Adieu Berlin

Willkommen zurück Ochsentour. Vollgetankt und fast startbereit. Sachen runtertragen, Bude abschließen, Navi programmieren und auf ruhige Straßen hoffen.

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Chronik einer Tatort-Premiere

Angefangen hat alles vor etwa zwei Wochen. Sofasophia entdeckt bei ihrer Recherche zu unserer Berlinreise, dass just dann, wenn wir die Hauptstadt besuchen, die Premiere zum 60. Pfalz-Tatort mit Ulrike Folkerts und Andreas Hoppe (Odental/Kopper) stattfindet. Obendrein gibt es in einem Gewinnspiel per Email Freikarten zu gewinnen. Also nix wie ran, auf Pfälzisch eine Bewerbungsemail schreiben mit dem Betreff: Mir bleiwe a net iwwer Nacht. Veschproch!

So ein Zufall! Da kommt man alle Schaltjahr aus dem hintersten Winkel der Pfalz mal in die Hauptstadt, um die nötigsten Besorgungen zu machen, die das örtliche Outletcenter nicht abdeckt und schwupp, Tatort-Premiere.
Zusammen mit meiner Schweizer Mitreisenden Sofasophia würde ich mich über ein warmes Plätzchen im Babylon sehr freuen.
Mir bleiwe a net iwwer Nacht. Veschproch!

(siehe auch zwei Blogeinträge zuvor)
Letzten Dienstag um 17:17 kam die Gewinnbenachrichtigung. Gestern war es dann so weit. Ein Anflug von Hysterie, was sollen wir bloß anziehen, die sind bestimmt alle ganz fein bei so einer Premiere, unterwirft sich den nackten Tatsachen der Realität. Da wir seit über einer Woche auf Ochsentour sind durch die Republik, teils zeltend übernachtet haben, haben wir logischer Weise kein Opernkostüm dabei. Wir müssen also in unseren abgewetzten Reiseklamotten dahin. Ohnehin ist Tatort keine Oper. Und die Industriestadt Ludwigshafen ist nicht Paris. Nachmittags Treffen mit Bloggerfreund Fritsch. Hauptstadttrubel. Bezirk Mitte. Driften von Café zu Restaurant. Punkt acht erhalten wir unsere Freikarten. Vor dem Kino Babylon liegen ein paar Meter roten Teppichs und Messingpfosten mit kinderarmdicken Seilen suggerieren eine Art Einflugschneiße. Eine Handvoll Fotografen lauert auf die Ankunft der Stars. Neben Ulrike Folkerts und Andreas Hoppe sind auch der Regisseur und viele weitere Schauspielerinnen und Schauspieler angekündigt. Erstaunlicher Weise herrscht freie Platzwahl. Ulrike Folkerts taucht auf. Handykameras richten sich von den Sitzreihen auf sie aus. Kurze Zeit später setzt sich ein Typ mit ins Gesicht gezogener Baseballkappe, der aussieht wie Mario Kopper hinter uns. Verflixt, das ist Andreas Hoppe! Scheu sitzt er eine Weile da, bis ihn jemand aus einem Pulk Filmcrewmitglieder, irgendwo in der Mitte des Kinos zu sich ruft. Heim in die Familie. Auf der Kino eigenen Orgel wird live musiziert. Der Kinomanager hält eine kurze Ansprache. Dann führt Programmchefin Martina Zöllner in den Jubiläumstatort ein. Ab 20:15 ist Tatorttime auf der gut zehn Meter großen Leinwand. Wie grotesk winzig wirken die Luftaufnahmen Ludwigshafens hier in der Hauptstadt. Neunzig Kinominuten später ist der Mord aufgeklärt – zur Handlung muss ich schweigen, aber es ist gut gespielt, sehr emotional, es lohnt sich – der Film läuft am 26. Oktober in der ARD.
Im Sofasophiablog gibt es auch Bilder von der Premiere.

Zwei Sancho Pansas ohne Don Quichote

Barcelona 1992
Bloß nicht aus dem Windschatten fallen! Ich klebe mit meinem vollbepackten Reiserad fünf Zentimeter nah am Hinterreifen meines neuen Reisegefährten Leb, hinter mir ächzt dessen Kumpel Huber. Auf den Gepäckträgern wackeln Packtaschen. Leb stemmt sich in die Pedale. Seine Rastalocken flattern wild. Mit vierzig Sachen auf einer vierspurigen Vorstadtstraße schüren wir im Berufsverkehr Richtung Innenstadt. Noch vor Dunkelheit wollen wir die Jugendherberge erreichen. Gefühlt sind alle Ampeln rot, als wir die Kreuzungen passieren. Höllenreiter sind wir. Ich hasse Großstädte per Rad, es sei denn, sie haben ein narrensicheres Radwegenetz etabliert, so wie In der City of London oder das Kleinod Canal d’Ourc, das einen sicher bis zum Parc de la Villete nach Paris bringt.
Berlin 2014
Wir haben zwei Fahrräder in unserer Bude stehen, die wir nutzen dürfen. Alte Gurken mit riesigen Panzerschlössern. Gestern ist es so weit. Die Tour führt von Prenzlauerberg nach Kreuzberg. Das Autonavi in der Jackentasche flüstert uns den Weg erstaunlich präzise auf Radwegen entlang der Hauptachsen, durch Radlerzonen. Die Räder sind winzig wie Esel. Die Sättel viel zu niedrig. Wie zwei Sancho Pansas ohne Don Quichote sehen wir aus. Trotten sieben acht Kilometer weit bis zu einem Vietnamesenrestaurant, wo wir mit unserer Freundin Hauptstadtethnologin dinieren. Update der wichtigsten Lebensereignisse. Wir haben uns lange nicht gesehen. Später zum Gleisdreieck, eine kilometerlange Bahnbrache, die zum Naherholungsgebiet umgewandelt wird. Radwege, Skaterbahnen, Spielpätze, Birkenwäldchen. Noch vor Jahren spazierten wir hier querfeldein auf Geocachetour. Nun ist aus dem Lost Place ein schicker Park geworden. Eine Mutter singt ihr Baby in den Schlaf. Ein Teenager sitzt auf einer Bank und übt Gitarre. Auf einem Basketballplatz tummeln sich etliche großwüchsige Jungs, werfen Körbe. Der Radweg Berlin-Leipzig ist frisch geteert. Von der Monumentenbrücke starren wir auf den riesigen, vielversprechenden Schriftzug Berlin Leipzig hinunter. Aber es sind nur etwa zwei drei Kiometer Wohlfühlradeln. Am Ende des Geländes müssen wir wieder auf die Straße. Richtung Innenstadt. Checkpoint Charlie mit echtem Wachpersonal, Fahnen. Appellen. Touristen en Masse und ringsum Souvenirscontainer, Busladungen voller Sightseer. Unheimlich ist das, hier radzufahren. Wir ackern uns durch bis zur Landsberger Allee. Raus Richtung Prenzlauerberg und Weißer See, wo wir Freund Jo treffen. Fast zwanzig Jahre nicht gesehen. Gemütliches Beisammensein und die weltbeste Kürbissuppe. Jo hat sieben Jahre als Busfahrer gearbeitet im Norden und Osten der Stadt. Dass man in dem Job irgendwann verbusfahrert, sagt er, sprich, das Leben nimmt eine nicht umkehrbare Wende und man ist irgendwann ganz alleine, weil man nicht im „normalen“ Lebenstakt lebt, das bringe die Schicht so mit sich. Gerade noch so hat er den Absprung geschafft und arbeitet nun als Projektmanager. Als er uns den Heimweg erklärt, fühle ich mich an meine Zeit als Paketfahrer erinnert. Straßendenken. Eckendenken, die Welt in Linien und Knotenpunkte zerlegen. Das haben Busfahrer und Paketboten, ja, und auch wir Reisenden gemeinsam. Ihr radelt bis zum Strandbad Weißer See, dann den gepflasterten Weg hoch, Hauptstraße überqueren, dem Radweg entlang der Indira Gandhi Straße folgen bis zur Landsberger Allee und dann rechts, sagt er und ich verstehe. In die anbrechende Nacht radelnd bei leichtem Nieselregen, kommt es mir beinahe entspannt vor. Eine Art bicicletter Chillout in einer der größten Städte Europas.

Prinzessin für einen Tag

Es hat beinahe schon Tradition, wenn ich in einer Stadt ankomme, dass ich die fremde Umgebung erst einmal zu Fuß, rund um das Hotel oder die Bude, in der man sich eingemietet hat, abklappere. Ist wie Revier markieren. Rurales Beinheben in der Großstadt. Per Mail und Facebook flattern minütlich Infos rein von in Berlin ansässigen Freunden und Freundinnen, was man so alles tun könnte. Ganz heiß sind die Tipps von der Hauptstadtethnologin, Frau Freihändig. SoSo setzt einen Kurs auf die Location, die sie empfiehlt. Nur 4,8 Kilometer zu Fuß. Halb so weit, wie von Hospental zum Gotthard (wo wir uns im Juli mit vollen Rucksäcken hinaufquälten – siehe Kategorie Projekt>Gotthard), zudem null Gepäck, Flachland. Landsberger Allee runter. Vierspurige Straßen. Kreischende Straßenbahn. Eisen auf Eisen, Krankenwagenmartinshörner. Riesige hunderte Meter lange Gebäude. Kreisverkehre, aus denen man nie wieder rauskommt, wenn man einmal auf die innere Spur gelangt ist. Dennoch genießen wir das Stadtflair. Eine Gegend muss nicht schön sein, um sie als schön zu empfinden. Eine Attraktion muss nicht attraktiv sein, um attraktiv zu wirken. Die Attraktion des Allgegenwärtigen. Irgendwo ragt der Fernsehturm. Irgendwo vermutet man die Siegessäule, das Brandenburger Tor, den Dom, das Holocaustdenkmal, die Hotspots des modernen Tourismus und wir spazieren durch Beton gewordenes Nichts. Vorbei an fünfstöckigen Mietshäusern, Nettomärkten, Spielhöllen. Ein uralter Friedhof. Janowitzbrücke, ein Streifen Spree inklusive Sightseeingboot unter uns. Ganz weit vorne das Haus vom Aufbauverlag. Da gehen wir rein und bleiben so lange, bis sie uns verlegen, sagt SoSo. Wir gehen rein, verschaffen uns Zugang zu einer Steckdose und schreiben live auf den Smartphones unser Buch und gehen erst wieder, wenn sie es gedruckt haben. Der große Berlinroman, der im Foyer eines Verlagshauses geschrieben wurde, Anfang Oktober irgendwann. So spinnen wir vor uns hin. Unser eigentliches Ziel, welches uns die Hauptstadtethnologin empfohlen hatte, liegt gegenüber vom Verlagsgebäude. Der Prinzessinnengarten. Prinzen- Ecke Oranienstraße. Kaum ein Hektar groß ist das Idyll, in dem zahlreiche Hochbeete aus alten Backwarenkisten stehen, Tomaten in Säcken wachsen, Erdbeeren aus Abwasserrohrkonstruktionen ranken. Ein Lindenwäldchen mit einer Art Volxküche, in der man im Garten gewachsene Gemüsesuppe essen kann, Kaffee und sich den Tee kurzerhand selbst pflücken muss im Kräuterbeet neben dem Tresen. Hier vergisst man glatt, dass außenrum drei Millionen Menschen ums Überleben in einer Wachstumsgesellschaft ringen. Der Garten hat sich innerhalb weniger Jahre, Internet sei Dank, zu einem Touristenmagnet entwickelt. Fünfundzwanzig Angestellte und unzählige Freiwillige arbeiten hier. Wäre das Säußeln der Stadt nicht, ich würde mich wie daheim fühlen.
Auf dem Rückweg durchstöbern wir einen Kunstbedarfsladen im Erdgeschoß des Verlagshauses. Ein Paradies ganz anderer Art. Wenn es außer Natur, Stille und Nichts etwas gibt, das mir das Gefühl von Paradies vermittelt, dann sind es Künstlerbedarfshandlungen mit ihrer mannigfaltigen Auswahl an Schreibutensilien, Papieren, Notizheften, Sketchbooks …
Den Rückweg bewältigen wir, die Taschen voller Malmittel, per U-Bahn und Metrolinien. Umsteigen am Alexanderplatz. Bis zu 10.000 Menschen kommen hier pro Stunde vorbei, so steht es suf einem riesigen Banner geschrieben. Wieder in der angemieteten Bude erhalte ich eine Mail vom Kino Babylon. Meine Bewerbung um zwei Freikarten für die Premiere des sechzigsten Tatorts mit Lena Odenthal und Mario Kopper kommt mir in den Sinn (Betreff: Mir bleiwe a net iweer Nacht, veschpoch!):

So ein Zufall! Da kommt man alle Schaltjahr aus dem hintersten Winkel der Pfalz mal in die Hauptstadt, um die nötigsten Besorgungen zu machen, die das örtliche Outletcenter nicht abdeckt und schwupp, Tatort-Premiere.
Zusammen mit meiner Schweizer Mitreisenden Sofasophia würde ich mich über ein warmes Plätzchen im Babylon sehr freuen.
Mir bleiwe a net iwwer Nacht.

Gewonnen. Wir sind Prinzessinen für einen Tag!
Auch SoSo berichtet.

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Von Hamburg nach Berlin

Von Hamburg nach Berlin, Stoppover in Lüneburg. Unsere Nachbarn auf dem Zeltplatz Land am Stover Strand hatten uns die alte Hansestadt in blumigen Worten schmackhaft gemacht: Backsteine, skurrile Fassaden, schiefer Kirchturm, noch mehr Backsteine … Kurs setzen mit dem Navi. Halbe Stunde Fahrt in einer Art Bypass südlich zur offiziellen Berlinstrecke. Kurzer Stadtspaziergang, Backstein, Backstein, alles muss verstack sein. Wir verbuchen die Stadt als passable Schönheit mit nordischem Reiz – ein bisschen muss ich an das pfälzische Speyer denken. Der En Passant Tourismus hat leider stets einen gewissen Weiter-weiter-weiter Geschmack. Unterwegs stoppen wir bei einem Baumarkt, um ein Scheinwerferlicht zu kaufen. Begegnung der skurrilen Art. Der Verkäufer erklärt uns kurzerhand zum Notfall, kommt mit zum Auto, baut die kaputte Glühbirne aus, verkauft uns zwei neue – die muss man immer beide wechseln, sagt er. Der Mann ist ruppig, bestimmend. Wir sind von der Reise bis zu gänzlicher Milde weichgeklopft, so dass wir ihn geduldig gewähren lassen. Immerhin fummelt er die neue Birne wieder in den Scheinwerfer, versucht sich nun an der anderen Seite, die aber nur mit Zwergenhänden zugänglich ist, gibt auf, zündet sich eine Zigarette an, während SoSo die Motorhaube runterfallen lässt. Bloooß nicht, zischt er, das ist genau das, wass euch die Birnen kaputt macht. Herrlich. Im normalen Leben, davon bin ich überzeugt, wäre die Sache in ignorantem Streit ausgeartet. Hier aber, als schreibende Reisende, stehen wir staunend vor einem vom Leben zum Individuum geformten Stück Mensch.
Das Navi lotst uns durchs Wendland nach Mecklenburg oder/und Brandenburg oder gar Sachsen-Anhalt, zig Kilometer über enge Landstraßen im Konvoi mit Vierzigtonnern, deren Außenspiegel limbo-esque sich an den Alleebäumen und den Außenspiegeln entgegenkommender Lastwagen vorbeischlängeln. Bis wir endlich die A24 erreichen. Rein nach Berlin. Parkplatz direkt vorm Haus. Vollbepackt in die gemietete Bude. Eine Punkerin mit zwei Hunden, der man das Fahrrad in der Nacht geklaut hat, hier im Innenhof, fragt, ob wir was gesehen haben. Ne, wir sind Feemde. Ziemlich verwahrlostes Treppenhaus. Die Türen der Erdgeschosswohnungen scheinen mehrfach aufgebrochen. Mitsamt Schloss aus der Wand gehebelt. Weitere Nachbarn – mit Kampfhunden. Man grüßt sich. Wenn man die friedliche Landidylle, aus der man kommt, als Schablone nehmen würde, so würde sich nun im Schummerlicht des Treppenhauses ein beunruhigendes Bild zeichnen. Aber wir sind in Berlin. Hier gelten andere Maßstäbe. Die angeborene Enge im Kopf ist hier ein bisschen weiter gefasst. Hier gilt ein bisschen mehr als normal, als bei uns zu Hause. Unsere Wohnung ganz oben unterm Dach ist sauber, ruhig. Und die dicke Kette an der Tür vermittelt ein gewisses Gefühl der Sicherheit.
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