Von großen Hafenrundfahrten und vertikalem Gewerbe

Das Wörtchen Große Hafenrundfahrt hat dort, wo ich herkomme eine völlig andere Bedeutung, als hier in Hamburg. Hier in Hamburg ist die große Hafenrundfahrt der Traum aller Männer. Umwittert vom süßen Wind aus Freiheit und Weite, fernen Welten und exotischen Abenteuern flanieren am gestrigen Sonntag tausende Touristen bei den Landungsbrücken. Die S21 hat uns bis zur Sternschanze gebracht und die U3, die sich wie ein Ehering um die Stadt legt, spuckt uns bei der Haltestelle Landungsbrücke aus. Kräne, Eisen, Beton, Wasser, Barkassen und Stahl. Überall stehen Kioske, bei denen man Große Hafenrundfahrten buchen kann. Ähnlich wie etwa in Mainz am Rhein, nur viel viel größer, weiter, flacher, mehr Touristen. Unser Ziel ist die Elbefähre. Die ersetzt die Hafenrundfahrt, sagte unser Campingplatzmanager Christian, und sie ist im Tagesticketpreis inbegriffen. Die Elbfähre ist sozusagen die Hafenrundfahrt des Proletariats. In der Tat ist wohl die Aufgabe der Fähre, wochentags Arbeiter auf die Elbinseln und in die Industrieanlagen südlich der Elbe zu bringen. Sonntags fährt sie gar nicht. Aber dafür stellt sich uns der alte Elbtunnel in den Weg. Gut hundert Jahre altes Ding. Mit Aufzügen wurden Kutschen, Autos, Personen und Waren nach unten gebracht und konnten durch die – hmm sagen wir Jugendstil, Gründerzeit, wasweißich – Röhre auf die andere Flussseite rollen, laufen, getragen werden. Der Tunnel erinnert mich ein bisschen an den Greenwich Foottunnel unter der Themse, der aber noch schmaler ist und wirklich nur für Fußgänger und Radler taugt. Gefließtes Gewölbe. In den Wänden sind alle paar Meter Specksteinreliefs eingelassen, die Fische, Krebse und Muscheln zeigen.IMG_1693.JPG
Auf der anderen Seite, plötzlich, eine andere Gegend. Hafen, Industrie, Weite. Wie freigelassen flanieren Sonntagsspaziergänger und Radler. Uralte Wohnwagen stehen in Reih‘ und Glied. Ein Typ mit Zahnbürste im Mund begutachtet den Fahrplan einer – der einzigen – Bushaltestelle. Wie aus einem Film von Hitchkock taucht plötzlich ein Bus auf. Wir steigen ein. Er fährt los. Hast du gefragt wohin, frage ich SoSo. Nö, du? Nö. Der Fahrer entpuppt sich als Reiseführer der Herzen. Wir sind die einzigen Gäste. Vorbei an verwaisten Haltestellen, die allesamt nach Weite Welt benannt sind, Argentinienstraße, Afrikastraße usw. fahren wir zum Hafenmuseum. Drei Punker steigen zu, setzen sich auf die Rückbank. Wollen die zur Food-Messe, die als zweite Attraktion des verwaisten Hafens direkt neben dem Museum logiert?
Im Museum begrüßt man uns mit Sie haben Glück! Wegen des Erntedank-Gottesdiensts und einer Taufe, ist der Eintritt frei. Wir stolpern durch die Lagerhalle, in der auf Hochregalen alle möglichen Hafenrelikte lagern, Getriebe, Schiffsschrauben, Anker, Seile, Autos, undefinierbare Reliquien der Seefahrt, Schiffsmodelle, Holzboote. Im Hintergrund singt der Kirchenchor, die Sonne scheint für jeden Menschen (oder so ähnlich) und ich bin zutiefst gerührt. Im Außengelände kann man Baggerschiffe erforschen bis tief in die verrosteten stählernen Innereien. Ein Bungee-Unternehmen hat den großen Ladekran gemietet, von dem sich im Zwanzig Minutentakt wagemutige Jungs und Mädels stürzen. Neunzig Euro kostet der Spaß. Vertikales Gewerbe. Wir verkriechen uns in den Frachtraum eines Schiffs. Ein geradezu meditativer Moment, umgeben von Rost sind wir allein, vermutlich unter der Wasserlinie. Unheimlich die knarzenden, scheppernden, glucksenden Geräusche Tür an Tür mit dem Klabautermann. Zum Abschied steht neben der Bungeeanlage ein waschechter Shantychor Spalier: Kapitän, Kapitän, das Leben ist so wunderschön und ich muss schmunzelnd an den Doppelsinn des Begriffs Große Hafenrundfahrt denken, der bei uns Landratten gerne benutzt wird, um das Trauma einer Darmspiegelung zu schönen.

Secession Itzehoe – Heiko Moorlander wird eingebürgert

Nach Hamburg muss unbedingt Itzehoe folgen. Wir lieben die Wenzel-Hablik-Stadt. Eine gute Stunde dauert es mit dem Auto von unserem Basislager bis dahin … wäre da nicht der Elbtunnel, samstagsvolle Straßen, ein übervolles Hamburg, gesperrte Autobahnauffahrten. Gegen 14 Uhr sind wir endlich da, um einer eigenartigen Kunstveranstaltung beizuwohnen. In einem Zelt in der Fußgängerzone steht die Botschaft der Republik Secessionistan Rede und Antwort zu allen Fragen rund um das mysteriöse Land, dessen Grenzen auf niemands Karte verzeichnet sind.
Auf www.secession.cc erfährt man

Kriege und Gewalt, Diskriminierungen, Flüchtlingswellen: Die Welt, so wie sie real und teils grausam ist, bedarf mehr Menschlichkeit und Verständnis füreinander. Die Interkulturelle Woche (IKW) in Itzehoe wirbt dafür. Künstler mit ihren Mitteln sensibilisieren außerdem. Das Ausstellungsprojekt „Secession!“ – aktuell betrieben durch die Itzehoer KünstlerInnen Saskia de Kleijn, Robert Hirse, Wiebke Logemann und Manuel Zint – begibt sich bereits seit 2011 an kunstferne Orte, zeigt Möglichkeiten und Strategien für einen alternativen Umgang mit Kunst auf und betritt immer wieder Neuland.

Die Löcher im Botschaftszelt sind herzförmig mit Isolierband zugklebt. Alle halbe Stunde hisst das Botschaftsteam die Nationalflagge – pinkfarbene Palme auf weißer Insel und man singt die Nationalhymne, die Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts von den Tniz-Brüdern komponiert wurde. Über die beiden Musiker ist nur bekannt, dass sie in Barmen, dem heutigen Wuppertal geboren wurden, steht im Cover der CD, die man käuflich im Botschaftsgebäude erwerben kann. In einem eigens eingerichteten Einbürgerungsbüro kann man Bürger von Secessionistan werden. Man muss nur seinen Namen, die Lieblingsfarbe, das Geburtsdatum und den Geburtsort angeben und schon erhält man ein Ausweisdokument mit Stempel und Unterschrift. Passbild muss der Einbürgerungswillige mit Bleistift selbst zeichnen und ausschneiden.

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Das ist die Chance, um mein künstlerisches Alterego Heiko Moorlander endlich zu legalisieren. Dass ich mit Manuel Zint, der den Pass ausstellt meinen Meister in Sachen Fakeartistentum finde, hätte ich zunächst nicht gedacht. Ohne mit der Wimper zu zucken, nimmt der Passbeamte meine Angaben auf, geboren 4.10. 1976 in Klagenfurt, Lieblingsfarbe Schlammbraun (das hätte beinahe nicht in das vorgesehene Feld gepasst).
Nun ist der bekannteste MudArtist der Welt also Bürger von Secessionistan. Nach dem Vier-Uhr-Fahnenappell folgt eine Rede von Manuel Zint, die sich … najaaa, wie soll ich sagen, auf äußerst glaubhafte Weise mit dem Leben eines japanischen Forschungsreisenden beschäftigt, dessen Vermächtnis einst Platz fand in einem eigens eingerichteten Museum in seiner Heimatstadt Nagasaki und somit beim Atombombenabwurf 1945 ausgelöscht wurde. Erst, als Zint über ein diplomatisches Missverständnis berichtet, dämmert mir, dass an der Geschichte ungefähr so viel wahr ist, wie an der Biografie von Heiko Moorlander und an den Tniz-Brüdern. Köstlich! Ganz nach meinem Geschmack. Auf dem Heimweg sinniere ich, wie gefährlich wir Künstler eigentlich sind, indem wir Wahrheiten schaffen, schwer überprüfbares Zeug … achwas, wie gefährlich der Mensch ansich ist, in seiner täglichen Erzeugung von Wahrheiten religiöser, wissenschaftlicher, politischer Natur. Im Gegensatz zu Politikern, Lobbyisten und religiösen Fanatikern richten wir Künstler mit unseren Fakeartisten keinen Schaden an.
Bild by SoSo – die Einbürgerung des Heiko Moorlander nach Secessionistan.

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Bloggerlesung in Hamburg mit Candy Bukowski, Andreas Glumm und Sabine Wirsching

Vom Elbstrandidyll in die Elbmetropole. Bloß wie, wenn man als Landei das Großstadtgemetzel scheut? Park & Ride. Wo ist das nächste? In Nettlenburg auf der anderen Elbeseite werden wir fündig. Kaufen Tagesticket für bis zu fünf Personen für nur 10.80 €. P&R kostet zwei. Halbe Stunde später spuckt uns die S21 am Hauptbahnhof aus. Was für ein Getümmel. Männer, Frauen, Bettler, Punker, Reisende, Touris. Zwei Landeremiten, SoSo et moi, schieben sich durch den Mahlstrom aus Neugierigen, Verzweifelten, Hoffenden, Gescheiterten, Vorankommenwollenden. SoSo peilt mit dem GPS das Schulterblatt an, den Ort, an dem die Bloggerlesung ist. Dreieinhalb Kilometer in die Richtung, zeigt sie. Vorbei am Ohnsorgtheater laufen wir Richtung Sonne, schnieke Gegend, Schanzenbäckerei, Hüngerchen, ein schofeliger Bäcker verkauft uns genervt zwei belegte Brötchen. Weiter Richtung skandinavisch schräg stehende Sonne. Die – ich glaube, es ist die Innenalster, jedenfalls die kleinere der beiden Alstern, die mit dem Springbrunnen, ist umringt von Menschenströmen. Auf den engen Wegen direkt am Ufer stelle ich mir vor, dass so ungefähr der Golfstrom funktioniert oder der zentralpazifische Wirbel, wo sich ein tausende Kilometer großer Strudel gebildet hat, in dem sich der Plastikmüll unserer Industriegesellschaft sammelt. Wie schwer abbaubare Polyethylenteilchen treiben wir zu zehntausenden um den Alsterteich. Gaukler. Lebende Statuen, Menschentrauben auf dem freien Feld Richtung Rathaus. In Betttücher gehüllt, fast wie eine Leiche, deren Kopf man vergessen hat zu bedecken, liegt ein junger Kambodschaner. Becher daneben und ein paar DVDs. Wenn jeder, der sich an ihm vorbei drückt, einen Euro geben würde, dann wäre er ein reicher Mann. Ich unterdrücke die syssiphos-esken Gedanken daran, wie eine Gesellschaft machbar wäre, in der es kein Elend mehr gäbe. Obschon mich die Idee reizt, dass jeder, der mehr hat, als der andere, dem anderen so lange gibt, bis dieser genausoviel hat wie er selber. Kunstbübchen, Visionär. Ha. Ein Lude im Ferrari röhrt mühsam rückwärts in eine Parklücke, wackelt obeinig schulterwankend wie ein Westernheld zu einem Mietshaus in bester Lage. SoSo fotografiert Mülleimer. Er beobachtet sie. Da ist etwas, das nicht in seine Welt passt. Immer wieder zückt SoSo das GPS und peilt. Da lang. Zwei Kilometer. Das geht nicht. Da steht ein Haus. Wir blicken die Straße rauf und runter. Keine Möglichkeit, drumherum zu laufen. Der Springerbau. Polizeiautos davor. Die Schiebetür geht auf. Man kann die Straße auf der anderen Seite sehen. Fast menschenleer ist das Foyer. Café, paar Tische, die Toilette kommt uns gerade recht, zwei Pförtner. Irgendwie schaffen wir die Passage durch etliche Schleusen und Drehtüren auf die andere Seite. Zu den Schlagzeilen von morgen, hängt ein riesiges rotes Plakat vor der Tür. Einen knappen Kilometer später Richtung Sonne hat sich die schnieke, kalte Stadt in ein buntes, vor Leben strotzendes Viertel gewandelt. Das Schanzenviertel schon? Graffities. Straßencafés, schwarzantifaschistische, aus Brettern zusammengeschusterte Biergärten, Familienausflüge, Kinder auf Papaschultern und gleich daneben Pennerkolonien überall dort, wo ein bisschen Sicht- und Regenschutz ist. Der Vorbau eines wohl ehemaligen Kinos ist mit dreckigen Matratzen und Decken verbarrikadiert. Wagenburg des Scheiterns. Beklommen laufen wir vorbei. Paar Meter weiter zwei müde Kerle, unrasiert, wie Embryos liegen sie mitten auf dem Gehweg. Ich lasse eine Münze fallen. Der eine, ein rothaariger Typ kaum älter, hebt den Kopf und ruf Dankeee. Diese freudigen Augen. Es zerreißt mir das Herz. Ich müsste Millionär sein und eine Woche lang, die Stadt durchwandern und so lange Geld in Becher werfen, bis ich wieder der bin, der ich war.
Pünktlich erreichen wir das Schulterblatt. Im zweiten Stock ist eine kleine Theaterbühne. Unten Kneipe, Café und außenrum eine Art Biergarten. Mit meiner Vermutung (siehe Artikel zuvor), dass sich hier die Haute Volée der deutschen Produzentenliteraturblogszene trifft, hatte ich womöglich gar nicht so unrecht. Fünfzig bis siebzig Gäste. Einer geht durchs Publikum und fragt alle, ob sie bloggen, verteilt Etiketten zum Namendraufschreiben, die man sich ankleben kann. Mehr als die Hälfte outet sich.
Und die Lesung? Perfekt. Anderthalb Stunden lesen Organisatorin Candy Bukowski, Andreas Glumm und Sabine Wirsching. Hochwertige, bis dato ungedruckte Literatur meets gemütliches Plaudern aus dem Blogkästchen.

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Protokolle am anderen Fluss

Alles passiert auf engstem Raum. Kaum ist das Offene Atelier passée, das Kunstzwergfestival vorbei, September adieu, zaubert die werte SoSo eine wahre Ochsentour aus dem Hut. 2000 km Deutschland per Auto. Hamburg, Berlin, Itzehoe. Kunst und Kultur, Freunde und Fremdes, Altes und Neues. Schon nachher gehts zur #Bloggerlesung ins Hamburger Schanzenviertel, in der sich womöglich die Haute Volée der deutschen Produzentenliteraturblogszene trifft.
Wir sitzen am Elbstrand. Wüstenwarmer Südwestwind. Blick auf den Drager Yachthafen. Sonntagsspaziergänger. Die beiden Campingplätze Land und Strand quellen über vor Wohnmobilen. Langeswochenendtourismus, den wir gestern auf der Autobahn in einem wahren Gemetzel zu schmecken gekriegt haben. Fast drei Stunden länger als normal dauerte die siebenhundert Kilometer Tour. In Romrod kurz vor Kassel haben wir genug von Staustehen. Raus aus dem magma-esk zähen Touristrom. Es sei heuer ganz arg mit dem Stau, erzählen uns die Dorfbewohner. Pizzaessen. Rumscharwenzeln. Postkarten kaufen. Dunkles Bier aus der Region im Sixpack, wofür mich die Postkartenshopbesitzerin lobt: sehr guter Geschmack. Das Bier oder ich? Das Bier… und sie, weil sie es ausgewählt haben. Wir fotografieren die kaum 1,5 m hohe Hintertür der Romroder Kirche, begegnen der Küsterin. Smalltalk. Nebenan im Schloss wird eine Geburtstagsfeier vorbereitet. Martina. Fünfzig. Das passt, sage ich zu SoSo. Unser Alter. Wir mogeln uns unter die Gäste. Bleiben hier. Tun wir natürlich nicht. Anderthalb Stunden später scheitert der Versuch, auf die Autobahn zu fahren. Schon im Kreisel bei der Raste Pfeffermühle ist alles dicht. Also quälen wir uns durch die U29 und die U31. Umleitungsstrecken, blau beschildert, sind die Lymphsysteme des deutschen Autobahnnetzes. Entschlackung. Durch Alsfeld nach Niederaula usw. Tolle Gegend. Stille. Kuh auf grüner Wiese. Gegen Dämmerung zurück auf der Autobahn. Gemetzel. Zwei drei Tötungsversuche durch lichthupende Drängler nahe Hannover. Ein beispielhafter Wohnmobilfahrer, der allen, die auf der mittleren Spur fahren zu verstehen gibt, wie man richtig fährt. Natürlich lichthupend. Und selbst immer brav ganz nach rechts fährt.
Lieber 7000 km mit dem Radel um die Nordsee, twittere ich, als solch eine Ochsentour. Tank fast leer kurz vor dem Ziel 34,6 Liter getankt. 35 fasst er.
Dann Camping Land in Stove bei Drage. Zelt im Dunkeln aufgebaut. Nachttreiben beobachtet. Viele Hundebesitzer. Anscheinend hat eine ganze Hundeschule eine Art Wagenburg aufgebaut, in deren Zentrum sie am nächsten Tag mit den Tieren üben. Faszinierend der Schein der Taschenlampen. Die individuelle Art, mit der die Camper Richtung WC laufen. Mal schwenkend wie ein Leuchtturm, mal stoisch die eigenen Füße beleuchtet. Man könnte den ganzen Platz mit Fotoemulsion einpinseln und eine hektargroße Lichtgrafik daraus machen.
Unbezahlbar unser Spaziergang am Morgen am Elbstrand. Aufkommende Flut. Kinder spielen auf einer Sandbank. Unendlich gelassen schiebt sich ein Containerschiff flussaufwärts. Die Protokolle am Fluss müssen nicht am Rhein geschrieben werden. Es gibt ja sooo viele Flüsse. Drüben auf der anderen Seite vermute ich den Elbradweg.
SoSo bloggt auch – Wir sind ja noch jung
Bilder: Bildcollage Romrod. Elbstrand. Kette im Sand.IMG_1584.JPG

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Chronik einer Burgenblogger Bewerbung

Umschlag versiegelt mit dem Namen der künftigen Burgenbloggerin

Mitte August 2014

Facebook verpetzt, dass Burg Sooneck am Mittelrhein 2015 für ein halbes Jahr Kost, Logis und ein kleines Salär für einen willigen Blogger bietet. Ob ich mich nicht bewerben wolle, fragen verschiedene Freunde. Ich sage nein, keine Idee. Zwei Wochen lang geistert die Burg, der Job, der Mittelrhein im Hinterstübchen. Unterbewusst schleicht sich die Offerte immer wieder an. Zu den Akten legen impossible.

Anfang September 2014

Ideeeee! Ich schreibe eine witzige Glosse in Form einer Bedienungsanleitung und packe in den Text alles nötige, was die huldvollen Ausschreiber des Jobs wissen müssen. Weberfahrung, Blogkompetenz seit 2001, Nordseeumrundung, Jakobsweg, alles, was man so im Laufe eines Mobilbloggerlebens auf dem Kerbholz hat. Zwei Stunden Arbeit. Besonders gut nach Fipptehlern suchen, wir sind hier nicht auf einer Livereise, auf der man Schreibschludereien einfach so mit ich hab das alles auf dem Handy getippt, ich war müde, es regnete, entschuldigen könnte. Abschicken.

Kurze Zeit später 2014

Die Sache wird viral. Facebook- und Twitteraccounts zum Thema Burgenblogger sprießen wie Pilze. Uralte Facebookseiten, die völlig verwaist waren sind plötzlich wieder in Betrieb. Nigelnagelneue Blogs werden registriert. Die Bewerberzahl nimmt zu. Mit Burgenblogger und Mittelrhein als Schlagwort auf die erste Googleseite zu kommen, wird zunehmend schwerer. Videoblogger und Facebookträumer geben sich in den sozialen Medien die Klinke in die Hand. Likebettelei und Retweetwahnsinn machen sich breit. Von Seiten der Veranstalter läuft es bestens. Mit Ihren Socialmediapräsenzen schütten sie hektoliterweise Öl ins Feuer. Monsieur Irgendlink kommt in die Bredouille. Muss mitbloggen. Das Blog umstricken. Kategorie Mittelrhein einrichten, sich mit Rheinromantik beschäftigen.

7. September 2014

Dass es auf der Burg laut ist, ein Steinbruch nebenan, das ohnehin lärmgebeutelte Mittelrheintal am Bein usw. sickert durch. Madigmacher schreiben von miesbezahltem Job (und bewerben sich vermutlich dennoch).

Umschlag versiegelt mit dem Namen der künftigen Burgenbloggerin
Umschlag versiegelt mit dem Namen der künftigen Burgenbloggerin

8. September 2014

Eigentlich ist die Sache gelaufen. Ich weiß, wer Burgenbloggerin wird, notiere den Namen auf einem Zettel und packe ihn in einen versiegelten Umschlag.

Eine Woche später 2014

Schon über dreihundert Bewerbungen, twittert die Rhein-Zeitung. Wau. Die Bedingungen für den weiteren Verlauf der Bewerbungsphase werden bekannt gegeben: zuerst werden fünfzig Bewerberinnen und Bewerber in die engere Wahl genommen, dann zehn. Wozu erst fünfzig, dann zehn? Wieso nicht gleich nur zehn? Mir schwant übles. Ich versuche mich in die Lage der Ausschreiber zu versetzen. Es dämmert.

14. September 2014

Am letzten Tag der Bewerbungsphase rotiert Twitter mit einer Bewerberzahl nach der anderen. Vierhundert, fünfhundert, darf’s ein bisschen mehr sein? Bis zur Deadline um 23:59 Uhr sind es über siebenhundert. Chappeau Mailserver!

15. bis 29. September 2014

In Kleinburgenbloggersdorf herrscht völlige Verwirrung. Die Veranstalter geben schon wenige Tage nach dem Ende der Frist bekannt, dass sie die Burgenblogger-Fifty ausgewählt haben. Aber niemand wird informiert. Ein gefühltes Mittelalter vergeht, bis am 29. September endlich die Nachricht kommt, haben soeben achthundert Mails versendet mit den Zu- und Absagen.

29. September 2014

Über Twitter jubeln und weinen die Zu- und Abgesagten im Minutentakt, dass es nur so eine Art ist. Juhuuu und oh ich bin so traurig. Irgendlinks Postfach ist leer. Und leer. Und leer. Auch im Spam ist nichts zu finden. Monsieur Irgendlink hatte zuletzt seine unendliche Geduld bewiesen, als er vom Gotthard heimkehrte und nicht wusste, wer Fußballweltmeister ist. Nonchalant flüsterte er, ich muss es nicht wissen. Spätestens bei der nächsten WM werde ich es erfahren.

29. September, eine gefühlte Spätromantik später 2014

Ich muss das jetzt wissen! Schreibe Mail an die Bewerbungsadresse. Autoresponder, nichtssagend. Nie wirst du unter der Kontaktadresse je etwas erfahren. Tot. Twitter fragen. Drei weitere Burgenblogger haben auch keine Mail erhalten. Schrödingers Burgenblogger? Ein quantenphysisches Experiment? Die anderen verpetzen irgendwann die magische Adresse vom Onlineredakteur, der die Strippen in der Hand hält. Zu müde, um da jetzt noch zu mailen. Dornröschenschlaf.

Zeitlos skeptisch 2014

Wieso fünfzig, dann zehn und dann die eine? Monsieur Irgendlink zieht sein Jurykostüm an, läuft im Kreis, um sich besser in die Denkweise einer Jury versetzen zu können. Plötzlich fällt es ihm wie Schuppen von den Augen. Wickie-esque ich hab’s rufend: wenn ich Jury wäre, würde ich mir die tolle Viralkampagne doch nicht versauen, indem ich gleich die Karten auf den Tisch lege. Ich würde die fünfzig besten Pferde im Stall erstmal schön im Glauben lassen, dass sie dabei sind – das macht über einen Monat gratis Twitter, Facebook, sich den Wolf bloggen – und so das Projekt schön in den Medien halten, das würde ich tun! Auf dem Schreibtisch liegt der Umschlag, den ich am 8. September versiegelt habe, mystisch glimmend, fast wie im Film.

Ein Jahrhundert später, 30. September 2014 – 20:47

Sehr geehrter Herr Irgendlink,

vielen Dank für Ihre Nachfrage. Bitte entschuldigen Sie, dass Sie gestern ganz offensichtlich keine Mail bekommen haben.

Mein Kollege Lars W. und ich haben jede Bewerbung einzeln gesichtet und uns die Vorentscheidung nicht leicht gemacht. Es galt, 50 besonders geeignete Bewerbungen auszuwählen – aus weit mehr als 700 Einsendungen.

Leider müssen wir Ihnen heute eine Absage für Ihre Bewerbung mitteilen. Wir möchten uns für Ihre Bemühungen ganz herzlich bedanken. Und wir würden uns freuen, wenn Sie auch weiterhin unsere Berichterstattung über den Burgenblogger verfolgen.

Mit freundlichen Grüßen

1. Oktober 2014.

Ich bin endlich wieder frei.