Es geht mir gut hier draußen. Wirklich gut. Vergesst das miese Wetter und die Radelstrapazen, das ewige schwedische Auf und Ab in einem unbarmherzigen Sägezahnprofil mal für einen Moment. ‚Innen‘ ist alles bestens. Und wenn es mit dem Innenleben stimmt, dann ist alles Äußere unwichtig. Dann darf man tagelang eingeregnet sein, die Klamotten verschwitzt, Füße und Hände klamm und die Zukunft, wenn man dieses Denken in nur wenigen Stundeneinheitenmal so nennen darf, die Zukunft kann getrost ungewiss sein.
Denn man hat sein Ziel erreicht: Gegenwärtigkeit. Ein Zustand friedvollen Insichruhens.
Gift. Ich komme nicht umhin, das Zusammenleben im herkömmlichen Alltag, zu Hause, im Job, auch in der Freizeit und im Hobby, als eine Art Gift zu sehen. Kein tödliches Gift. Eher so eine Art Droge wie etwa Alkohol. Man nimmt es ständig zu sich und es wirkt und diese Wirkung zeigt Symptome. Innere Unruhe, Unbestimmtheit, Angst, Hatz, Sorge, wie seh‘ ich heute aus? Darf ich das so und so? Was wird dieser oder jener denken? Kriege ich den Job? Streichen sie mir die Leistungen? Auch die virtuelle Welt fehlt hier draußen. Auch sie ist ein Krankmacher. Die Welt der Nachrichten und prügelt zu Hause tagtäglich auf dich ein und du stehst alleine im Informationsdjungel und musst zu allem und jedem eine Meinung entwickeln. Was ist mit den Griechen? Dem Islam? Den Aktienmärkten? Der Freihandeln?
Alles Dinge, von denen man als normaler Mensch keine oder kaum Ahnung hat, zu denen man sich aber unweigerlich eine Meinung bildet und sich dann im Netz, in sozialen Medien oder in Foren gegeneinander aufreibt.
Die meisten Meinungen und Gegenmeinungen, die in Kommentardiskussionen oft unter aller Würde geführt werden wie Krieg, fußen auf Nichtwissen. Auf Vermutungrn. Auf Glauben und auf dem Wiederspiegeln der Meinungen anderer, die man sich unbewusst überstreift.
Hier ‚draußen‘. Was weiß ich wirklich?
Dass dort Norden ist und da Süden. Von da komme ich. Dort will ich hin. Ich erinnere mich, vor der Reise einige Gesundheitschecks gemacht zu haben, weil sich der Körper marod anfühlte. Die Knochen. Kopfweh. Verspannung. Morgendliche Unruhe bis hin zu Herzrhythmusstörungen. Diese Rumpeln im Brustkorb war am zweiten Reisetag verschwunden wie alles andere auch.
Was ist hier draußen anders, als da drinnen im Kerngehäuse der Gesellschaft?
Das Webgift ist weg. Die Alltagsbanalitäten, die das Menschsein so mit sich bringen fehlen. Keine Formalitäten.
Konzentration auf das Wesentliche. Essen, schlafen, vorankommen.
Es war nicht leicht, mich drei Monate loszureißen und aus dem Alltagsleben auszusteigen. Diesmal war die Hürde besonders hoch. Den schönen Garten nicht wachsen zu sehen. Das Künstleratelier zurückzulassen, die Lieben nicht in ihrem Alltagsleben unterstützen zu können. Beinahe hätte ich es nicht geschafft.
Mit zunehmendem Alter wird es immer schwieriger, sich loszueisen. Das ist meine Erfahrung. Ich weiß nicht, ob sie allgemein gilt.
Handele jetzt.
Warum geht es mir hier und jetzt, draußen, gut und dort damals, drinnen, nicht? Das ist die Frage, die in mir brennt.
Und wie kann ich das, was ich hier und jetzt habe, was mir da drinnen offenbar fehlt, retten und mitnehmen?
Machst mich grad sehr nachdenklich, Herr Irgendlink …
:-) ich hoffe nicht negativ nachdenklich grübelnd.
Oh nein, nicht negativ!
Der Pilgerflow, den ich letztes Jahr ähnlich kennenlernen durfte. Ja, genau. Danke dir fürs Augenöffnen, mal wieder, und ich hoffe, dass du diesen Frieden in deinen Alltag retten kannst.
Danke!
Irgendwas blribt schon hängen. Und wenn es nur ein pasr tolle Erinnerungen sind.
Etwas in den Alltag retten, mir ist das nicht gelungen, vielleicht, weil ich zunächst mal den Begriff Alltag hätte streichen oder zumindest umdeuten sollen. Alltag ist Alltag ist Alltag, bietet kaum Platz für losgelöste Momente, ist ein Begriff, den sich wohl auch die Lohnsklaventreiber ausgedacht haben, die geben ja in weiten Bereichen unsere Sprache vor.
Ich glaube, das geht auch nicht. Habs ja schon öfter probiert. Bin gespannt, ob das Loch, in das ich für gewöhnlich nach solchen Reisen stürze genauso tief ist wie früher.
Danke lieber Jürgen für Dein Dich mit-teilen. Deine Gedanken sprechen mir aus dem Herzen. Die Kunst des Alltags-Leben will gelebt werden, jeden Tag aufs Neue.
das ist eine der Fragen, die sich immer wieder stellen, aber Alltag ist vielleicht Alltag und Reisen sind Ausnahmezeiten mit Ausnahmezuständen, trotzdem wäre es noch schön etwas mehr in die Alletage hineinzuretten, das wünsche ich dir (und mir und allen anderen gleich mit)!
herzlichst
Ulli
Ich heule gerade und das ist gut so.
Das Rumpeln in der Seele, im Körper, im Geist.
Ein ganz großes Thema.
Sind wir nicht alle hoffnungsvoll Suchende?
Schreibe darüber. Mehr. Ganz viel. Ich glaube, ich bin nicht die einzige, die danach lechzt.
Eine leise Träne ist gerade unterwegs nach Norden, da, die Wolke mit dem Sternschleier. Siehst du sie?
Heut steht die Chance echt gut für Sternschleierwolken. Danke liebe Ele. Liebgrüß aus dem Sonnenuntergang.
Lieber Juergen,
es ist schoen, dass Du auf Deiner Radtour – auf Deinen „Trip“ im besten Sinne des Wortes – die Seele baumeln lassen kannst. Weiterhin gute Reise,
Pit
Ich glaube es geht, dieses Mitnehmen in den Alltag. In kurzen Augenblicken habe ich es erlebt, hat es in mir weitergelebt, hat es mich weitergetragen, dies Reiseleben. (Meine Reisen waren oft auch Schweige- und Sitzreisen.) Kurze Augenblicke nur? Das klingt wenig. Aber man kann sie groß denken, diese kurzen Momente. Dann werden sie – zumindest ein bisschen – größer.
Na gut, und dann kommen wieder die Tage, an denen alles vergessen und verloren scheint. Wofür braucht es die? Ich weiß nicht. Möglicherweise zum Gewahrwerden, dass ich genau SO nicht leben möchte. So nämlich, dass der sogenannte Alltag immer nur Duchgangszustand ist, bis endlich wieder das „wirklich gute“ Leben auf der nächsten Reise kommt. Damit werden die Alltage zu unliebsamen nichtgewollten Zwischenzeiten … das fühlt sich irgendwie nicht richtig an. Und doch so schwer, so schwer, ein lebenslanges Übefeld …
Wenn dein inneres Hellsein äußeren Regen, Klammheit und Fahrtstrapazen überstrahlen kann – dann müsste es doch mit Steuererklärungen, Chefungerechtigkeiten und sonstigen Alltagsbanalitäten ebenso gehen?
Wirklich scheint mir manchmal nur, dass ich morgens meine Hand auf die Klinke lege, barfuß ins Gras hinaustrete und dem Morgen zuhöre … diese Art Wirklichkeit verschenkt sich in jedem Augenblick … (Nun ja, wenn ich nicht gerade blind umhertrotte.)
Ich wünsche Euch eine Wunderbarbegegnung morgen, seid gut gemeinsam unterwegs,
Uta
Ich danke dir herzlichst!
Und ja: ich wünsche es mir auch, dass der Alltag ganz zu mir gehört. Und mir gut tut.
Danke liebe Frau Rebis. Ich glaube ja auch, dass sich das ändern lässt. Es ist ja schon besser geworden seit 2012.
Achach. Das kenne ich, von meinen kurzen Hüpfern ins Wanderleben. Wenn man den Alltag mit diesen kurzen Hüpfern kombiniert, daß nichts davon zu kurz kommt, finde ich es sehr erträglich. Aber ja, man ist zwei Menschen, einer mit festem Wohnsitz und Sicher- und Gewohnheiten und ein fahrender Geselle voller Freiheitsdrang.
So ists. Und gut ists, wenn man diesen Brückenschlag irgendwie hinkriegt.