Die Mitte. Der Punkt, an dem man von Anfang und Ende am Weitesten entfernt ist und der, wenn man sich weit hineindenkt in das Prinzip der Unendlichkeit, eigentlich gar nicht existiert.
Der utopischste Ort im Universum ist die Mitte.
Ungefähr auf halber Strecke zwischen Zweibrücken und Nordkap liegt mein heutiges Tagesziel. Falun. 2300 Kilometer sind es ab dort bis ans Kap, wenn ich bis Pajala dem Sverigeleden folge und ab dort auf einer von zwei möglichen, etwa gleichlangen Routen etwa 500 Kilometer weiter radele. Ungefähr 2200 Kilometer stehen auch auf dem Fahrradtacho.
Ich bin nie den geraden Weg gefahren, habe nie Abkürzungen genommen. Um der lieben Nerven willen. Abkürzungen bedeuten für den Radler fast immer Hauptverkehrsstraßen, Lärm, Dieselrußgestank und auch Gefahr.
Fünf Wochen fast nur auf Radwegen, in Deutschland sogar meist auf eigenen Radlerpisten entlang der Flüsse, in Schweden auf so ruhigen Autostraßen, dass man sie in Deutschland wohl wegen Unrentabilität nie gebaut hätte.
Das ist anders, als 1995, dieses ruhige Radeln ohne Vorankommenswunsch.
Wahrscheinlich wäre das 1995 schon möglich gewesen. Den Sverigeleden gab es damals auch schon. Im alten Tagebuch konnte ich Einträge finden, die belegen, dass wir ihm im Norden teilweise folgten. Wir wussten nur nicht, was die grünen Schilder bedeuten, wohin der Weg führt. Internet zum einfach mal fragen gab es ja nicht.
Die Mitte der Reise.
Nachdenklichkeit.Der Geist kommt fast zum Stillstand. Ich zerlege mich selbst. Das fühlt sich seltsam an. Es hat ein bisschen was von die-Macht-abgeben. Die Macht über dieses Konstrukt, wie man die – wie man seine – Welt sieht und erlebt. Fast wie die digital zerhackten Bilder, die man mit der App Decim8 erzeugen kann: ein Originalbild wird per Zufallsgenerator in Stücke gelegt und willkürlich wieder zusammengesetzt. Es entsteht etwas völlig Anderes, wenn man das Spiel weit genug treibt.
Ob man das mit sich selbst und mit dem – seinem – Welt-Erleben auch so machen kann? Denkmuster zersetzen und rekonfigurieren. Gefühlsmuster gar. Handlungsmuster.
Das Leben, eine Kombination willkürlich erzeugter Muster?
Da kommt mir Zeltplatznachbar Thorsten gerade recht. Seit Mai wandert er durch Schweden. Rucksack und Zelt. Skizziert eben beim Gespräch beim Frühstück etwas über Ebooks, die er gerade liest. Über den Duschtouristen, der kürzlich ganz früh, mit vor dem Waschhaus geparktem Auto und moderat leisem Radio alle Zeltleute wachspielte, und über das Dalai Lama-Buch vom eigentlich nicht vorhandenen Ich, hangelten wir uns zu Überlegungen, warum wir uns überhaupt über irgendwas ärgern oder freuen, wenn es uns als Ich doch nur in einem willkürlich, über Jahre der Gewohnheit zusammengeschusterten Muster gibt, das wir für unser Ich halten.
Seit Tagen schon beschäftigt mich das Ich-Thema auf ganz anderer Ebene, bzw. auf der gleichen, wie eben beschrieben, nur weiß ich es vielleicht nicht? Wer bin ich, radelnd zum Nordkap? Wer ist dieser Irgendlink, den ich schuf und in wie weit ist Irgendlink ich und ich Irgendlink? Wo ist die Grenze? Wo die Schnittmenge? Wer sind die, die diese Texte lesen und die sich für sich halten, und mich für mich und wenn ich mir nun die Umgebung anschaue, hier auf dem Campingplatz, zwanzig Meter weiter packt Thorsten sein Zelt, wird er nicht erst dadurch ‚er‘, dass ich seine ‚Einzelteile‘ so zusammensetze, wie es mir beliebt? Und SoSo, direkt neben mir, im Schneidersitz auf der Isomatte, sie hat sich ein anderes Muster von ihm gebaut, eins, das ihrem Denk- und Fühlgefüge gehorcht.
Die gesamte Situation hier, Mensch sitzt bei Kaffee auf Zeltplatz in Schweden auf einer Isomatte und tippt seine Gedanken in die winzige Smartphonetastatur ist ja schon ein Bild, das vielfach zerlegt werden könnte und neu zusammengesetzt.
Wenn es wenigstens eine absolute Mitte gäbe, nach der zu suchen es sich lohnte.
Hat bei Goethe mit der Urpflanze schon nicht geklappt. [Und übrigens setzt du dich doch mit jedem neuen Erlebnis, jeder neuen Erfahrung neu zusammen.]
Da hast Du Recht. Neu zusammensetzen ist jeden Morgen.
Ja … da kann ich nichts zu sagen außer Danke!
In meiner Meditation heißt es: Die Mitte, der eigene Körper, aus dem alles Gute kommt …
Ohne Deine Augen und Deinen Geist, wäre die Wahrnehmung nicht möglich, fühle sie …
Mit liebem Gruß auf den Weg
Gerelca
Danke liebe Gerelca.
Wir sind Natur, wo alles immer im Werden ist, auch das Ich. Es wächst immerzu, im Körper vielleicht schon zum Ende zu, aber im Geist und im Herzen (Seele) zunehmend, weil wach und aufnehmend, wie Du auf Deinen Reisen.
Das ist doch ein lohnender Aspekt, I think.
das sind hochphilosophische Themen, die du hier anschneidest, lieber Irgendlink, und ich möchte ja sagen, tatsächlich ist doch dieses Ich immer nur soweit Ich, wie ich mich darstelle, zeige oder empfinde- das emsite kann zerlegt oder gar ad acta gelegt werden, wenn man will- und doch scheint es einen Kern zu geben, einen Ur-Jürgen, eine Ur-Ulli sozusagen … aber vieles von dem, was wir meinen, dass es fest sei, dient nur der Sicherheit-
wie ich schon schrieb: ein hochphilosophische Themen, das für viele Stunden am Feuer gut wäre … es ist ein so grosses Thema, das ich schon Momente hatte, da wurde mir richtig schwindelig!
das hat mir jetzt gefallen, danke dir und herzliche Grüsse an dich und Soso
Ulli
Die Ur-Ulli und der Ur-Jürgen sollten sich mal zusammensetzen. Also am Lagerfeuer.
Kann ein Ich nicht nur mit dem Du funktionieren?
Wo kein Du ist, ist auch ein Ich nicht nötig, oder?
Zerlegen um nachzuschauen, ob alles funktioniert, ist doch sorgsame Wartung. :-)
Nachdenkliche Grüße in die Mitte,
Szintilla
Ich sehe das Ich wie ein Facettenhaufen. Je nachdem, was gerade angestrahlt wird, funkelt etwas. Es funkelt aber nie alles, und nie nichts. Was bei dir gerade aufleuchtet, kann man wahrscheinlich nur nachvollziehen, wenn man längere Zeit aus dem Normalleben ausgestiegen ist. Ich von hier aus stelle nur fest: Es funkelt aus großer Tiefe!
Vielleicht haben wir unser Mitten-Ich in vielen Rollen verpackt? „Der Radfahrer“, „die Lehrerin“, „die Behutsame“, „der Schreibende“.
Und eigentlich sind wir nichts davon.
Wer wärest du, wenn du plötzlich so krank wärest, dass du nichts mehr von dem tun könntest, was dich – wie du jetzt meinst – ausmachst? Harte Frage. Ist mir mal gestellt worden. Seither trage ich diese Frage in mir herum. Auf der Suche nach einer Alternative zu der – auf die Zunge springenden – Antwort: „Dann wäre ich nicht mehr ich.“ — Ich glaube, ich würde dann immer noch gern „ich“ sein. Muss herausfinden, was „ich“ eigentlich ist. Inmitten meines arrangierten Alltagslebens schwierig. Deswegen setzen deine App-Zerlegungen hier wahre Gedankenzerlegungen in Bewegung …
Habe ich das nicht oben irgendwo gelesen: wirkliche Lagerfeuerfragen. Ohne Hoffnung auf Weltantworten, freilich.
Seid ganz lieb gegrüßt, ihr zerbilderten Ichs,
Uta
So gut, daß ich es heute im Buchfink hatte. Audiofile geht euch nächstens zu.
Falls du es auf deine Soundcloud laden magst, wäre das super. Dann könnte man es am einfachsten hier linken. Ginge das? Aber ohne Stress bitte!
Ja, so ist es gedacht. Nur war das etwas zuviel Arbeit für gestern Abend — deshalb tu ichs erst heute.
Danke!!!
Danke lieber Emil. Vorhin dachte ich noch über Glück nach und Arbeit und dass sie auch glücklich machen kann, wenn sie eine erfüllende Aufgabe ist. Bei Dir und dem Sender habe ich den Eindruck, dass dem so ist. Ihr passt zueinander sozusagen. Liebgrüß
Vielen Dank. Ja, wir passen — aber ich muß viel besser auf mich aufpassen, weil ich selbstausbeiterisch werde bei Arbeiten, die Spaß machen ….
Hab ja bald Gelegenheit, es auszuprobieren ;-)