich an der Rezeption, wo man mir eine Chipkarte gibt, die beim Auschecken gescannt wird.
Oben auf dem Panoramadeck, das rundum verglast ist und sogar in der Decke Fenster hat, lasse ich die Fjordstraße an mir vorbei ziehen. Möwen driften mit dem Ostwind parallel zum Schiff. Wir überqueren den Sund, der durch einen Tunnel die Nordkapinsel mit dem Festland verbindet. Jene fast sieben Kilometer lange Röhre, die ich vor drei Tagen durchradelt habe. Unheimlich. Ich bin vielleicht genau da, wo ich geradelt bin, nur ein paarhundert Meter höher auf dem Wasser.
Was hatte ich ein seltsames Gefühl da unten. Neun Prozent steil sackt die Straße fast drei Kilometer weit durch den Fels und windet sich unterm Meer durch, um auf der anderen Seite genauso steil wieder hinauf zu führen. In Zwischenstops alle fünfzig bis hundert Meter, in denen ich durchatmend die rechte Hand an der glitschigen Tunnelwand abstützte, ackerte ich wieder hinauf, im Gepäck immer eine kleine, hollywoodeske Roland Emmerich-Inszenierung, in der der Tunnel ein Loch kriegt und das Meerwasser eindringt.
Gestern begegnete mir in Honningsvåg ein franzöischer Radler, Stan aus Paris/Toulouse. Schiebend. Ziemlich zerknirscht. Nach vier Uhr. Alle Läden außer dem Lebensmittelladen zu. Auch der Fahrradladen. Seine Kette ist ihm achthundert Meter vor dem Tunnelausgang gerissen. Er fährt ein Rennrad mit Anhänger und einer geradezu barbarischen Rennübersetzung. Kein Wunder, dass bei neun Prozent Steigung die Kette ächzt.
Vom Tunnel nach Honningsvåg sind es über zwanzig Kilometer. Die hätte er eigentlich laufen müssen, wenn nicht das erste Auto, das er sah, als er wieder draußen war gestoppt hätte, das Kanu vom Trailer geladen und bei einem Nachbar gelassen und sein Radel mitsamt Gepäck aufgeladen hätte, um ihn nach Honningsvåg zu bringen.
Auch die sieben Kilometer bis zum Campingplatz hätte er schieben müssen und vielleicht sogar den Rest der Strecke zum Nordkap, wenn er mir nicht begegnet wäre. Ich habe nämlich einen Kettentrenner im Gepäck.
Ich zweifle ein bisschen, dass die Kette nun durchhält, denn wenn sie im Tunnel bei neun Prozent Steigung reißt, kann sie auch auf den drei Anstiegen zum Nordkap reißen.
Havøysund nun. Kleines Städtchen im Fjord, das alles hat, was das Herz begehrt. Sogar eine Bibliothek gibts hier, eine Schule, Kirche, Bank, Hafengebäude – apropos: die Warteräume in den Hurtigrutenhäfen – ich nehme an, es gibt sie nicht nur hier in Havøysund, sind beheizte, bequeme Etwase mit Toilette und Kaffeeautomat (nur für die Kapakten und falls man mal auf den irrwitzigen Gedanken käme, über Norwegen ans Nordkap zu radeln).
Hier an meinem Schreibplatz stehen ein paar Tische und Parkbänke an einem kleinen offenen Platz vor dem örtlichen Coop-Laden. Die Sonne scheint. Ich habe Kaffee gekocht auf dem Trangia. In der Fähre hätte ein Kaffee siebenunddreißig Kronen gekostet, etwa fünf Euro. das ist knapp halb so viel, wie der Campingplatz in Olderfjord/Russens kostet, den ich heute abend anlaufen möchte.
Das GPS zeigt eine Distanz von neunundfünfzig Kilometern bis dahin. Luftlinie.
Havøysund erwacht mit dem Ablegen der Fähre. Hinter mir der Hafen. Ein Fischkutter läuft ein. Die Seile, mit denen die Flaggen an den Fahnenmasten hochgezogen werden, klappern im Wind. Der macht das Sitzen hier ein bisschen ungemütlich. Vermutlich wäre es ziemlich warm, wenn die Sonne ungestört scheinen würde.
Auf dem Tisch habe ich fast alle Sachen ausgepackt, die in den vier Fahrradtaschen sind. Viel ist es nicht mehr. Meist Lebensmittel, der Kocher, Notizbuch, Kleinkram. Die hinteren Packtaschen sind fast leer, weil ich sämtliche Kleider trage, die ich dabei habe. Nur noch Socken und Unterhosen, die Badehose sind darin.
Ich schätze, dass ich mit etwa 30 Kilo inklusive Radel in Alta abfliegen werde. Punktlandung. 23 Kilo als Gepäckstück und bis zu acht Kilo im Handgepäck.
Der Rückflug ist nächsten Mittwoch um 7:35 mit einem halben Tag Aufenthalt in Oslo, bis es um 16 Uhr weiter geht nach Frankfurt. Fast drei Monate Radeln werden in zwei kleinen Hüpfern von je zwei Stunden weggewischt.
Wie ich so hier sitze, zerknautscht, wie oben erwähnt, wird mir klar, dass mir die schnellen Verkehrsmittel nicht liegen. Auch die Fähre heute Morgen war stressig.
Ich könnte jetzt gut einen stillen Platz brauchen, schön warm und ohne Wind, an dem ich eine Weile dösen kann, danach mich ins Schneidersitzbüro begeben und ein paar Blogeinträge schreiben.
Ich hoffe, du kannst dich beim Radfahren über Land von den Strapazen der Zivilisation wieder so weit erholen, dass der Schlafmangel sich auflösen kann.
Danke für deinen neuen Text, der wieder so wunderbar bildhaft ist, dass ich meine, dabei gewesen zu sein auf dem Schiff.
Wer weiss, vielleicht werden wir ja mal …?
Gute Weiterreise.