Im Pleistozän der Erinnerungen

Sedimente. Wo man nur hinschaut finden sich Sedimente. Schicht-um-Schicht abgelagerte Irgendwase. Zum Beispiel in den Fahrradpacktaschen.Ich suche das Handtuch. Es liegt im Äon des Waschens. Die frischen Socken im Pleistozän der Abreise.

Auch im Kopf bilden sich Sedimente. Reisetag legt sich auf Reisetag und unter der hohen Wichte des Erlebten werden die unteren Schichten heiß und druckvoll wie Kohle zu Rohdiamanten gepresst.

Die Aufgabe des Reisekünstlers ist, sie zu fördern, sie zu schleifen, sie in Gold zu fassen.

Das DDR-Museum in Gräfenroda kommt mir gerade recht. Wann war das? Vorgestern? Ich rolle von Oberhof vier fünf Kilometer abwärts. Ein Mann mit Dackel hatte mir den Weg abseits der Bundesstraße erklärt.

Im kilometerlangen ca. 4000 Seelendorf Gräfenroda wäre ich beinahe vorbeigerast an dem Museum. Die Fassade, zwei Schaufenster der ehemaligen Schlecker-Filiale, ist nicht sehr einladend. DIN A4 große Buchstaben kleben ausgedruckt hinter dem Fenster. Dahinter auf den ersten Blick nur Krempel. Wie im Brockenhaus. Puppen, Taschen, Tassen, Wimpel, Möbel.

Die Neugier ist geweckt. Hinter mir droht ohnehin ein Regenschauer.

Öffnungszeiten samstags und sonntags, aber man dürfe gerne klingeln außerhalb dieser Zeiten.

Frau Geisler öffnet die ramponierte, vielfach aufbruchversuchte Tür. Das war damals, zu Schlecker-Drogerie-Zeiten, das mit den Einbrüchen. Hier. Mitten im Dorf.

Eine gute Stunde führt sie mich durch das Museum voller Regale, Schränke, Kisten, Kleinodien. Die Ausstellung erschließt sich erst mit der Führung. Was aussieht wie ein Sammelsurium, hat in Wahrheit ein schlüssiges Konzept. Themenwände mit Spielzeug, daneben Küche und Wohnen in der DDR. Viele Produkte stammen aus der Region, aus Firmen, die es längst nicht mehr gibt, die vom Gletscher des Kapitalismus schlichtweg überfahren wurden. Kleingerieben liegen ihre Überreste in Form von Fabrikruinen verteilt in den Dörfern und Städten. Nicht zu vergessen all die Existenzen, die entwurzelt im einen System, im anderen System nie wieder Fuß fassen konnten.

Auf Post-Its, die improvisiert an den Gegenständen kleben, erhält man handgeschrieben weitere Infos. Anfänglich drängte es mich förmlich, mir selbst zu liebe innerlich Ordnung zu schaffen. Ein gedrucktes Banner muss über den Eingang oder noch besser, eine Aludibond Tafel. Webadresse. Professioneller. Westlicher. Kapitalistischer.

Aber dann wurde mir klar, es ist genau richtig wie es ist. Improvisiert. Herzlich. Voller Wärme.

Die Warteliste fürs Auto, die weit nach 1989 einen neuen Trabi verspricht ebenso wie die Neugeborenenwaage, die klobigen Telefone, den nie benutzten Bettbezug, dessen Originalpreis, über hundert Mark, noch auf der Verpackung zu sehen ist.

Von einer Welt, in der die Dinge hochpreisig und oft auch gut waren, sedimentieren wir mehr und mehr in eine Welt des Drecksbilligen. Eine Überflusswelt ohne Sinn für den Wert einer Arbeit oder einer menschlichen Leistung. Wir vergütern uns selbst?

Schnitt.

Artern. Gestern. Die Stadt ist vielleicht nicht schön, voelleicht auch doch. Sie erwischt mich auf dem falschen Fuß. Den ganzen Morgen drückt die graue Wolkendecke aufs Gemüt. Obwohl es nicht regnet und auch nicht nach Regen aussieht und es mit 13 Grad halbwegs warm ist und ich Rückenwind habe, der Gemütsdruck ist da.

Ratlos sitze ich vor einer Tankstelle auf dem Bordstein. Eine Straßenbaustellenampel reguliert alternierend stoßweise den Verkehr.

Wie Datenpakete im Internet, nur in Mensch.

Ein alter Mann mit Rollator kommt aus dem Tankstellenshop, setzt sich auf die Ablage des Rollators, öffnet eine Schnapsflasche grünen Etwas‘, nimmt einen Zug, beobachtet die Baustelle so wie ich, beobachtet mich. Woher, wohin, wir kommen ins Gespräch.

Er komme aus Berlin, gestikuliert er mit dem tätowierten Arm, da, die Richtung. Aber es lief einiges schief im Leben. Mit dem DDR System sei er einst angeeckt, erhielt Berlinverbot für fünf Jahre. Hier her habe man ihn verbannt. Entwurzelt. Im Knast war er auch. Ich erfahre nicht warum. Es spielt auch keine Rolle. Das alles ist lange her. Fast siebzig sei er, das Leben ist vorbei. Nicht alles war gut in der DDR.

Er nimmt einen Zug von dem giftgrünen Zeug.

Die Sonne durchbricht das Himmelsgrau.  

Tag 10 | Die Strecke

To meet or not to meet? Eigentlich hätten sich Irgendlink und der Emil ja gestern schon getroffen, haben es aber auf heute verschoben und nun wird es also morgen.

Aus den plus/minus 5 Stunden Sich-Treffen-Genauigkeit in Mainz, sind nun plus/minus ein oder zwei Tage geworden. Das ist das Leben auf der Straße. Entschleunigung.

„Chum i hüt ned, chum i morn!“, sagt man bei uns in der Schweiz. Ich vermute, dass ich das für einmal nicht übersetzen muss.

Irgendlink hat sich voller Hoffnung auf WLAN und Dusche dem Campingplatz Herrmannseck – 40 km vor Halle, 50 oder 60 km vor Könnern – genähert.

Und nun? Zeltplatz zu.

Aber … er hat eine Türklinke gefunden. Sie passt an die Türe zur Dusche. Aus seinen kryptischen Kurznachrichten und der freudigen Antwort „Yesss!“ auf meine Frage: „Kannst du duschen?!“ schließe ich, dass er heute mal wieder seine Seife auspacken wird. :-)

Aber nun der Link zur heutigen Strecke: hier → klicken!

Tausend Kilometer nass und kalt, so will es die Erinnerung

1985

Das Bandsägeblatt ist nur ein zwei Meter von seinem Kopf entfernt. Fuß an Fuß liegen wir auf dem Sägegatter. Mein Vater hat sich glücklicher Weise erbarmt, näher an dem gefährlich blitzenden scharfen Ding zu liegen. Dort hinten ist der Drehstromschalter. Wenn man ihn umlegt, setzt sich die Maschinerie in Bewegung und falls wir dann nicht rechtzeitig wach werden, wars das mit uns.

Seit Tagen radeln wir im Regen. Zuerst das Alsenztal hinauf über die B48 nach Hochspeyer bis in den Pfälzer Wald, runter an die Queich, durch die Südpfalz den Rhein entlang. Vobei an der Pferderennbahn Iffezheim und durchs mondäne Baden Baden.

In Alpirsbach haben wir uns eine Brauereibesichtigung erbettelt. Gerade ging Starkregen nieder. Eine geführte Gruppe von Mercedes Benz hatte nichts dagegen, dass wir mitkommen. Nur wenn später der Umtrunk ist, sollen wir uns absondern, sagte der Pförtner.

Wir waren die ersten im Gastraum. Stühle und Tischsets waren abgezählt, aber man machte nicht viel Aufhebens und legte die fehlenden Gedecke nach. Nur mit dem Biernachschenken wollte es an unserem Tisch nicht klappen.

Typisches 17ter-Junie-Wochen-Wetter (der 17. Juni war zu Zeiten des Kalten Kriegs der BRD Nationalfeiertag, wenn ich das frech so sagen darf). Siebzehnter-Juni-Wochen-Wetter also. Regnerisch, kühl. So dass wir jede Gelegenheit nutzten, irgendwo trocken zu schlafen. In Holzschuppen, unter Anhängern, in Neubauten, spät aus der Kneipe gekommen unterm Vordach zum Eingang und nun eben in diesem Sägewerk ganz in der Nähe einer Skisprungschanze. Das Tor stand sperrangelweit auf. Wenn die morgen den Schalter umlegen, müssen wir echt aufpassen, sag ich zu meinem Papa.

Bis dahin sind wir längst weg.

Die Nächte waren kurz auf diesen Reisen. Nässe und Kälte trieben uns zurück auf die Straße.

Warum ich das erzähle?

Weil mich die jetzige Reise, daran erinnert.

Genau das Wetter wie ich es gerade erlebe, hatten wir mitte der 1980er Jahre auf unseren Bodenseetouren. Fünf oder sechs Mal hatten wir die Reise gemacht, mein Papa und ich. Neun Tage. Tausend Kilometer nass und kalt, so will es die Erinnerung.

Ohne diese Bodenseereisen wäre ich heute gewiss nicht hier – just im Moment – in Etzleben am Unstrutradweg.

Neun Ziegen grasen vor mir. Ein Hahn kräht. Die ewig graue Wolkendecke macht mich seit heute Morgen ganz kirre.

Tag 9 | Die Tagesstrecke

Den Link zur heutigen Ungefähr-Strecke gibt es hier → klicken.

„Wie war dein Tag, Liebling?“
„Liest du denn meine Tweets nicht?“ :-)

Zur Höhe des Gebirgs #AnsKap

Jede Reise hat ihren höchsten Punkt, ihren düstersten Moment, ihren am weitesten vom Meer entfernten Ort, ihr witzigstes, peinlichstes, angenehmstes und unangenehmstes Erlebnis.Wann das alles ist, wissen wir im Voraus nicht. Und hinterher interessiert es und nicht mehr. Es ist pure Statistik. Der Umgang mit Extremen nivelliert sich in der Ungewissheit der Zukunft und er relativiert sich in der Schemenhaftigkeit unserer Erinnerung.

Ich sitze ganz schön in der Scheiße. Seit gestern Nachmittag regnet es ununterbrochen. Es ist lausig kalt. Wenn ich nicht so viel Reiseerfahrung hätte, hätte ich spätestens unter dem Vordächlein zur Martin Luther Grundschule in Zella-Mehlis aufgegeben. Auf zum nächsten Bahnhof, laut ‚Hilfeee Mamaaa‘ schreiend. Und ab nach Hause in die eigenen vier Wände.

Der Kokon ist weit weg.

Ich tippe ein paar Tweets unter dem Vordächlein. Es liegt direkt am Radweg nach Oberhof. Körper ist verschwitzt, Hände klamm, das Spiel der Regentropfen in den Pfützen. Keine Menschenseele zu sehen, 18 Uhr. Wer traut sich auch bei dem Sauwetter raus auf die Straße?

In voller Regenmontur ächze ich hinaus aus der Stadt Richtung Oberhof. Froh, dass es eine dritter- bis fünfter-Gang Steigung ist. Das gibt warm. Unter dem Goretex trocknet sogar das T-Shirt, fühlt sich zumindest so an.

Vor zwanzig Jahren ächzte ich die Bundesstraße gleich nebenan hinauf, die zweispurig aufwärts, einspurig abwärts führt.

Oberhof dürfte fast der höchste Punkt meiner Reise sein. Wieviele Meter? Oben werde ich es erfahren. Da steht eine Steinsäule mit einer Inschrift, in der die Worte ‚Zur Höhe des Gebirgs‘ vorkommen. Stand zumindest von zwanzig Jahren da.

Bis kurz hinter dem Bahnhof Oberhof, der drei Kilometer außerhalb des Dorfs liegt schwitze ich aufwärts, vorbei an einem Hotel und an einzelnen Häusern.

Ein verlassenes Waldrestaurant mit viel Müll vor der Tür ist Zeuge geplatzter Menschenträume. Die Insolvenz am Wegesrand. Ich glaube, das Tal heißt Laubachtal oder so ähnlich.

Hinter dem Bahnhof türmt sich ein Betonkoloss. Ein gigantisches, sechs Meter hohes Portal, vergittert. Edelstahlröhren inside. Da kann man das Rauschen der – ich glaube – A71 hören, die unten durch den Berg fließt. Vögel nisten hinter den Gittern im Bergschlund. Vornedran könnte ich übernachten. Trocken und geteert. Zerbrochene Bierflaschen liegen da und Kippen. In meinem Kopf bastele rich einen Ort, an dem sich nachts die Jugend der Umgebung trifft, um Party zu feiern. Kein guter Platz.

Auch drüben unter einem Baum gefällt es mir nicht. Der Platz liegt in der Außenseite einer Kurve der Bahnhofstraße. Da leuchten die Scheinwerfer ins Zelt, falls jemand vorbei fährt.

Bleibt nur weiterfahren oder …

… das Dach der Tunnellüftung ist etwa dreißig Meter breit, scheint flach zu sein und wegen der Röhren, die aus der Betonballustrade ragen, mutmaße ich, dass es begrünt ist.

Als ich das Rad hinaufgeschoben habe, erwartet mich ein topfebener Platz. Ein Karnickel starrt mich ungläubig an.

Im Regen baue ich das Zelt auf. Ich trage mittlerweile alle Kleider, die ich eigentlich für Lappland dabei habe. Alles ist klamm. Islandtrocken sozusagen. Dennoch guter Dinge. Schlimmer, als die vier Wochen Regen und Sturm während der Nordseeumrundung kann es eigentlich nicht werden. Kann es? Nein, kann es nicht!