Motala – es ist nicht wie du denkst, es ist wie du es denken willst #AnsKap

Motala, komm‘ mir nicht mit Motala! Verfluchst du diese Stadt, tapferer Reiserecke? Hat sie das verdient? Hat überhaupt irgendwer oder irgendwas auf der Welt es verdient, dass man ein abschließendes Urteil über ihn oder über es spricht, dass man ein großes Gesamtes wie zum Beispiel eine Stadt, ein Land, ein Volk zusammenfasst in einem kurzen Satz: die Soundso sind soundso. Alle! Durchweg! Durch die Bank! Motala am Ausgang des Götakanals am schwedischen Vätternsee ist soundso?

Zehn Kilometer südwestlich der Stadt überqueren zwei Brücken im Abstand von etwa hundert Metern die Straße und bilden eine kleine graue Arena. Mit ein wenig Phantasie könnte man sich Jubelvolk an den Geländern der Brücke vorstellen oder eine Webkamera, die aufzeichnet, wie monströse Amischlitten und Motorräder unten auf der Straße hin und her jaulen und dabei Reifenspuren hinterlassen. Kreise ziehen und Schlangenlinien.

In Schweden findet man diese Gummispuren auf den Straßen ziemlich oft. Meist sind es hunderte Meter lange Schlangenlinien, die auf blockierte Bremsen an landwirtschaftlichen Anhängern zurückzuführen sind. Der Traktorfahrer versucht mittels kurviger Fahrt die Bremse, die sich nach dem Entladen des Anhängers nicht mehr öffnet, zu entblocken.

Manchmal sind die Spuren aber gekünstelt, Kreisrund etwa wie wenn ein Motorrad mit angezogener Vorderbremse im Kreis jagt.

Ein Volvo mit kaputtem Auspuff jagt an uns vorbei. Das tut weh nach stundenlanger Stille in den Wäldern. Das war Absicht, unterstelle ich ihm. Just, als er auf unserer Höhe ist, tritt er nochmal ordentlich drauf aufs Gaspedal.

Derart vollgepumpt mit Negativeinflüssen, radeln wir rein in die Stadt, man könnte sagen, mit einem Vorurteil im Huckepack.

Ray will auf den Zeltplatz, mal wieder duschen. Wie lange waren wir jetzt wildzeltend unterwegs? Vier Tage?

Der Platz liegt hinter einem Mac Donalds, nicht sehr schön. In der Mitte ein Sportplatz, außenrum die Zelte. Hochsaisonbedingt recht voll. Nervige Typen um 23 Uhr noch einmal alle wach quatschend, das Badhaus in einem Container – ich hatte das glaube ich schon erwähnt – nicht sehr appetitlich riechend aber halbwegs sauber. Kurzum. See statt Dusche wäre fast schöner gewesen.

Die anfänglich schrullige Miss Marple an der Rezeption erweist sich am nächsten Morgen als noch mürrischer, ich würde sagen unfreundlich. 220 Kronen knöpfts sie uns pro Person gnadenlos ab. Erwähne bloß nie, dass du zwei Zelte hast, wenn du auf einem schwedischen Campingplatz unterkommst. Es wird in der Regel pro Platz abgerechnet. Ein Auto, ein Wohnwagen mit Vorzelt samt fünfköpfiger Familie und Hund kostet genauso viel wie du mit deinem Radel und dem Einmannzelt.

Raus aus Motala murmele ich mantrisch, mich über den Preis ärgernd, die gesamte Stadt über einen Kamm scherend.

Auf einer zweiten Spur des Bewusstseins läuft dabei gleichzeitig so eine Art es ist nicht wie du denkst-Formel, es ist wie du es denken willst. Die Stadt ist neutral betrachtet eine Stadt wie jede andere schwedische Stadt auch, aber der sie reflektierende fremde Betrachter kehrt die negativen Erlebnisse nach vorne – nicht nur hier im Blog für Euch liebe Lesenden, sondern so geschickt, dass er es selbst nicht bemerkt auch in seinem Innern, sich selbst gegenüber.

War es nicht wunderbar friedlich im Abendsonnenlicht durch die Stadt zu radeln, die Restaurants auf den Straßen voller murmelnder Menschen und die gemächliche Stille des Bahnhofs und die wuchtige, knallrote Brücke, die den Götakanal überspannt und die vier grillenden Jugendlichen, die uns mit Händen und Füßen den Weg zum Campingplatz erklärten? 

Dem gegenüber steht eine Phalanx neureicher Reihenbauten, vernagelter Gärten, angeführt von einer imaginären Miss Marple im Hercules Poirot Pelz, skurriles Lärmvolk und allwedes Negatives.

Zwanzig Kilometer jenseits der Stadt macht Ray telefonisch seinen Rückfahrtbus nach Kopenhagen klar, während ich zwei Rennradlern aus Motala mein Werkzeug ausleihe, Frieden schließe zwischen Tür und Angel. Wir kommen ins Gespräch über dies und das, das Wetter könnte besser sein und ja, im Duchschnitt radeln wir etwa 14 Kilometer pro Stunde, ans Nodkap geht die Reise, irgendwann und genieß

ße den Sonntag, genieße das Leben.

Belanglos neutral, unwertbar.

8 Antworten auf „Motala – es ist nicht wie du denkst, es ist wie du es denken willst #AnsKap“

  1. Lieber Jürgen,
    Dank für deine Postkarte, was für eine Überraschung! :-) Du schreibst, dass du dich ein wenig vor Lappland fürchtest. Ich lebte dort ja ein Jahr lang und außer den Mücken hat es mir dort prima gefallen. Aber ich war immer mit dem Auto unterwegs oder bisweilen mit dem Rentierschlitten oder Lauglaufski im Winter. Da sieht die Welt dann schon anders aus.
    Dann viel Glück und fein durchhalten.
    Liebe Grüße vom kleinen Dorf am großen Meer
    Klausbernd und die liebklugen Buchfeen Siri und Selma

    1. Lieber Klausbernd. Über Mücken erzählte mir mein Freund Inox, der Insektenforscher, dass man sich an die Stiche gewöhnt und es irgendwann nicht mehr so weh tut. Die Erfahrung mache ich gerade hier im Süden. Ich fürchte jedoch, in Lappland gelten andere Gesetze. Insgeheim hoffe ich auf ein klares, windarmes Beinahefrostwetter in den letzten beiden Augustwochen, um mich durch die Hintertür ans Kap zu schleichen. Die Nordseerunde hat mich zum Glück Überleben in unabsehbar langen Regenphasen gelehrt.
      Wo hattest Du eigentlich gelebt in Lappland? Oder warst Du gar nomadisch unterwegs?

  2. fein geschrieben – da war ich kurz bei Euch im hässlich-schön-freundlich-mürrischem Motala.

    Wünsche Dir ein gutes Weiterkommen, insgesamt freundlicheres Wetter – [wobei für die Fotos, Tweets und Texte das bisherige Wetter ganz und gar nicht schädlich waren!] – und wenn ich es beim Überfliegen der vorhergagangenen Abschnitte richtig verstanden habe: Eine gute Zeit mit Soso!
    Hier hat die Strecke seit Tagen so einen ganz leichten Anstieg, so einen, den man nicht sieht, und nicht versteht, warum das Vorankommen so schwer ist. Vielleicht hilft es einen kleinen Berg zu bauen, der die Anstrengung sichtbar macht und die Belohnung danach. Die Aussicht aufs Rollen-Lassen gibt dann schon wieder Schwung. Schwung wünsche ich nun Dir.

    Liebe Wünsche!
    die he

    1. Ich walze Deine Anstiege platt. Bzw. kippe die Ebene. Aber Du hast recht, diese Mansiehtnichtworanmanists sind die schlimmsten. Du denkst ständig, es müssze doch vorangehen, seis nun tatsächlich radelnd oder im übertragenen Sinn, aber es will und will nicht. Da hilft eigentlich nur die Demut des Nichtwollens.

  3. ein Klassebeispiel wie ein nichtschöner Campingplatz mit Duschcontainer und Mürrischfrau gleich die ganze Stadt in den Sack steckt … aber nun, wieso soll es nicht auch in Schweden Hässlichkeiten geben? Und irgendwo müssen sich ja auch die Krimis abspielen, die wir so gerne lesen ;)

    aber nu ist das ja auch schon wieder Geschichte und weiter radelt er, der Herr Irgendlink dem Norden entgegen, hin zu den Riesenmücken und dem Schmuddelwetter, grins … es kann sooo herrlich dort oben sein und Bären hats auch, neben Rentieren und Elchen und Moosbeeren (selten etwas schöneres gesehen) und Moose überhaupt und Flechten und Pilze und Trolle und so … ich liebe ja Lappland, trotz der sirrenden Nervtöter- hach, allein wenn ich an den Kalix denke, seufze ich und lächel dir zu-
    herzlichst Ulli

  4. Pauschalisieren ist immer fatal, denn es stimmt einfach nie. :-)

    Vielen lieben Dank für die tolle Karte, die heute ankam.
    Morgen gibt es dazu einen Blogpost bei mir. :-)

    Liebe Grüße aus NRW in den Norden,
    Szintilla

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