Der Herbst ist nah, sagt die Frau in Gråträsk, einem kleinen Dorf mitten in Lappland. Ihr Mann ist drinnen im Haus und füllt meine Wasserflaschen. Das Wasser, das ich beim Friedhof von Glommersträsk gezapft habe, schmeckt nicht gut. Ich möchte nicht riskieren, mir den Magen zu verderben. Zwei Hunde umbellen mich, freunden sich an, beschnuppern mich, lassen ab. Schwarze, kniehohe Viecher. Wir smalltalken über das Wetter, das Dorf und das Woher und Wohin.
Graträsk, an einem See, hat vielleicht zwanzig Einwohner, sagt die Frau. Früher waren es mal mehr, da hatte das Dorf eine Blütezeit im Siebzehnten Jahrhundert etwa. Sie seien nur im Sommer hier.
Ich stelle mir den Winter vor, hier so knapp unter dem Polarkreis. Dann wird es doch kaum hell. Das was ich jetzt als Nacht erlebe, zwischen zehn Uhr abends und vier Uhr früh, ist ab Mitte Oktober der Tag. Sechs Stunden Licht. Puuh.
Die Kirche sei schön, sagte die Frau. In der Tat: ein hölzernes Etwas mit Holzschindeln gedeckt und separatem Glocken- naja, Turm kann man es nicht nennen, oft haben die Kirchen hier eine Art Gebälk neben dem Hauptgebäude, mal fünf Meter hoch, mal zehn, mit einem Dächlein drüber, unter dem die Glocke hängt.
Am See gibt es einen Badeplatz und dort, wo man die Boote hinein trailert, steht ein Quad mit Bootsanhänger.
Außer meinen beiden Leutchen, die mir das Wasser gaben und den beiden Hunden habe ich hier niemanden gesehen.
Ein Quad mit zwei Anhängern fuhr auch der nette Mann aus Glommersträsk, der mir sozusagen das Wochenende gerettet hat. Gemütlich und kunstversessen wie Monsieur Irgendlink nunmal ist, gondelt er nämlich vorhin rein in das Städtchen, das er von der Reise 1995 noch in lebhafter Erinnerung hat, ohne dabei auf die Uhr zu schauen, geschweige denn zu ahnen, dass heute Samstag ist.
Fabelhaft: die kleine, verrottete Tankstelle, die schon 1995 mein Aufsehen erregt hat und die schon 1995 so aussah, als sei sie seit zwanzig Jahren geschlossen, steht noch immer. Drei Zapfsäulen, auf denen der Benzinpreis noch in Öre, statt wie heutzutage in Kronen, ausgezeichnet ist, darüber ein Dächlein und ein elend verrostetes Metallschild, auf dem ‚Stängt‘, geschlossen, geschrieben steht. Heute wie damals. Als wären zwanzig Jahre ein Pappenstiel.
Die am längsten geschlossene Tankstelle der Welt, fabuliere ich flapsig und mache mich an meine Fotoarbeit. Ein paar HDR-Aufnahmen, gab es damals ja noch nicht, diese Doppelbelichtungstechnik, computergesteuert, dazu viele Details und Rost und abblätternde Farbe. Wer wohl hier als allerallerletztes getankt haben mag, wer die letzte Rechnung bezahlt haben mag, ob noch immer Benzin in den Tanks unter dem Betonboden ist?
Gut zehn Minuten, vielleicht länger verbringe ich so bei ‚meiner‘ Tankstelle. Als ich den Supermarkt erreiche ist es 13:07 Uhr, es brennt noch Licht. Die Tür ist abgesperrt. Verflixt, das Ding macht samstags um 13 Uhr zu. Und ich habe kaum noch Lebensmittel. Zumindest keine Leckereien mehr, weder Bier, noch Milch, noch Schokolade.
Mit einem traurigen, aber nicht verzweifelten Gefühl radele ich weiter. Ich kann noch zwei drei Tage ohne Einkauf weiter machen, das beruhigt. Reis und Couscous und ein paar Gewürze geben nahrhafte Abendessen. Und für tagsüber habe ich noch mindesten zehn Scheiben Brot, Butter und Honig.
Träumtest Du nicht von Köttbullern, Fleischklößchen, von Tomaten und Zucchinis, Zwiebeln und Feta, Schokolade so groß wie eine Solarzelle, Bier, dosenweise 3,5 prozentiges Bier …
Wo ist der nächste Laden, die nächste Stadt, frage ich einen Mann. Arvidsjaur 45 Kilometer, Skellefteå in die andere Richtung weit weg, aber in meine Richtung, rauf ins Outback, liegt Älvsbyn etwa 100 Kilometer weit entfernt.
Was brauchst Du?, fragt der Mann. Er sieht aus wie einem skurrilen französischen Film à la Delikatessen entsprungen. Zwei Brillen übereinander, schwarze Ränder um die Augen, als habe er unendlich staubige Arbeit verrichtet.
Komm mit! Und er nimmt mich quasi bei der Hand; mit seinem Quad fährt er neben mir her, 500 Meter weit bis zu seinem Haus, wo er den Kühlschrank öffnet und ich komme mir vor wie in der Schlussszene von Pulpfiction, als der Koffer geöffnet wird und strahlendes Licht heraus kommt, den ungläubigen Antagonisten blendet und er hinein starrt und fragt, ist es das, was ich denke?
Karotten, Zucchini, Tomaten, Bier, Milch, alles. Ein Paradies.
Ob ich wohl noch etwas Gemüse haben kann? Aber klar, nimm reichlich.
Der Mann erzählt von Schweden, von früher, dass sie drei Fremdsprachen lernten: Englisch, deutsch und französisch. Da er aus der Übung ist, reden wir englisch mit ein paar eingeflochtenen deutschen Brocken.
Richtung Älvsbyn/Pitea folge ich der alten Kapschnittstrecke, die wir schon 1995 radelten. Welch wunderbares Idyll. Zwar ist auch hier Offroadradeln angesagt, sprich, es gibt keine geteerte Straße, aber der Belag ist plattgefahren wie Beton. Letztenendes, sage ich mir beruhigend, war es nicht mein Fotowahnsinn, der mich den Supermarkt hat verpassen lassen, sondern dieses – auch 1995 schon – frisch geschotterte Stück Straße zwischen Mensträsk und Glommersträsk. Auf Frischschotterstrecken kann man selbst bergab kaum schneller als 15 km/h radeln.
In der Karte, die auch im Blog verlinkt ist, ist auch unser damaliges ‚Kraterlager‘ verzeichnet. Ich habe die Karte im iPhone gespeichert und navigiere – hier gibt es ja keine Sverigeledenschilder – per GPS, überlege, den Krater zu erreichen und eine nostalgische Nacht zu verbringen.
Windig war es damals wie jetzt. Strahlende Sonne und nachts saukalt. Wir waren ein-zwei Wochen später im Jahr hier, als ich es auf dieser Reise bin, und wir schürten ein riesiges Lagerfeuer, bei dem wir Bedenken hatten, dass es außer Kontrolle gerät.
Nun bin ich ein paar Kilometer vor dem Krater auf einer Art Parkbucht kaum dreißig Meter neben der Straße. Eine Hand voll Autos passierte seit gestern Abend.
Es war nicht leicht, die Zeltheringe in den Steinboden zu kriegen. Unten im Tal rauscht ein Bach.
Zufrieden bin ich. Zur Ruhe gekommen. Ich könnte hier bleiben. Oder weiter radeln. Daheim sein. Das alles nie getan, nie erlebt haben.
Ist das Frieden? Innerer Frieden?
Von einem der auszog, seinen Frieden zu finden.
Ich danke dir herzlich für deine Gedanken zum gestrigen Tag. Und ganz besonders dank ich dir, dass du auch deinen Frieden mit mir, mit uns teilst.
Gutes Weiterradeln, gutes Dasein. Was immer du tust.
ja, das klingt nach Frieden! Nichts über das du dir Sorgen machen musst, der volle Kühlschrank hat noch den letzten Rest an Hader getilft- schöne Geschichte!!!
liebe Grüsse
getilgt … wobei getilft auch fein klingt ;o)
:-)
Schokolade so groß wie eine Solarzelle – dafür liebe ich diesen Blog! Rainer und ich schicken Grüße von der anderen Seite der Ostsee
Von Zufriedenheit kann man nie genug haben. (Moment …)
Jedenfalls: wunderbare Bilderbeute!