Ausrollen

Der Körper passt sich dem Felsen perfekt an, dass man glauben möchte, der Felsen passt sich dem Körper an. Keine Druckstelle, kein Schmerz, die frisch getankte Wärme, die in dem tonnenschweren Block noch von den Sonnenstrahlen vor ein paar Minuten gespeichert ist, gibt mir das Gefühl, in einem Bett zu liegen. Die Schuhe und Socken, ausgezogen und zu einem halbrunden Ding geformt, dienen als Kissen. Die Augen zu Schlitzen geformt. Über die Gebirgskämme torkeln Wolken, verdunkeln den Himmel. Vor mir liegt das Dorf wie ein ideal aufgeteiltes Bild. Der Goldene Schnitt. Eine Trockensteinmauer zieht sich schlängelnd vom ersten, frisch renovierten Haus über die Alpwiese, vorbei an einem Strauch und einem halb zerfallenen Stall bis ganz hinüber zu dem einzig belebt scheinenden Haus, vor dem stolz die Schweizer Flagge gehisst ist. Fast dreizehnhundert Meter hoch. Morella über dem Rovannatal. Wie eine Zunge streckt die saftgrüne Alpwiese aus dem unwirtlichen Steilhang, der abwechselnd aus Fels oder aus steilstem Wald besteht. Was haben wir geackert, um da hinauf zu kommen, die SoSo und ich. Ein Ausflug zum Lago Sascola ist durchaus lohnend, sagte ich ihr. Eiskalter Gebirgssee. Klarstes Wasser. Es ist göttlich, darin ein Bad zu nehmen und im Stillen denke ich zurück an den Spätsommer 2001, als ich da hinauf geklettert bin und tatsächlich es mir nicht habe nehmen lassen, in dem vielleicht acht Grad kalten See zu baden. Zwei Stunden dauert es da hoch, sage ich zur SoSo, ist vielleicht fünfzehnhundert Meter hoch. Halbwissen. Erinnerungslücken. Reiseerlebnisschönfärberei. Teufel noch eins, auf dem Wanderwegschild unten bei unserem Hüsli steht plötzlich etwas von fast vier Stunden. Mein Hirn kramt neue Höhenabschätzungen hervor: war der See vielleicht siebzehnhundert Meter hoch gelegen, damals? Jenseits der Baumgrenze? Da gab es nämlich kaum noch welche. Egal. Zum Ausrollen stapfen wir auf’s Geratewohl los. Es gibt sowieso nur drei Richtungen: entweder das Tal hinunter nach Cevio, von wo wir per Bus hier herauf geackert sind, oder das Tal hinauf irgenwie Richtung Bosco Gurin, was übrigens eine deutschsprachige Siedlung ist im ansonsten italienischen Tessin. Und als drittes: hinauf nach Morella und wenn die Kräfte reichen weiter bis zum Lago Sascola. Sie reichen nicht, die Kräfte. Nach knapp zwei Stunden über serpentinöse, Steinplatten belegte Pfade erreichen wir die saftige Alp, die nur zu Fuß oder per Hubschrauber erreicht werden kann. Für den Warentransport gibt es eine kilometerlange Seilbahn, an der ein Kasten hängt, in den die Leute ihr Gepäck oder den Müll tun können und die hinunter führt nach Linescio. Als es zu tröpfeln beginnt, ist mein Schlaf auf dem Bettfelsen beendet und wir beginnen den Abstieg. Begegnen einem jungen Papa mit vielleicht acht Kilo schwerem Kind auf dem Rücken und ein kaum sechsjähriger Bub trottet den beiden hinterher. Familienausflug ins Rustico auf der Alp. Weitere Wanderer. Drei grobschlächtige Kerle, die räuberhotzenplotzesque auf uns zu taumeln, sollllche Bergwanderstiefen, reinholdmessnerisch. Wieder unten im Hüsli lassen wir unseren „freien“ Tag, den ersten Tag unserer Wanderung ohne schwere Rucksäcke, bei einem Bierchen ausklingen. Wohin weiter? Das Centovalli haben wir ja verlassen, weil es da keinen Flusswanderweg gibt, so wie wir es von der Reuss im Norden gewöhnt waren. Auch hier im Rovannatal gibt es kein explizites Schönwegchen, das einem halbwegs schmerzlos, sprich flach, weiterbringen könnte. Tessin, der Senkrechtkanton. Kraxeln ist hier pflicht. Dafür aber ist das Wandern außergewöhnlich spektakulär. Familiäre Angelegenheiten erfordern auch meine baldige Anwesendheit daheim auf dem einsamen Gehöft, erfahre ich per Telefon, und zweieinhalb Wochen wandern ist ja eigentlich genug. Die Schweiz von Norden nach Süden haben wir durchquert. Mir zuprostend erforscht SoSo auf dem Smartphone die Verbindungen zurück nach Brugg. Nur gut fünf Stunden wird es dauern, zunächst per Bus, dann per Bahn durch den Gotthardtunnel. Sogar eine Onlinebuchung, hier im Niemandsland, wo eigentlich gar kein Handyempfang sein dürfte, wäre möglich, wenn unsere Kreditkarten mit genug Geld geladen wären. Ausrollen. Wie Tourdefranceradler, die eine zweihundertfünfzig Kilometer Etappe hinter sich haben. Die Muskeln, das Hirn, den Geist wieder zurecht trimmen für Lärm, Hektik, Uhrzeit, Forderungen. Ausrollen, das haben wir getan an diesem Tag, war es ein Sonntag. Ich glaube ja.

Monsieur Irgendlink, moi même, starrt im Halbschlaf die Alp Morella an.Alp Morella im Tessin

Gepäck und Müll waren auf den Abstieg nach Linescio
Transportseilbahn im Tessin

Mehr Astloch

An einem Bauzaun am Bahnhof Bellinzona. SoSo klopft mit dem Finger vorsichtig an und von der anderen Seite scheppert ein mürrisches Bauarbeiterhammerhämmern zurück.

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Leider hatte die Umsteigezeit nicht gereicht, um sechzehn verschiedene Fotos zu machen für eine große Collage wie in dem Reisekunstartikel letzte Woche.

Diesseits und jenseits der Sonnenseite des Tals

Wachstum und Zerfall. Das Lebensrund. Hier in einem steilen Seitental des Vallemaggia werden einem diese beiden natürlichen Unabdingbaren überdeutlich vor Augen geführt. Egal, ob es sich dabei um ein altes Steinhäuschen, ein sogenanntes Rustico handelt, einen zwei Meter dicken, drehwüchsigen Kastanienbaum, oder um ein ganzes Rusticodorf: alles entsteht, wächst, zerfällt, bildet die Basis von Neuem, entsteht, wächst zerfällt. Als ob Gott in Gestalt eines Hamsters erschienen wäre und ein brummendes Rad antreibt immerzu. Unser Zeltlager in dem Wäldchen bei Dunzio steht wie auf Kuchen, so weich ist der Waldboden. Jahrzehnte verrotteten Laubs liegen unter uns. Das Arreal sieht unheimlich aus, wie ein keltischer Ringwall. Mittendrin ein kahler Fels, Buchen und Kastanienbäume.Abwärts nach Aurigeno begegnen wir zwei barfußlaufenden Deutschen, einem wegweisenden Schwaben, einer schlanken Italienerin mit Kampfhundmischung, die uns gestikluierend lächelnd auf italienisch wohl sagen will, der will doch nur spielen, wobei die Geste am Ende ihrer Rede, Zeigefinger über den Hals ziehend, eher sagen will, der murkst euch ab, aber sie zeigt auf den Brunnen und wir verstehen, das Tier ist zu klein, um über der Brunnenrand zu schauen und deshalb zieht es so an der Leine. Sie lächelt. Weiter Nach Maggia, samstagnachmittaglethargische Welt, Flussbadende, Spaziergänger. An der Bushaltestelle Aurigeno-Maggia ein alter Mann, barfuß, auf der Bank liegend. Vierundachtzig sei er, habe ein halbes Jahr im Rollstuhl gesessen, nun mache er wieder Wanderungen, um fit zu bleiben. Seine winzigen Füße zieht er ein bisschen an, damit SoSo und ich auch sitzen können. Für zehn Franken kaufen wir uns frei, nehmen den knapp vierstündigen Wanderweg nach Cevio per Bus wie im Flug. Zwischenstopp in Cevio. Einkauf im örtlichen Coop. Beim Hüsli brauchen wir Lebensmittel für die nächsten zwei Tage. Lebensmittel für das Es-sich-gut-gehen-lassen. Schließlich wollen wir uns erholen. Der erste Tag ohne Sack auf dem Rücken seit über zwei Wochen. Schokolade, Joghurt, Bier, Gourmetfertigmenü, Käse, Brot, Joghurt, Kaufrausch, Wurst und sogar eine Flasche Wein für Mathias, den Hüsli-Owner.
Klar, dass man mit derart Gepäck nicht den zweistündigen Weg direkt ins fünfhundert Meter höher gelegene Hüsli hinaufächzen will. Wir nehmen den vier Uhr Bus nach Linescio. Von dort sind es nur vierzig Minuten zu laufen und nur etwa hundert Höhenmeter. Was für ein Abenteuer. Die Ingenieure, die die Haarnadelkurven hinauf ins Tal gebaut haben, müssen wohl mit einem Miniaturlinienbus am Modell zuvor ausprobiert haben, ob er da herumkommt. Keine Hand passt mehr zwischen die Frontscheibe und die Granitwände in den Kurven. In einer Kurve muss die Fahrerin sogar einen knappen Meter zurückrangieren, um herumzukommen. Auf der gegenüberliegenden Talseite Linescios führt der Wanderweg nach Cevio zurück, den wir über eine Steinbrücke erreichen. Auf der totgelegten Südseite des Tals, also die mit Blick nach Norden, die fast immer im Schatten liegt. Früher, als es noch keine Autos gab und somit auch Straßen nicht wichtig waren, waren wohl beide Talflanken mit Granitplatten belegten Wegen und Treppen erschlossen, auf denen man zu Fuß und mit Eseln Güter transportierte. Eine gleichlangsame und gleichermaßen belebte Welt auf beiden Talseiten, die, Kraft der menschlichen Entwicklung, irgendwann kippte zu Ungunsten der dunklen Südseite des Tals. Die Straße entstand auf der Sonnenseite und die ist auch heute noch belebt. Hier beim Hüsli gibt es keine Bewohner mehr. Die Kastanienwälder und die von Menschen geschaffenen Terrassen verwildern, die Häuser zerfallen, wenn sie nicht von Fremden, oft Deuschschweizern, gekauft und renoviert werden.
Ein geradezu meditativer alter Weg, der von Generationen vor uns angelegt wurde, früher Mittel zum Zweck, Arbeitsmittel, Transportmittel, Lebensader, heute nur noch von Touristen begangen. Erstaunlich deutlich führt er einem die verschieden langen Zyklen des Wachsens und Vergehens vor Augen: die Jahreszyklen der Natur, Laub und Früchte, Schicht um Schicht am Boden und den mehrere Generationen übergreifenden Zyklus des zerfallenden Dorfs, das einst gebaut, bewohnt, bewirtschaftet, verlassen, heruntergekommen … ein Steinwurf nur entfernt wittert man das Ende des ganz großen Zyklus unserer derzeitigen Zivilisation, dann, wenn eine neue, bessere Straße auf der Sonnenseite „unseres“ Tals gebaut wird.

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Irgendwo zwischen Cevio und Bosco Gurin

Gegen Abend ächzten SoSo und ich eine zwei- bis dreihundertstufige Steintreppe im Tal jenseits von Linescio hinauf, durch uralte Kastanienbestände, vorbei an einem zerfallenen Dorf und einzelstehenden Rusticos, Steinhäusern, die wie zufällig gefallene Felsstürze aussehen, wenn sie ein halbes Jahrhundert verlassen sind.

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Die Steintreppe. Ein paarhundert Meter führt sie auf der verlassenen südlichen Seite des Bosco Gurin Tals hinauf. Sonne gibt es hier im Winter erst ab Mittag, wenn überhaupt.

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Auf ins Hüsli

Wartend auf den Bus nach Linescio. Das Thermometer gegenüber der Haltestelle in Cevio zeigt 32 Grad. Schwül. Erster Regentropfen. Die Rucksäcke sind tonnenschwer. Wir haben Leckerlis für zwei Tage gekauft und eine Flasche Wein für Mathias, der uns grünes Licht gegeben hat zum Zelten auf dem tollen Grundstück. Von Linescio sind es noch zwanzig Minuten Fußweg über Stock und Stein.
Bildcollage mit Türen, Straßennamen und Kapellen, die uns heute beim Abstieg nach Maggia begegneten.

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